Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 4.1. | Feminism and Future Sektionsleiterin | Section Chair: Monika Shafi (University of Delaware) |
Verständnis und Praxis des Feminismus in Indien
Sunanda Mahajan (University of Pune, Indien) [BIO]
Email: mahajan.sunanda@gmail.com
Ein riesengroßes, multikulturelles Land mit diversen, komplizierten Gesellschaftsstrukturen wie Indien kann nur mit Schwierigkeit das Thema eines Referats sein. Daher begrenze ich meine Diskussion über Verständnis und Praxis des Feminismus in Indien auf eines der Bundesländer - Maharashtra -, das auch mein Wohn- bzw. Lebensraum ist.
Diese Präsentation ist informativ angelegt und soll eher darüber berichten, wie in Indien versucht wird, feministische Gedanken in die Praxis umzusetzen. Feminismus wird jetzt nicht nur als ein Begriff aus dem Westen verstanden, den akademische Intellektuelle Indiens diskutiert haben, sondern ist ein Begriff, der auf dem Land neue Erkenntnisse und Lebensweisen entstehen lässt.
In indischen Gesellschaften entwickeln sich zur Zeit dynamische Strukturen. In Indien wurden 1991 die Globalisierung und liberale Marktökonomie eingeführt, sie haben zum Teil diese Dynamik verursacht. Es sind bedeutende politische Entscheidungen, die diese Dynamik vor allem in Gang gesetzt haben. Der Indische Staat hat es als wichtig begriffen, daß die infrastrukturelle Entwicklung erst auf „grass root level“ stattfinden soll. Diese „grass root level“ umfassen auch alle bisher benachteiligten Klassen besonders in dörflichen Gemeinden und Gesellschaften. Dazu gehören Menschen aus den sog. Niederigen Kasten und die, die bis jetzt weder politische noch ökonomische Macht besaßen und Menschen, die zum weiblichen Geschlecht gehören. Nach der neuen Gesetzgebung fallen etablierte Muster aus, wo bestimmte Kasten und Schichtenangehörige Dorfgemeinde kontrolliert und Dörfer quasi feudalähnlich regiert haben. Sie werden jetzt erschüttert, sie werden ersetzt durch Vertreter der bisherigen benachteilten Klassen und Frauen, die zu allen Schichten und Kasten gehören. “Empowerment of women“ wird in Maharashtra auf dem Lande in Bewegung gesetzt. Das ist eine Geschichte, die verschiedene Frauengruppen, Frauenorganisationen, einzelne Frauen in Dörfern zusammengeschrieben haben, die ich heute zum Thema meines Beitrages machen möchte.
Zum Anfang ein kurzer Überblick über die Bewußtwerdung der Frauen, ihrer eigenen Probleme und Rechte. Das möchte ich anhand einiger Frauenautobiographien, die in Maharashtra seit 1970 erschienen sind, machen. In den 70er und 80er Jahren schrieben mehrere Frauen ihre Lebensgeschichten, die vor allem Ehefrauen berühmter Persönlichkeiten sind. In diesen Autobiographien war ein ambivalenter Ton erkennbar nämlich einerseits zufrieden über den Erfolg und die Leistung des Ehemannes zu sein, sogar stolz darauf zu sein, andererseits aber enttäuscht und unzufrieden mit sich selbst zu sein. Diese Unzufriedenheit hatte folgende Gründe: erstens weil sie sich der dem Mann untergeordneten Stellung innerhalb der Familie und in der Öffentlichkeit bewußt wurden und zweitens, dass das auf Kosten eigener Identitätsentwicklung geschah. Hier kann auf einige Titel hingewiesen werden, die die Inhalte ihrer Bücher widerspiegeln; Der Titel der Autobiographie von Mallika Amarshekh, deren Mann ein bekannter Politiker ist, heißt: „Ich möchte total zerstört werden“. Der Titel einer anderen Lebensgeschichte von Sunita Deshpande, der Ehefrau eines sehr beliebten Autors, lautet: „Es ist alles wunderschön, aber...“ In diesen Autobiographien kam die Erkenntnis zum Ausdruck: „Ich habe keine eigene Identität.“, was viele Leserinnen beunruhigt hat. In den meisten Autobiographien schrieben die Frauen offen und krtisch über Schwächen und vor allem über das typisch männlich-egoistische Benehmen ihrer Ehemänner, die als Künstler, Politiker, Schriftsteller, Sozialarbeiter tätig waren und durch das Schreiben ihrer Frauen entlarvt wurden. Die meisten Autobiographien waren auf Männer bezogen. Frauen aus gebildeter Mittelschicht, berufstätige Frauen, Hausfrauen, Frauen aus urbaner Umwelt konnten sich mit den Erfahrungen dieser Autorinnen identifizieren.
