TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 4.4. Wege über Grenzen – Studium in Europa?
Sektionsleiterinnen | Section Chairs:Silvena Garelova (Rousse/Rustschuk) und Dagmar Kostalova (Bratislava)

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Europa als Ort der Zivilisation?*

Florentina Harbo (Norsk Institutt for Strategiske Studier, Oslo) [BIO]

Email: florentina.harbo@noriss.no

 

I. Die Grundlagen der europäischen Zivilisation

Europa und ich? Wer sind wir und was bedeutet Europa für uns? „Europa ist eine alte Idee, die Grosses hervorgebracht hat“ (Bracher, 1993: 18). Europa hätte aber nichts hervorgebracht ohne die großen Europäer.

Die westliche Kultur ist durch das Christentum, die Aufklärung, die methodische Wissenschaft und Technologie, den Liberalismus und den Kapitalismus gekennzeichnet. Die europäische Geschichte, Religion, Philosophie, dazu die Nation, die Demokratie, der Pluralismus, die Rechtsstaatlichkeit, darüber hinaus die Freiheit des Geistes, das europäische Denken und das intuitive Selbstbewusstsein repräsentieren die Erfüllung der größten Zivilisation der Welt. Schon Herodot (um 450 v. Chr.) hat Europa nicht nur als einen geographischen Raum bezeichnet, sondern als eine kulturelle Daseinsweise, die sich gegenüber der persisch beherrschten asiatischen Welt abgrenzte. Die Philosophie und Weisheit an sich selbst sind reich an Gedanken. Philosophie bedeutet Wissen. Es ist in Europa, wo Durst nach Wissenschaft und Wahrheit, nach intellektuellen Gedanken und tiefen Diskussionen herrscht. Es gibt ein unbeschränktes, schrankenloses Denken als Grundmodell des intersubjektiven Diskurses. Nach Hegel soll die Freiheit des Geistes ein weiterer Prozess in der menschlichen Entwicklung sein und das Ziel der dialektischen Bewegung des Geistes das absolute Wissen sein. Das ist das Reich der Freiheit (Hegel, 1806). Man muss immer zum Wissen streben. Das Wissen ist Besitz des Individuums. Der Gedanke soll die geistige Wirklichkeit regieren. Friedrich Nietzsche sagte 1887, dass der „gute Europäer“ der geistig gebildete Europäer ist, der hinter den monetären Interessen und Problemen die Kulturvisionen sichtbar macht, mit deren Hilfe allein oder doch zumindest vornehmlich die Völker zu gegenseitiger Friedfertigkeit motiviert werden können (in: Colli, Montinari: 1967). Europa repräsentiert den Anfang einer wahrhaften Selbstdurchdringung des Geistes, die nie endet, wie der mittelalterlich inspirierte Novalis sagte (1799/1996). Wir sind es gewöhnt, uns mit Symbolen zu identifizieren. Italien, Rumänien und Moldova haben Romulus, Frankreich den gallischen Hahn, Griechenland den Olymp, England - König Artus und die Europäische Union – e pluribus unum. Eine vielgesichtige Einheit in der Vielfalt ist ein Motto, das diese Zivilisation zu der größten Entwicklung geführt hat. In dieser Hinsicht kann man durchaus von europäischer Identität im Singular sprechen. Es handelt sich freilich nicht um eine „identitäre“ Konzeption von Identität, sondern um eine universalistische, die die Leistungen der Nationen respektiert. Heute gibt es keine Grenzen mehr, und wenn es sie nicht gibt, dann kann sie niemand überschreiten oder verletzen. Die Jungen haben die Möglichkeit, von dem Reichtum des Wissens in Europa zu profitieren - sapere aude – „habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ – hat Kant (1795) als den eigentlichen Wahlspruch der „Aufklärung“ bezeichnet. Solange es Interesse, viel Arbeit und Selbstbewusstsein gibt, sind alle Türen offen. Von Europa aus es ist leicht die Welt zu entdecken und gleichzeitig europäisch zu bleiben, die europäische Kultur zu fördern und daran weiter zu arbeiten. Jeder von uns kann grenzenlos dazu beitragen, und jeder Beitrag wird Europa helfen weiter attraktiv für die Außenwelt zu bleiben.  Europa ist unendlich reich an Umgangs- und Lebensformen. Die europäischen Werte sind hochrangig. Novalis behauptete, dass es drei Hauptmenschenmassen gibt: wilde Barbaren, zivilisierte Barbaren und Europäer. Es ist möglicherweise übertrieben, aber man kann sich darüber Gedanken machen. Europa basiert auch auf dem Gedächtnis. Wer kein Gedächtnis hat, ist nicht human: „C’est qu’ils n’ont pas de mémoire, c’est qu’ils ne sont pas humains“ (Melville, 1856). Es gibt die Notwendigkeit eines kollektiven Gedächtnisses, das die politische Identität einer Gemeinschaft ermöglicht. Das Gedächtnis rekonstruiert das Wissen und bildet es weiter. Das Wissen ist Besitz des Individuums, der Mensch ist aber für die Gesellschaft geboren und seine Rolle ist, sein Wissen zu vermitteln und die Gesellschaft zu entwickeln. Johannes Paul II schrieb: „Jeder Mensch sei ein Wesen das die Wahrheit sucht und insofern er oder sie nach dem Grund der Dinge und nach ihrem Ziel frage, sei jeder Mensch von Natur aus ein Philosoph“ (Fides et Ratio, Nr. 3, N. 64). Hier haben die Jugendlichen wieder eine substantielle Rolle zu spielen. Europa ist eine Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaft, es hat ein verbindliches Geschichtsbild.

