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Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 |
Sektion 4.4. | Wege über Grenzen – Studium in Europa? Sektionsleiterinnen | Section Chairs:Silvena Garelova (Rousse/Rustschuk) und Dagmar Kostalova (Bratislava) |
Europa bildet sich
Matthias Haberl (Kultur- und Sozialinitiative Triangel, Österreich*)
Auf den kommenden Seiten möchte ich darstellen, warum ich der Meinung bin, dass es eine „Europäische Identität“ aktuell nicht gibt. Ich möchte einige Thesen formulieren, warum ich so denke und warum das gleichzeitig eine gute Sache ist. Abschließend möchte ich die Chancen skizzieren, die sich aus einer gelungenen europäischen Identität ergeben können und einen Vorschlag machen, welchen Beitrag die Universitätsbildung dazu leisten kann.
Wenn mich jemand fragt, ob ich Österreicher bin, dann antworte ich ohne zu Zögern mit „ja“. Wenn mich jemand fragt, ob ich Europäer bin, dann antworte ich gar nicht, sondern frage, was sie(1) unter „Europa“ versteht. Wenn wir danach geklärt haben, ob sie den Kontinent oder vielleicht doch die Europäische Union gemeint hat, dann werde ich ihr antworten, dass ich mich weder beim Einen noch beim Anderen als Europäer fühle.
Seit Benedict Andersons bahnbrechendem Werk „Imagined Communities“(2) wird in der Wissenschaft immer häufiger die konstruktivistische Ansicht von Gemeinschaft vertreten, d.h. Gemeinschaften sind in vielen Fällen nichts naturwüchsiges, sondern etwas Konstruiertes. In kleineren Einheiten wie der Familie können wir noch davon ausgehen, alle anderen Mitglieder dieser community zu kennen, während wir bei größeren Einheiten das nicht mehr können und uns doch vorstellen können, wie diese Gemeinschaft gerade jetzt (und möglicherweise mit mir als Mitglied) existiert. Ein gutes Beispiel ist dafür die Nation.
Die Nation wird über Narrative, d.h. über Erzählungen, weitergegeben, deren Inhalte von Mitglied zu Mitglied variieren und sich doch überschneiden. Wir sind also mit der Situation konfrontiert, scheinbar in der gleichen Gemeinschaft zu leben. Die gerade stattfindende Fußballeuropameisterschaft ist bestimmt das beste Beispiel dafür, wenn 50.000 Österreicher im Stadion offenbar alle wissen, was unter Österreich zu verstehen ist. Würde man sie jeden einzeln dazu befragen, was er unter Österreich versteht, würden wir wohl verschiedene Antworten mit auch divergenten Schwerpunktsetzungen zu hören bekommen. Wichtige Narrative sind einerseits Erinnerungsorte, wie sie Pierre Nora formuliert, andererseits aber auch Symbole:
Für Österreich fallen mir da die rot-weiß-rote Fahne ein, die Hymne, „unsere“ Bundesregierung, der Kaiser, der 26. Oktober („unser“ Nationalfeiertag), ...
Nun mag man argumentieren, für Europa gibt es diese Symbole ebenso. Dem stimme ich zu, doch wenn man die Intensität dieser Symbole vergleicht, dann sieht man deutlich, dass nationale Symbole viel häufiger und selbstverständlicher benutzt werden als „europäische“. So kenne ich viel weniger „europäische“ Persönlichkeiten als nationale, da berühmte Menschen aus dem Ausland sich selbst auch viel eher national konnotieren und dementsprechend vorstellen und von mir eingeordnet werden denn als europäisch. Bei der Fußball Europameisterschaft ist mir bis jetzt keine Europafahne aufgefallen. Beispiele ließen sich noch viele finden, darum nur eines abschließend:
Die europäische Hymne wird im europäischen Kontext ohne Text gesungen. Das erinnert an das Russland der 1990er Jahre, als es damals auch eine zeitlang keinen Text bei der russischen Hymne gab, da man erst klären musste, was es denn bedeutet, unter den neuen Bedingungen Russin zu sein. Mir scheint, die Situation ist auf europäischer Ebene ähnlich, da erst gefunden werden muss, was unter Europa zu verstehen ist.
Gerade bei der Hymne kommt auch noch das Fehlen einer gemeinsamen europäischen Sprache dazu. Als sich in Europa im 19.Jahrhundert die Nationalstaaten konzipierten, war Sprache ein wesentlicher Aspekt der Nationsbildung, begünstigt durch den Buchdruck und die dadurch ermöglichte Vervielfältigung von Büchern und Zeitungen in einer einheitlichen Schriftsprache.
Auch ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis (Assmann) existiert aufgrund einer fehlenden „Diskursplattform Europa“ kaum, im Gegensatz zu seinen nationalen oder auch regionalen Gedächtnissen.