Die Bewußtwerdung der eigenen Unzufriedenheit, der eigener Enttäuschung, eigener Rechte und auch die Suche nach möglichen Lösungen der Frauenfragen waren am Anfang der Bewegung im allgemeinen auf die städtischen Mittelschicht begrenzt. Auf dem Land, sogar in kleineren Städten, waren diese Phasen der Frauenbewegung nur sporadisch und mit weniger Spuren erkennbar. Allmählich wurde in den 80er Jahren deutlicher, daß die Frauenprobleme nicht nur schichtspezifisch sind, sondern je nach Kaste, Religion, Region, Bundesland unterschiedlich sind und ihre Lösungen daher jeweils andere Muster tragen müssen. Ein deutlicher Wechsel der Paradigmen und Perspektiven geschah in den 80er und 90er Jahren, als viele verschiedene Frauenorganisationen auf dem Land zu arbeiten begannen und auch örtliche Frauengruppen stark wurden.
Also entwickelte sich die Frauenbewegung in Maharashtra in zwei Richtungen, einmal in der städtischen Ober- und Mittelschicht, deren Töchter heute in fast allen beruflichen Bereichen tätig und erfolgreich sind. Sie sind gut ausgebilldet, haben ziemlich gleiche Chancen wie ihre männliche „counter parts“. In den ökonomisch und sozial niederigen Schichten in den Städten und in fast allen Schichten auf dem Land sieht aber das Bild anders aus. Feministische, emanzipatorische Gedanken wirken hier auch heute hier noch nicht so überzeugend. Die Mädchen verlassen sehr früh Schule, sie werden dann bald verheiratet, werden als Arbeitskraft auf den Feldern und zu Hause gebraucht. Jungen werden den Mädchen gegenüber bevorzugt. Es herrscht also immer noch das Patriarchale System, das stark und stabil ist. Aber trotzdem sieht man einen gewissen Wandel, was die politische Seite des Dorfes betrifft. In den letzten zwanzig Jahren sind die Frauen auf dem Land bewußter geworden und haben zur Verbesserung und Entwicklung ihrer Umwelt und Infrastruktur Stellung genommen. Vor allem haben sie in vielen Gemeinden solidarisch gegen den Alkolkonsum ihrer Ehemänner und den Alkoholverkauf in den Dörfern protestiert. Zweitens haben sie miteinander ein Banking System entwickelt (Mohemmed Yunus Model ist jetzt weltbekannt). Drittens haben sie einige kleinere Projekte für eine bessere Trinkwasserverteilung durchgezogen. Das Jahr 1993 gilt dafür als ein wichtiger Wendepunkt in Maharashtara.
Der Begriff des Panchayat Raj, Volksrat und Volkskammer auf „Grass root level“, auf der Ebene der dörflichen Gemeinde, erhielt mit der neuen Gesetzgebung verfassungsrechtlichen Status. Das war die 73. Modifizierung der Verfassung (73rd Constitutional Ammedment). Nach dieser Gesetzgebung wurde ab 1993 die Beteiligung des einfachen Volkes an der Entwicklung des Dorfes nicht nur möglich, sondern obligatorisch. Unter Entwicklung versteht man in einem Entwicklungsland wie Indien folgendes: Möglichkeiten und Infrastrukturen schaffen für Versorgung mit Trinkwasser, Gesundheitswesen, Strassenbau, Toiletten bei Wohnorten, Bildung also Schulen, Elektrizität. Nach 1993 wurde es Aufgabe und Verantwortung des Leiters des Dorfgemeinderates, daß er sechsmal im Jahr Versammlungen aller bzw. der meisten Dorfbewohner organisiert, in denen sie sich über ihre Probleme äußern und Voschläge für Lösungen machen können. 10% der Gesamtbürgerzahl ist die Mindestzahl, um solche Versammlung stattfinden zu lassen und ganz wichtig ist, dass die Hälfte davon Frauen sein müssen. Es war nicht einfach, für die etablierten und an Machtpositionen gewohnten Männer der oberen Kasten und Schichten in den Dörfern, die neue Gesetzgebung anzunehmen und sich mit Männern aus ökonomisch benachteilten Schichten und sog. Niederigen Kasten als Gleichberechtigte in Volksversammlungen konfrontiert zu sehen, geschweige die Beteiligung von Frauen zu akzeptieren. Da im Laufe der Zeit sich herausgestellt hat, dass die Männer die Bedingung betreffend des 50 prozentigen Anteils der Frauen nicht ernst nahmen, wurde es ab 2002 obligatorisch gemacht, dass vor jeder allgemeinen Volksversammlung eine getrennte Frauenversammlung organisiert wird. Sowohl allgemeine als auch Frauenversammlungen haben kein direktes Recht, gültige Entscheidungen zu treffen. Sie können aber in der öffentlichen Diskussion Vorschläge machen, Informationen verlangen und auf diese Weise Druck und Einfluß auf die dörfliche Verwaltung ausüben.
