Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | Februar 2010 | |
Sektion 4.3. | Die Zukunft der Hochschule Sektionsleiter | Section Chair: Thomas Rothschild (Universität Stuttgart) |
Stichworte zur Zukunft der Hochschule
Thomas Rothschild (Universität Stuttgart)
Email: thomas.rothschild@ilw.uni-stuttgart.de
Der Sinn des so genannten Bologna-Prozesses ist evident: Er soll einer europäischen Vereinheitlichung der Hochschulsysteme und der Studiengänge dienen, um die Mobilität, den Wechsel von einer Hochschule zu einer anderen und die Anerkennung absolvierter Lehrveranstaltungen und Prüfungen zu erleichtern. Wer könnte dagegen etwas einzuwenden haben?
Die Frage ist freilich: nach welchem Modell soll diese Vereinheitlichung erfolgen? Zu welchem Ziel, nach welchen Kriterien wird sie durchgeführt? Diese Fragen wurden öffentlich nicht gestellt und von den Betroffenen nicht diskutiert. Wie fast alle Entscheidungen in der EU geht es in Wahrheit nicht um die Interessen der Studenten und der Hochschulen, sondern um die Interessen der Wirtschaft. Wo etwa hätte man die Gewerkschaften in die Entscheidungsfindung einbezogen?
Mit einem Wort: maßgeblich für die „Reformen“ im Hochschulbereich sind nicht die Erfordernisse der Wissenschaften, sondern die Bedürfnisse der Wirtschaft.
An die Stelle universeller Bildung und der Befähigung zur Kritik tritt eine berufsorientierte Ausbildung, das traditionell verbindliche Humboldtsche Bildungsideal wird ersetzt durch das ausschließliche Ziel der ökonomischen Effektivität.
Die drastischste Folge des Bologna-Prozesses ist die Verkürzung des Studiums durch Bachelor-Studiengänge. Ein Discountstudium für die Massen, die die Hochschulen am Ende mit Kenntnissen und Fähigkeiten verlassen, die man früher bei der Aufnahme an die Hochschulen, bei der Matura (dem Abitur) voraussetzte, wird tendenziell komplementär ergänzt durch Privatuniversitäten und Elitehochschulen für eine kleine finanzstarke Minderheit. Die Bachelor-Studiengänge und deren Modulisierung haben eine Verengung des Lehrangebots und damit der Auswahlmöglichkeiten zur Folge. Tests und Prüfungen nehmen einen großen Teil der Zeit und der Energie in Anspruch, überforderte Hochschullehrer resignieren und geben Einheitsnoten für ungelesene Hausarbeiten.
Die Anpassung an den Status quo wird verstärkt durch die Forderung der Anwerbung von Drittmitteln, der immer mehr Hochschullehrer willig nachkommen. Sie finden nichts mehr dabei, wenn der Nachweis von eingeworbenen Drittmitteln zum Berufungskriterium wird. Da Drittmittel aber fast stets nur gewährt werden, wo im Sinne der Geldgeber geforscht und gelehrt wird, ja bisweilen sogar Personalentscheidungen von diesen beeinflusst werden, da zudem die öffentliche Hand finanzielle Zuwendungen oft von der Bewilligung von Drittmitteln abhängig macht, wird die Autonomie der Hochschulen, die Freiheit von Forschung und Lehre zur Farce. Die allgemeine Tendenz der Privatisierung ehemals staatlicher oder gesellschaftlicher Unternehmen hat längst auch die europäischen Hochschulen erfasst. Das einst belächelte amerikanische System wurde zum Vorbild.
Demgegenüber wäre die Bewahrung der Hochschulautonomie mit Nachdruck zu fordern. Lernziel müsste die Befähigung zur Kritik am Status quo sein, nicht seine Reproduktion. Zu fordern ist ein Stipendienwesen, das Jobben überflüssig macht, eine massive Förderung von Kindern aus sozial schwachen und nicht-akademischen Familien, etwa nach dem Modell der Frauenförderung.
Wer erst jetzt, da der Zug abgefahren ist und der Prozess unumkehrbar erscheint, die Unterordnung aller Belange unter die Interessen der Wirtschaft und spezifischer die Einführung des Bachelors beklagt, wer die längste Zeit mit der Ministerialbürokratie kollaborierte, wie schon zuvor widerstandslos hingenommen wurde, dass die öffentliche Hand ihre Verpflichtungen im kulturellen Bereich an Sponsoren abgab, muss sich Dummheit oder Komplizenschaft vorwerfen lassen. Denn die gegenwärtige Misere war seit Jahren voraussehbar. Wer vor ihr warnte, wurde belächelt und marginalisiert.(1)
Unabhängig von all diesen Entwicklungen sieht die Zukunft der Hochschulen düster aus, wo die Unfähigkeit, die Faulheit und die Unverfrorenheit von Hochschullehrern zunehmen, die keine Leistungen in Forschung und Lehre mehr erbringen, dafür aber umso dreister von den angestammten Privilegien ihres Standes Gebrauch machen, was eine Gemeinschaft der Mitwisser in der Hoffnung auf Gegenseitigkeit duldet und verschweigt. Schließlich haben sie an Berufungen mitgewirkt, die ihr eigenes Mittelmaß nicht überschreiten sollen. Von den sechs für das hier protokollierte Thema angekündigten Referenten sind nur zwei zu der Sektionssitzung erschienen. Wer zu dumm ist, innerhalb von drei Stunden den Veranstaltungsraum zu finden, und zu flegelhaft, um dem Sektionsleiter wenigstens im Nachhinein eine Erklärung abzugeben, sollte vom Dienst suspendiert werden, statt weiterhin junge Menschen auszubilden. Aber eine echte Evaluation, die den Interessen der Wissenschaft und der Studierenden dient, ist nicht vorgesehen. Der Besitzstand wird nicht angetastet. Was zählt, ist die Gefügigkeit gegenüber den wirtschaftlichen Interessen. Wer sich ihnen anpasst, kann einem Symposium und den dort wartenden Kolleginnen und Kollegen unangefochten den Stinkfinger zeigen.(2)
In der somit reduzierten Sektion wurde im Anschluss an die Vorträge von Alexandra Hausstein (Friedrichshafen) und Inna Piskunowa (Saratow) unter anderem diskutiert, wie neu der Paradigmenwechsel sei, von dem Alexandra Hausstein sprach, worin die spezifischen Unterschiede zwischen der deutschen und der europäischen Entwicklung lägen. Dass mit der Formalisierung der Curricula und Modulbeschreibungen, die den Hochschulen von der Bürokratie abverlangt wird, vielerorts taktisch umgegangen wird, erwies sich als vertraute Erfahrung. Zur Diskussion standen nach dem Vortrag von Inna Piskunowa das Konzept der „permanent education“, das Verhältnis von Bildung und Muße, die „Freizeit“ an den Hochschulen, die einem bloßen Erwerb von beruflicher Qualifikation entgegensteht, die Identitätskonstruktionen in der älteren und der jüngeren Generation in Europa und außerhalb Europas.
Anmerkungen:
4.3. Die Zukunft der Hochschule
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