Europa hat der Humanität eine bestimmte Vision gebracht, eine Vision der Hoheit, eine individuelle Konzeption in jedem einzelnen Bereich, offen für die Evolution, immer mit etwas Innovatorischem, wie zum Beispiel die Evolution der Malerei, der Skulptur und der Architektur von der Renaissance bis der modernen Zeit. Alles repräsentiert eine Unendlichkeit der Kunst: die breite schöne europäische Literatur, die Philosophie, die Dramaturgie, die Kritiker, insgesamt die Schriftsteller mit den größten Talenten, die die Sprachen und die Kultur lieben und entwickeln. Europa widerspiegelt die Schönheit und den Universalismus dieser Gedanken. Die Nationen Europas stellen Erfahrungsräume unterschiedlicher Reichweite dar. Es gab viele historische Veränderungen, und alle bilden den gegenwärtigen Status europäischer Identität.

Die Identität Europas liegt auch in der sprachlichen Vielfalt, die die kulturelle Vielfalt spiegelt. Diese kulturelle Vielfalt ist unumgänglich. Eine gemeinsame lingua francua ist eine reduktive Strategie, die nur von der Illusion der Verständigung lebt. Die sprachliche Vielfalt Europas muss aber nicht nur als ökonomisches Hindernis verstanden werden, sie ist auch Europas Chance. Die Sprache ist eine intellektuelle Herausforderung. Quot linguas calles, tot homines vales („Ein Mensch ist soviel wert, wie er Sprachen spricht“). Die Sprache hat auch eine hermeneutische Funktion. Vor allem Geisteswissenschaften leben von Begrifflichkeit, und folglich haben die Begriffe eine heuristische Funktion. Eine nationalkulturelle Verankerung wirkt sich keineswegs negativ auf die Entwicklung europäischer Identität aus, im Gegenteil: durch die Bewusstmachung von Grenzen setzt sie Bewusstseinsprozesse in Gang im Sinne von Hans Georg Gadamer (1960/1989), der sagt, dass wir uns selbst immer nur durch unsere Grenzen erfahren können. Die universalistisch verstandene europäische Identität hat einen emanzipatorischen Charakter.

 

II. Europa und seine -europäischen Wurzeln

So ein Anfang kann wahrscheinlich zu euphorisch erscheinen, deshalb werden hier einige kritische Fragen angebracht, die aber auf keinen Fall das Bild zerstören sollen. 1992 schrieb Rémi Brague, dass Europa sehr fähig ist, sich mit anderen Kulturen zu identifizieren, sich schnell zu adaptieren und das intellektuelle Erbe und die Konstruktionen der anderen in eigene neue kulturelle Objekte zu transformieren. Die Definition scheint ein Paradox zu sein. Europas Kultur basiert auf der griechischen Philosophie, dem römischen Recht und der jüdischen Religion. Europa an sich mangelt es an einer kulturellen Identität und einer individuellen spirituellen Originalität. Endlich kann nur die Geographie Europa retten, sich als Kontinent zu definieren, obwohl das auch ein langer Prozess ist. Seine geographische Definition überhaupt hat keinen Zusammenhang mit seiner politischen und kulturellen Definition. Genau diese unklare Geographie ist der Grund, dass Europa sich ständig durch ein autoreflektorisches Prinzip neu definiert und lässt nicht die anderen Europa definieren. Die anderen Kontinente definieren sich durch Europa. Europa hat aber die „Kompetenz – Kompetenz“ in diesem Bereich. Europa ist weiter schuldig: „Der Westen ist für zwei fundamentale Fehler verantwortlich. Der eine ist Monotheismus – es gibt nur einen Gott -, und der andere ist das aristotelische Prinzip des Widerspruchs – etwas ist entweder A oder Nicht – A“ (Peter L. Berger in: Beck: 2007: 12). Europa ist auch verantwortlich für die Kolonialkriege und für die Kreuzzüge und davon müsste Europa lernen. 

