TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 4.4. Wege über Grenzen – Studium in Europa?
Sektionsleiterinnen | Section Chairs:Silvena Garelova (Rousse/Rustschuk) und Dagmar Kostalova (Bratislava)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Europa – Ungarn – Identität

Aniko Boros (Pecs / Ungarn) [BIO]

Email: borani@vipmail.hu

 

Meines Erachtens ist dieses Thema sehr aktuell, weil die europäische Identität eine wenig konsultierte Frage in Ungarn ist. Es gibt kaum Studien, die sich mit der Selbstdeutung im Zusammenhang mit der europäischen Identität beschäftigen. Damit wir mit dem Thema bekannt werden können, wurden Junge Erwachsene im Alter von 18 und 25 Jahren und Erwachsene über 40 mit akademischem Abschluss befragt, was ihnen Europa, europäische Identität bedeutet. Dabei ist die Umfrage insbesondere auf Quellen, Erscheinungsformen und Auswirkungen einer europäischen Identität eingegangen.

Aus dem Bereich der europäischen Identität kann man die Begriffe „Ost-West“ nicht auslassen, weil diese die Schlüsselwörter der Identifikation in Ungarn sind. Bis 1989 wurde Ungarn kommunistisch geführt, und gehörte zu dem Ostblock Europas. Nach der Wende wurden wir plötzlich keine „Osteuropäer“ mehr, sondern stolze Bürger von Mitteleuropa. Die Bipolarität blieb doch in unserer Sprache, Mentalität und Denkweise.  Mit den Wörtern OST und WEST kann (oder konnte) man Länder, Leute, Lage, Mentalität definieren, aber in erster Linie nur Vorurteile hervorrufen. „West“ bedeutete in Ungarn etwas ganz Positives, wo das Leben wie ein Traum ist. Die Konnotation des Begriffes OST ist meistens abwertend: Armut, Unordnung, Unwissenheit und schweres Leben. Wie ist das heute? Verändert sich der Inhalt diese Wörter? Wenn ja, wem ist diese Wandlung zu verdanken? Wie ist dabei die EU beteiligt? Inwiefern trägt das zu der Selbstidentifikation bei? Inwieweit spielen dabei die Austauschprogramme eine Rolle? Sind die Studenten der Universität Pécs schon offener und neugieriger auf Osteuropa als die Generation unser Eltern? 

Im Vortrag wird versucht, diese Fragen auf Grund der durchgeführten Umfrage beantworten. 50 Studenten und 50 Erwachsene wurden befragt, damit man die Unterschiede oder die Gemeinsamkeiten der Antworten bei verschiedenen Altersgruppen sehen kann. Der Fragebogen bestand aus 34 Fragen, die teilweise offene und teilweise geschlossene Fragen waren.

Im Mittelpunkt der ersten Fragen stand Europa als Begriff. Die Befragten wurden gebeten, die Grenzen Europas auf einer Karte zu zeichnen. Die Meinungen über die westlichen, nördlichen und südlichen Grenzen Europas stimmten überein. Die östlichen Grenzen waren schon problematischer. 96 % der befragten Erwachsenen meinen, dass Russland bis zur Ural Gebirge zur Europa gehört. Die Studenten denken die Zugehörigkeit Russlands schon anders: 60% der Studenten haben die östlichen Grenzen an der Ural Gebirge gezogen. Aber 40% der befragten Jugendlichen behaupten, dass Russland gar nicht zu Europa gehört. Ein weiterer Schwerpunkt der Grenzzeichnung richtet sich auf die Türkei. 50 % der Erwachsenen und 40% der Studenten glauben, dass die ganze Türkei zu Europa gehört. Die andere prägende Vorstellung – 30 % der Erwachsenen und 56 % der Studenten – war, dass die Türkei bis zum  Bosporus ein Teil unseres Kontinentes ist. 20 % der befragten Erwachsenen und nur 4 % der Studenten behaupten, dass die Türkei gar kein Teil Europas ist. Die geografische Situation der Türkei ist heute eine umstrittene Frage, jedoch hat eine große Bedeutung wegen der Bestrebung der Türkei der EU beizutreten. Meines Erachtens könnte man  von diesen Antworten die Einstellung der Befragten zur EU-Beitritt der Türkei nachvollziehen.

Die nächsten Fragen zielten darauf, was die Befragten unter dem Begriff „Europa“ verstehen. Die Antworten der Erwachsenen und der Jugendlichen weichen voneinander nicht beachtlich ab. 4 % der gesamten Befragten behaupten, dass Europa für sie die EU ausmacht. Dagegen empfinden 64 % der Erwachsenen und 56 % der Studenten die geografische Situation als zentrales Merkmal Europas. Für ein Fünftel der Erwachsenen und 30 % der Jugendlichen steht die kulturelle Wertegemeinschaft im Vordergrund. Eine geringe Zahl der Befragten sieht Europa als ein geschichtlich zusammen entwickeltes Gebiet an.