Wir sehen aus dem Gesagten, wie schwierig die Konstruktion einer gemeinsamen europäischen Identität mit den Mitteln ist, die sonst einer „imagined community“ eigen sind. Den essentialistischen Blick möchte ich hier nicht weiter kommentieren, da ich die Annahme einer naturwüchsigen Gemeinschaft (z.B. aufgrund einer gemeinsamen Kultur) für nicht mehr aktuell halte. Wir haben aus der Geschichte hoffentlich gelernt, wie problematisch diese Annahme sein kann und wie gefährlich der dadurch entstehende Selektions- und Ausschlussmechanismus, da er die Annahme einer Unveränderlichkeit in sich birgt.
Doch scheint das Identitätsbedürfnis in der heutigen Zeit sehr groß zu sein, vor allem in Anbetracht der Veränderungen, die während der letzten Generationen in der Identitätsarbeit stattgefunden haben. Ontologische Sicherheit (Giddens) ist nicht mehr so leicht und homogen herzustellen, wie vor 200 Jahren.
So ist heute Erwerbsarbeit als Fundament von Identität brüchig geworden, da kapitalistische und neoliberale Systeme von uns erwarten und durch den Wettbewerb fördern, dass unser Job immer wieder gewechselt wird und das immer häufigere Auftreten von prekären Arbeitssituation sowie vermehrte Teilzeitarbeit tragen das ihre dazu bei(3).
Wenn Michael Walzer von Beziehungsmobilität spricht, dann meint er damit eine fundamentale Veränderung im individuellen Identitätshaushalt. Denn vor nicht allzu langer Zeit war das generelle Beziehungsmodell ein klares(4): Mann und Frau gründen Familie und sind das ganze Leben durch die Ehe verbunden. Dieses Modell hat sich in den letzten Jahren stark verändert, die Gründe dafür sind sicher u.a. eine stärkere Emanzipierung von Frauen, Genderstudies in der Wissenschaft, sexuelle Revolution seit den 1960er Jahren und das Aufbrechen von Religion als lebenswegstiftende Institution. Auch in diesem Bereich ist es für das Individuum also nicht möglich, einmal eine Entscheidung zu treffen und es sich danach gemütlich in sein Identitätsgehäuse zurückzuziehen, sondern lebenslange Veränderung ist möglich.
Das Gleiche gilt im Bereich der Religion, die nicht mehr allgemeine Gültigkeit beanspruchen und darum auch keinen unveränderbaren lebensweltlichen Sinn vermitteln kann. Heute muss sich jede und jeder selbst überlegen, was es bedeutet, Mann bzw. Frau zu sein und die Wissenschaft stellt auch die Frage, ob diese bisexuelle Einteilung tatsächlich richtig und sinnvoll ist.
All diese Fragen tragen zur Unsicherheit des modernen Menschen bei, der sich diese Fragen immer wieder beantworten muss. Identitätsarbeit (Keupp) wird also ein wesentlicher Begriff. Interessanterweise ist im Vergleich zu oben genannten Kategorien die Nation von diesem Dekonstruktionsprozess weniger betroffen. In der Kulturtheorie ist man sich zwar durchaus einig, dass „Nation“ ebenso ein Konstrukt wie andere vorgestellte Gemeinschaften ist, doch scheint Nation immer noch sehr wirkmächtig zu sein. Vor allem Anbetracht der internationalen Gemeinschaft, die unsere Welt strukturiert.
Die eine Seite der Medaille ist diese Unsicherheit, die andere, positive Seite ist die Möglichkeit, sich aus der großen Fülle der möglichen Lebensentwürfe seinen passenden selber zu wählen und theoretisch auch immer wieder anzupassen und zu verändern. Dieses Versprechen der Moderne, gewissermaßen ihr größtes Geschenk zeichnet unsere derzeitige Generation wohl aus wie keine davor. Die Unbestimmtheit ermöglicht Wahl. Sie ermöglicht sie aber nicht nur, sondern sie verlangt sie. Diese zwei Seiten sind nicht voneinander trennbar.
Zwei mögliche Strategien bieten sich an:
Die Unbestimmtheit vieler Lebensbereiche ermöglicht uns die Umsetzung unserer Vorstellung, ohne auf strenge Konventionen Rücksicht nehmen zu müssen und uns durch ihren Rahmen einschränken zu lassen. Wir können an unserer Identität arbeiten und sie verändern, eben weil sie noch nicht bestimmt ist. Das Gleiche gilt auch für europäische Identität, wie ich oben gezeigt habe. Das heißt, theoretisch ist es möglich, europäische Identität mitzugestalten. Theoretisch ist es weiters möglich, europäische Identität für sich selbst zu gestalten und zu akzeptieren, dass jemand anders eine andere Vorstellung von europäischer Identität hat. Dann sind wir nämlich dort, wo wir auch jetzt sind, denn auch bei nationaler und jeder anderen kollektiven Identität gibt es verschiedene Vorstellung, was diese Gruppe bedeutet. Der große, diametrale Unterschied wäre allerdings, dass diese Akzeptanz einer unterschiedlichen Interpretation auf einer bewussten Ebene passiert, weil schon die Formung dieser Identität bewusst geschieht. Ein Konstrukt wird als solches wahrgenommen, der „Versuch, in Wahrheit zu leben“ (Havel(6)) wird umgesetzt. Oder noch besser: „Der Versuch, authentisch zu leben“.