Man spricht sogar über zwei Europas. Die Geschichte der europäischen Integration ist sehr oft präsentiert von einer Perspektive, die ein Europa darstellt, das ein gemeinsames historisches, kulturelles, juridisches und ökonomisches Erbe hat. Man muss nicht vergessen, dass die Geschichte Europas, besonders in den XIX. und XX. Jahrhunderten, von vielen Dichotomien und religiösen, ideologischen, politischen und ökonomischen Differenzen geprägt wurde. Maximilian de Béthune, Herzog von Sully schrieb 1632: „Von Moskau oder Polen rede ich hier nicht: dieses ungeheure Land ... wird zum Teil noch von Götzendienern bewohnt, zum Teil auch von schismatischen Griechen und Armeniern ... es kann überdies mit ebensovielem Grunde zu Asien als zu Europa gerechnet und für ein ganz unzivilisiertes Land gehalten werden, so dass es mit der Türkei in eine Klasse gehört, ob man ihm gleich seit fünfhundert Jahren eine Stelle unter den christlichen Mächten angewiesen hat ...“ (in: Schmale, 2001: 55). Und das Herz Europas - die Schweiz – gehört sie zu Europa? Die Schweizer haben mit Europa nicht viel im Sinn. Sie wünschen nicht, Mitglied der EU zu sein. Vielleicht sind sie eigentlich typisch Europa – Individualisten. Viele fragen sich sogar, ob Russland und Europa zu einer gemeinsamen Zivilisation gehören oder zwei verschiedene Welten sind. Der Graff Alexander Benckendorff sagte: ”Russia’s past was admirable, its present is more than magnificent and as for its future – it is beyond anything that the boldest mind can imagine” (1830). Wenn man nach der christlichen Option sieht, dann ist aus historisch-kultureller Sicht der Ausschluss Russlands vom vereinigten Europa viel schwerer zu begründen als der Ausschluss der Türkei. Wenn man aber Europa bis Wladiwostok reicht, dann liegt das andere Ende in San Francisco. „Liegt die Zukunft des vereinten Europa darin, ein Sonderbund innerhalb der größer gewordenen freien Welt zu sein, der sich allenfalls rühmen kann, die dafür konstitutiven Werte und Ideen historisch früher als andere Erdteile erdacht und formuliert zu haben?“ (Schieffer, 2005: 7).

Ganz im Gegenteil zum Brague, sagt Max Weber - “der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt”, dass Europa ein Sonderweg sei. Es ist so ein besonderer Kontinent, unvergleichbar mit jedem anderen, und er fragt ganz deutlich: “Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?” (Weber, 1904/1905/2007: 7). Weber stellt fest, dass es nur im Okzident „Wissenschaft“ in dem Entwicklungsstadium gibt, welcher wir heute als „gültig“ anerkennen. Empirische Kenntnisse, Nachdenken über die Welt und Lebensprobleme, philosophische und auch – obwohl die Vollentwicklung einer systematischen Theologie dem hellenistisch beeinflussten Christentum eignet, - theologische Lebensweisheit tiefster Art, Wissen und Beobachtung von außerordentlicher Sublimierung hat es auch anderwärts, vor allem in Babylon und Ägypten gegeben, aber der babylonischen Astronomie fehlte, was die Entwicklung der babylonischen Sternkunde, z.B., nur um so erstaunlicher macht, die mathematische Fundamentierung, die erst die Hellenen ihr gaben (Weber, 1904/1905/2007). Machiavelli hat Vorläufer in Indien, aber jeglicher asiatischen Staatslehre fehlen eine der aristotelischen gleichartige Systematik und die rationalen Begriffe. Ein Gebilde wie das kanonische Recht kennt nur der Okzident. Im Bereich der Politik zum Beispiel waren nur in der europäischen Kultur rex et regnum bekannt. Den Staat im Sinne einer politischen Anstalt, mit rational gesetzten Verfassung und Recht gibt es nur im Okzident. Hochschulen aller möglichen Art gab es auch anderwärts (China, Islam), aber rationalen und systematischen Fachbetrieb der Wissenschaft, „das eingeschulte Fachmenschentum“, gab es - in irgendeinem an seine heutige kulturbeherrschende Bedeutung heranreichenden Sinn - nur im Okzident. Er versuchte zu erklären, dass der westliche Rationalismus die Grundlage für die moderne Zivilisation gewesen ist und braucht dafür nur zwei Beispiele, um uns zu überzeugen: den europäischen Kapitalismus und die rationale Organisation des Kapitalismus. Sie konstituieren schon die Hauptargumente für den europäischen Sonderweg. Noch bis in die Mitte des XIX. Jahrhunderts war das Völkerrecht das Recht allein der europäischen Staaten und wurde in der ersten Phase der westfälischen internationalen Ordnung auch ausdrücklich als Droit Public de l’Europe bezeichnet (Preuss, 2005). 