Anhand der Antworten kann behauptet werden, dass eine einheitliche Definition von Europa weder für die Erwachsenen noch für die Studenten in Ungarn existiert. Wenn wir über eine nationale Identität sprechen, sind die Begriffe des Nationalstaates für alle Zugehörigen gleich. In Ungarn – und auch in meisten Ländern Europas – gibt es keinen Streit über die Grenzen, Eigenschaften des Landes. Meiner Meinung nach kann dieses Schema für die europäische Identität nicht verwendet werden, weil gerade in Vielfalt Europas für Viele der Schlüssel der Identifikation mit unserem Kontinent liegt.  

Die Europäische Union versucht die Identifikation der Bürger der Mitgliedstaaten zu stärken, so zum Beispiel, dass sie die Attribute eines Nationalstaates auf sich genommen hat. Ungarn ist seit 2004 Mitglied der EU. Die Flagge der EU ist inzwischen bekannt (100 % der Erwachsenen und 96 % der Studenten kennen sie), jedoch weniger allerdings die Hymne (96 % der Erwachsenen und 68 % der Studenten haben die richtige Antwort gegeben) oder der Europatag (von dessen Existenz 44 % der Erwachsenen und nur 8 % der Jugendlichen wissen). Auf die Frage, zu welcher Gruppe sie sich zugehörig empfinden, antwortete niemand, dass er sich nur als Europäer sieht. Die Mehrheit der Befragten (68 % der Erwachsenen und 80 % der Studenten) versteht sich als Ungar und in zweiter Linie als europäischer Bürger. Ein sehr geringe Zahl der Befragten stellt die europäische Bürgerschaft an die erste Stelle und an zweite ihre Nationalität (0 % der Erwachsenen und 4 % der Jugendlichen). Ein Drittel der Erwachsenen identifiziert sich nur mit seinem Heimatland, jedoch ist diese Rate bei den Studenten viel kleiner, nur 16 %. Nach meinen Beobachtungen deuten sich die Jugendlichen schon viel mehr als Europäer als ihre Eltern. Zwischen diesen zwei Generationen kann man leicht beobachten, wie die europäische Identität geschaffen wird. Die Identität ist ein paradoxes Phänomen: Einerseits formen wir uns selbst unsere Identität, anderseits beeinflusst uns eine relativ große Menge Faktoren: Nationalstaat, Schule, Politik, EU etc. Unsere Generation wurde schon mit der Idee der einheitlichen Europa erzogen, deshalb steht unsere Identität der europäischen Identität näher.

Anhand der Antworten lässt sich sagen, dass ein Zusammenhang zwischen den nationalen/europäischen Attributen und der Identifikation als Europäer nicht zu  bemerken ist. Zwar kennen die Erwachsenen die Hymne, die Flagge und den Europatag besser, sie empfinden sich aber minder europäisch als die Studenten. Die Gründe dafür könnten – unter anderem – die Folgenden sein: die Geschichte Ungarns und Europas, die vielseitigen Studentenbegegnungen aus dem ganzen Kontinent, der Beitritt zu der EU etc. Meines Erachtens spielt dabei die Zahl der bekannten europäischen Sprachen auch eine Rolle: 60 % der Erwachsenen behaupten, dass sie keine Fremdsprache beherrschen; ganz im Gegenteil bei den Studenten, wo es niemanden gab, der keine Fremdsprache kannte. Die Antworten der Erwachsenen haben mich überrascht, weil die Befragten Russisch mindestens kennen müssten, da diese Fremdsprache bis zur Wende in Ungarn obligatorisch war. Dieses Phänomen kann damit erklärt werden, dass damals das Nicht-Erlernen des Russischen als passiver Widerstand gegen das Staatsystem zu deuten war. Es kann vermutet werden, dass eine Korrelation der Sprachkenntnisse und europäischer Identität entsteht, nämlich: Je mehr europäische Sprachen beherrscht werden, desto stärker ist die Identifikation mit den Werten Europas (Europa).

Seit mehr als 3 Jahren sind wir Mitglied der EU. Die Antworten auf die Frage: Wie beurteilen Sie die Europäische Union, waren überwiegend bei beiden Generationen positiv. Jedoch wurde die Mitgliedschaft Ungarns gar nicht so positiv betrachtet: 40 % der Erwachsenen und nur 36% der Studenten glauben, dass der Beitritt positive Wirkung auf Ungarn ausgeübt hat. Unter den Studenten gibt es eine große Unsicherheit im Thema, nämlich 48% der Jugendlichen konnten keine Antwort auf diese Frage geben. Die negative Einstellung über die Mitgliedschaft von Ungarn hat mir überrascht, weil ich vor der Durchführung der Umfrage vermutet habe, dass die Mehrheit der Befragten positive Einflüsse des EU-Beitrittes wahrnimmt. Meiner Meinung nach kann diese negative Einstellung behindernd auf die Entwicklung der europäischen Identität wirken.