Da gerade Universitäten im Diskurs über europäische Identität eine besondere Rolle innehaben, ist es naheliegend zu fragen, wie Universitäten diesen Prozess unterstützen können. Erstens bilden sie zukünftige Lehrerinnen aus, die auf den Prozess der Identitätsbildung ihrer Schülerinnen einen besonderen Einfluss haben. Es kann speziell die Offenheit im Thema „Europa“ diskutiert werden. Doch auch in Bezug auf Sicherheit und Unsicherheit spielen sie eine spezielle Rolle. Eine moderne Identitätsbildung würde eben darauf beruhen, mit der Situation umgehen zu können, nicht in allen Bereichen auf einem fixen und darum sicheren Pflaster zu stehen. Das gleiche gilt in Zeiten des Internets und der problemlosen Vervielfältigung von Wissen: Nicht mehr der Besitz von Wissen sollte gelehrt werden, weil man einerseits alles Wissen könnte und gleichzeitig natürlich nicht kann. Sondern in diesem Meer von Wissen ist wohl eher die Fähigkeit wichtig, damit umgehen zu lernen, nicht alles zu wissen, obwohl man es theoretisch können sollte. Zweitens wäre eine Idee, den Fokus des Lehrens darauf zu richten, wie man zu seinen Informationen kommt, als die Informationen selbst. Drittens meine ich, Wissen ist etwas Wertvolles, aber auch Neugierde sollte belohnt werden, da das Interesse für Unbekanntes, für Neues weitere Wege eröffnet. Nicht unbedingt die Frage „was hast du heute Gutes gelernt?“ wäre in diesem Fall die richtige, nachdem die Kinder von der Schule heimgekommen sind, sondern vielmehr „was hast du heute Gutes gefragt?“.
Zweitens ist die Universität die Ausgangsbasis der Studentinnen für ihr Leben nach der Universität. Insofern ist es ihre Aufgabe, den Studentinnen Fähigkeiten zu vermitteln, die ihnen eine gelungene Identitätsarbeit ermöglichen.
Drittens ermöglicht das Studium wie kaum ein anderer Rahmen europäische Erfahrungen. Diese vor allem durch Reisen und den studentischen Austausch in Austauschprogramm wie Erasmus oder CEEPUS. Gemeinsamkeiten können hier unabhängig von der Nation in speziellen Wissenschafts- oder Kulturkontexten entdeckt und elaboriert werden. Ich bin der Meinung, dass ein europäisches Bewusstsein derzeit in diesen Austauschprogrammen noch wenig entwickelt wird, weil sich Studenten dort vor allem im Sinne von Stuart Halls kultureller Identität über ihren Partikularismus der Nation definieren.
Europäische Identität kann also eine praktische Umsetzung von europäischer Identität bedeuten, wenn die Bedingungen von Identitätsarbeit sich dementsprechend anpassen. Das wäre sicher eine Möglichkeit für viele Menschen.
Gleichzeitig ist dieses Konzept bis jetzt eher Utopie als Wirklichkeit, da vielen Menschen auf der einen Seite die Ressourcen für eine derart intensive Identitätsarbeit fehlen. Um sich speziell mit dem Konstrukt Europa und seine Möglichkeiten für sich selbst und seine Auswirkungen auf sich selbst zu beschäftigen, benötigt es wieder weitere Ressourcen. Diese sind einerseits Zeit, andererseits wohl auch ein gewisses Maß an materieller Sicherheit, drittens aber auch die hier diskutierte Fähigkeit, mit der Unsicherheit umzugehen, die eine Identität bedeutet, die sich ständig hinterfragen und konstruieren kann und muss.
Ohne die geeigneten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für eine moderne Identitätsarbeit, stellt diese immer eine Gefahr dar, weil individuelle Kohärenz, als die Annahme einer zeitlichen Kontinuität von sich selbst, (derzeit) eine Grundbedingung für gelungene Identitätsarbeit und psychische Gesundheit ist (Keupp). Dieser Aufsatz will die Möglichkeiten aufzeigen, die sich durch moderne Identitätsarbeit bieten, ist sich aber auch bewusst, dass es keine ungefährliche Sache ist, wenn die Bedingungen dafür nicht stimmen. Es ist die Aufgabe jeder „Imagined Community“ speziell auf ihren konstruktiven Charakter hinzuweisen, um das Versprechen der Moderne einzulösen. Dieses laute: Der Versuch, authentisch zu leben.
Literatur:
Anmerkungen:
4.4. Wege über Grenzen – Studium in Europa?
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-08