 

III. Europa und die Religion

Die Religion ist eine der Grundlagen der europäischen Zivilisation. Die christliche Religion ist das Fundament europäischer Identität. Europa hat das Christentum in die Welt gebracht. Europa ist das Ergebnis eines Aufeinandertreffens der griechisch-römischen und slawischen Zivilisationen, peu à peu von Missionaren aus Westen und Osten zum Christentum gebracht. Das war manchmal ein problematischer und nicht immer pazifistischer Prozess. Man muss zugestehen, dass der europäische Kontinent nicht nur auf griechisch-romanischen sondern auch auf jüdisch–christlichen Ursprüngen basiert, die durch Jahrhunderte seine tiefste Seele konstituiert hat. Am Anfang war das Licht, und ein lateinisches Sprichwortsagt Ex oriente lux („Aus dem Osten kommt das Licht“). Ein großer Teil dessen, was Europa in der Kultur, im philosophischen, juristischen, künstlerischen und literarischen Bereich hervorbrachte, hat eine christliche Grundlage. Man kann es schwer verstehen, wenn man es nicht von einer christlichen Perspektive aussieht. Auch die Art und Weise des Denkens, der Sprache und des Verhaltens der europäischen Völker haben tiefen christlichen Einfluss. Trotzdem, in den aktuellsten Entwicklungen in der Welt wird die Religion in Frage gestellt. Der Soziologe Ulrich Beck schreibt (2007: 12), dass der Gott der monotheistischen Offenbarungsreligion gefährlich sei. In der Regel ist Religion „Opium für das Volk“, hören wir oft. Man versucht uns heute sogar zu überzeugen, dass es einen Ersatz-Gott gäbe - das Gesetz der Marktwirtschaft, oder noch weiter: „Once religion freedom is aknowledged, religion becomes politically neutral and hence offers no ground for interference or non-interference any longer. Religious freedom and religious tolerance are therefore logically incompatible” (Bejczy, 1997: 366). Die Antwort lautet aber: „Europa hat diese religionspolitische Ordnung vor dem Hintergrund einer jahrtausendelangen Erfahrung hervorgebracht, in der um die rechte Zuordnung der weltlichen und der transzendenten Sphäre gerungen wurde. Diese Erfahrung einer grundlegenden Gewaltenteilung ist allerdings eine westliche. Im orthodoxen Christentum hat es eine solche Entwicklung in dieser Form nicht gegeben, und mehr noch stellt sich die Sache im Islam anders dar. Aber deswegen muss der westliche Weg zur Trennung von Religion und politischer Ordnung nicht der einzig mögliche sein“ (Stein, 2008). Byzanz gehört ebenso zum europäischen Mittelalter wie Rom. Die westliche und die östliche, die lateinische und die griechische Varianten des Christentums breiteten ihre Wurzeln jeweils in einem neuen Glauben. Tine Stein unterschreibt: „Gewiss kann die Religion für partikulare Zwecke instrumentalisiert werden und Konflikte anheizen. Aber zugleich stellt die Religion selbst die Hoffnung dar, dass der Mensch seiner Gefährdung nicht erliegt“.  „ … aber zu behaupten, Religion sei gewissermaßen die Vernichterin der Idee einer gleichen Würde, ist historisch wie systematisch absurd“ (Stein, 2008). Der Gedanke soll die geistige Wirklichkeit regieren, sagte Hegel (1806) und kritisierte das Christentum als das Ende für den Geist, obwohl er behauptete, dass das Christentum die absolute und vollendete Religion sei, die nicht mehr übertroffen werden kann. Im Christentum geschieht endlich die Versöhnung Gottes mit dem Menschen. Er kritisiert eigentlich nicht das Christentum selbst, sondern seinen gegenwärtigen Zustand, nicht die Vorstellung von einem Gott, sondern die Institution Kirche. Der Geist soll durch Reflexion ersetzt werden. Nur die Vernunft repräsentiert die Wirklichkeit, alles was vernünftig ist, ist wirklich. Aber er sagt, dass nur Gott allein wahrhaft wirklich sei, dass die Existenz nur einen Teil der Wirklichkeit ausmache. Die Religion muss so gelernt werden, dass sie sich nicht in Widersprüche mit der Vernunft verwickelt und nicht zur Sophistik ausartet. Leibniz kommt mit einer noch deutlichen Äußerung: in Sachen der Religion auf die Vernunft zu verzichten, das gilt als fast sicheres Kennzeichen eines an Schwärmerei grenzenden Eigensinnes, oder was schlimmer ist, einer Heuchelei. Man glaubt weder in der Religion, noch anderswo irgendetwas, es sei denn aus Vernunftgründen hin (in: Adams, 1994). Der Papst Benedikt XVI. nennt das die „Diktatur des Relativismus“. Durch diesen reflektorischen Prozess ist auch der moderne Liberalismus in Europa geboren, als Reaktion auf die Religionskriege, die Europa nach der Reformation zerrissen haben.