Eine Frage richtete sich auf die europäischen Austauschprogramme. 94 % der Studenten konnten mindestens ein solches Programm nennen (wie zum Beispiel: Erasmus, Socrates, DAAD, Leonardo etc.), aber die Mehrheit hat auch 3-4 Förderer gekannt. Unter den Erwachsenen waren diese Möglichkeiten schon weniger bekannt: 44 % der Befragten kannte ein Programm nennen. Die europäischen Austauschprogramme bieten den Studenten eine vielseitige Gelegenheit die Länder unseres Kontinents kennen zu lernen.       

Wie ich schon am Anfang erwähnt habe, darf man die Ost–West Begriffe bei der Forschung der europäischen Identität nicht außer Acht lassen. In der Umfrage zielten auf dieses Thema mehrere Fragen ab, wie zum Beispiel: In welchen Ländern Europas waren Sie schon? Welche Länder möchten Sie in der Zukunft besichtigen? Wohin würden Sie auf keinen Fall fahren? etc. Bei beiden Generationen führen die Liste die Länder Westeuropas, dann kommen die Staaten von Mitteleuropa und viel mehr bleibt die Region von Osteuropa zurück. Die Richtung der Wünsche ins Ausland zu fahren  ist auch überwiegend West, sowohl bei den Erwachsenen als auch bei den Studenten. Auf die Fragen, die die Bereitschaft nach Osten zu fahren bzw. da zu studieren oder kurzfristig da zu leben, haben die Studenten positiver Antworten gegeben, als die Erwachsenen. Ein Drittel der Studenten würde gern in einem Staat von Osteuropa studieren, jedoch ist die Zahl bei denen, die sicher nie ein Stipendium in diesen Ländern annehmen würden, genauso hoch. Zwei Drittel der Erwachsenen verschließen sich dem Osten und nur 4 % der Befragten würden gern bereit für ein kleines Intervall da zu leben. Ich habe die Befragten in der Umfrage gebeten, dass sie bei 10 Staaten, die gemischt aus ganz Europa ausgewählt worden sind, die ersten Begriffe, Werte, Eigenschaften, Sachen, die ihnen einfallen, zu dem jeweiligen Land hinzuschreiben.

Nach meiner Auswertung kann ich behaupten, dass die Erwachsenen ihre Beurteilung proportional nach der Lage des einzelnen Landes formuliert haben, nämlich je westlicher das Land liegt, desto positiver war die geschriebene Meinung. Die Beurteilung der Jugendlichen ordnete sich nicht nach diesem Schema. Sie haben ihre Meinung sowohl kritisch als auch lobend formuliert und meines Erachtens war bei diesen Antworten das Verschwinden dieser Klischees zu bemerken. Bei den befragten Erwachsenen könnte man bemerken, dass sie den Kontinent auf Grund der eingewurzelten wirtschaftlichen Vorurteile aufgeteilt haben. Bei den Jugendlichen lässt sich schon die Aufhebung dieser Aufteilung bemerken. Sie sind zwar die schon nach ihrer geschriebenen Meinung offener und neugieriger auf Osteuropa als die Erwachsenen, jedoch ist die Bereitschaft im Osten zu studieren niedriger als im Westen. Meiner Meinung nach kann man schon die Tendenz der Gleichstellung oder mindestens des Abschaffens der Vorurteile von Osteuropa erkennen, die ich als sehr positiv betrachte, man muss noch viel daran arbeiten, dass diese Tendenz weiter geführt werden könnte.

Die Platzierung Ungarns innerhalb von Europa ist auch interessant. Die Mehrheit der Erwachsenen interpretiert sich als Mitteleuropäer, wobei sich die Jugendlichen, ungefähr die  Hälfte, als Osteuropäer und die andere Hälfte als Mitteleuropäer deuten. Davon kann man darauf schließen, dass die negative Konnotation des Wortes OST unter den Studenten immer ablässt, und sie schämen sich nicht, sich als Osteuropäer zu definieren. Bei den Erwachsenen ist es schwer, die Vorurteile gegen den Osten abzubauen, weil sie noch in der bipolaren, wirtschaftlich und politisch geteilten Europa aufgewachsen sind.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die europäische Identität ist ein komplexes, vielschichtiges und bewegliches Phänomen. Von der durchgeführten Umfrage kommt es heraus, dass die Jugendlichen näher zu Europa stehen, als ihre Eltern. Dabei spielten die Sprachkenntnisse, der Beitritt zu der EU, die Studentenbegegnungen eine wichtige Rolle.

Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass die Menschen in Ungarn an die positiven Einflüsse der EU glauben, weil das eine unerlässliche Voraussetzung der Weiterentwicklung der europäischen Identität ist. In der Zukunft stehen Europa und die EU vor der Aufgabe, eine starke europäische Identität zu schaffen, weil das der Schlüssel des friedlichen und glücklichen Zusammenlebens sein kann.


4.4. Wege über Grenzen – Studium in Europa?

Sektionsgruppen | Section Groups| Groupes de sections


TRANS   Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Aniko Boros: Europa – Ungarn – Identität - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/4-4/4-4_boros17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-03-04