Die Beteiligung der Frauen an der Entwicklung des Dorfes zu ermöglichen, war das Ziel der neuen Gesetzgebung. Wo und wann Frauenversammlungen stattfinden sollen, wird von den Frauen bestimmt. Welche Frauen von staatlichen Frauenförderungsprogrammen finanziell unterstützt werden, muss in Frauenversammlungen entschieden werden. Frauenversammlungen haben auch Sonderrechte, Entscheidungen betreffend der Wasserverteilung und des Trinkwassermanagements zu treffen. Es gibt auch noch andere Sonderbedingungen für Frauenversammlungen, deren Durchführung der Leiter des Gemeinderates schriftlich dokumentieren muß.
Verschiedene Organisationen, die insbesonders auf dem Lande und in Frauenfragen eine aktive Arbeit durchführen, haben es durch ihre Bemühungen ermöglicht, daß Volks-und Frauenversammlungen verfassungsrechtlichen Status haben. Für die Durchführung dieser Gesetzgebung mußten sie sich unter Einbeziehung benachteiligter Klassen mit traditionellen sozio-psychologischen Denkweisen und Denkmustern auseinandersetzen, die Frauen daran hindern, in der Öffentlichkeit aktiv zu sein, eine eigene Meinung zu vertreten und vor allem auch gegen Männer sprechen zu können. Männer in dörflichen Gemeinden kritisierten am Anfang und kritisieren in manchen Orten auch heute noch öffentlich die Vertreterinnen und Leiterinnen der Frauen im Dorfe und versuchen sogar, sie moralisch zu diskriminieren.
Durch Frauenversammlungen wurden und werden Frauen ihrer politischen Rechte bewußt, sie werden auch dessen bewußt, daß ihre Fragen auch Fragen des Dorfes sind, daß persönliche Fragen und sozio-politische Fragen eng miteinander verknüpft sind, daß durch ihre aktive Teilnahme an der Dorfpolitik und im Gemeinderat vieles anders werden kann. In folgenden Punkten kann man die Leistung der Frauenversammlungen zusammenfassen:
Frauenversammlungen waren allein nicht ausreichend, die Beteiligung der Frauen an der Dorfpolitik zu verstärken. Dafür trat eine neue entscheidende Regelung in Kraft, nämlich die Reservierung von 30% der Plätze im Dorfgemeinderat für Frauen. Es folgten dann Stadt- und Großstadtgemeinderäte. Für diese Plätze dürfen nur Frauen kandidieren. Andere Wahlbezirke sind offen, die für Frauen nicht ausgeschlossen sind. Wahlbezirke von Frauen ändern sich bei jeder Wahl, so daß auch andere Frauen Gelegenheit haben, Wahlkämpfe zu führen. Das war ein vieldiskutiertes Thema und wurde auch zu einem Spottthema. Am Anfang kamen in viele Wahlbezirken die Ehefrauen der Männer an die Macht, die im Bezirk schon früher immer Wahlkämpfe führten. Die Frauen wurden auch ausgelacht. Auch wenn sie die Wahl gewonnen hatten, mußten sie ihre Hausfrauenrolle weiter ausüben und um ihre Politik kümmerte sich ihr Mann oder Vater. Aber das ging auch nicht so weiter. Bei einigen Dorfgemeinderäten sind auch Positionen des Leiters für Frauen reserviert. Heute wird es in den meisten Dörfern akzeptiert, Frauen als gleichberechtigte Kandidaten zu betrachten. Am Anfang mußten die Frauen vieles hinnehmen, was für sie demütigend, beleidigend und entäuschend war.
In einer Studie, die 2005 von einer Frauenorganisation unternommen wurde, wurde auf 11 Dörfer näher eingegangen. Das Anliegen dieser Studie war, Nützlichkeit, Durchführung und Leistungen der Frauenversammlungen zu überprüfen. Es wurden auch Frauen interviewt, die sich an Versammlungen beteiligt haben, die im Dorf politisch aktiv sind, die Mitglieder des Gemeinderates sind oder die leitende Positionen im Gemeinderat vertreten.
Frauen erzählen in den Interviews, wie sie durch Frauenversammlungen, durch Selbsthilfegruppen, durch Gründung eigener Sparkassen, durch den Kampf gegen den Alkoholkonsum der Männer einen gemeinsamen Weg zur Mündigkeit gefunden haben. Sie wissen aber, dass das nur ein Anfang ist und es noch vieles zu überwinden gibt.
Das indische Parlament, das 1992 das „73 rd constitutional ammedment“ verabschiedet hatte und dadurch „Panchayat Raj-Volksräte auf Grass-root level“ möglich gemacht hatte, verschiebt aber immer wieder die Diskussion über die Reservierung von 30 % der Plätze für Frauen im Parlament. Frauen aus fast allen politischen Parteien versuchen jedesmal, das Thema auf die Tagesordnung zu bringen, aber die Männer der meisten Parteien verhindern, dass das Thema überhaupt auf der Tagesordnung steht. Wir Frauen Indiens hoffen darauf, dass bald der lang ersehnte Tag kommt! *
Anmerkungen:
4.1. Feminism and Future
Sektionsgruppen | Section Groups| Groupes de sections
Inhalt | Table of Contents | Contenu 17 Nr. |
Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-09