 

IV. Europa als Kriegsgebiet

Ist die Religion in Europa die Grundlage für die Abschaffung des Krieges? Europa durch die EG/EU hat es heute fast erreicht, die Kriege abzuschaffen. Unser Kontinent hat die Schrecken und die traumatischen Eindrücke des Krieges erlebt wie wohl kein anderer. Dadurch wurden wir tief geprägt. So wurde in den vergangenen Jahrzehnten alles darangesetzt, Vertrauen untereinander zu bilden. Die Intellektuellen und die Politiker, bemerkenswert viele mit christlicher Verwurzelung, haben versucht, eine dauerhafte Abkehr von den hergebrachten nationalen Gegensätzen zu schaffen und in eine Zukunft mit gemeinsamen europäischen Institutionen der EG/EU zu führen. Europa hat eine Bürgergesellschaft gegründet, die sich ohne Grenzbeschränkungen frei bewegen kann. Edgar Morin nannte das „Zivilisationspolitik“. Das Meisterwerk des Surrealismus von Max Ernst Europa nach dem Regen spiegelt am bestens die Geschichte wider. In dem Landkartenbild mit unübersehbarem politischem Charakter, gemalt im Jahr der Machtergreifung Hitlers, kann man beim besten Willen Europa nicht entdecken. Die Europäer haben sich ein sich einigendes Europa als Antwort auf die zahlreichen und zerstörenden Kriege zwischen den Europäern gewünscht und es erreicht. Seit 1800 bis 1950 haben die Europäer jedes 13 Jahr 4 Jahre lang Kriege gegeneinander geführt, und hier sind nur die Kriege gegen andere, die sogenannten „Kolonialkriege“ gezählt. Seitdem gibt es keine Kriege mehr zwischen Staaten mit liberalen, republikanischen, demokratischen und sozialen Regime. Acht Staaten in den Jahren 1800-1849, 29 Staaten in den Jahren 1900-1945 und 49 im Jahr 1945 (Walzer, 1986: 231) haben, ohne es zu wissen, eine „pazifistische Union“ gebaut – im Sinne Kants „Zum ewigen Frieden“. Grosse Köpfe hatten schon immer diese Ideen. Saint-Simon träumte von einem kontinental umfassenden Parlament. Giuseppe Mazzini sah eine europäische Völkergemeinschaft entstehen. Victor Hugo sprach von einen gesamten Staat, und Pierre Joseph Proudhon ist noch weiter gegangen und hoffte, dass Europa eine föderale Allianz sein sollte. Charles de Gaulle sagte, dass es ein „Europa der Vaterländer“ bleiben wird. Die Europäer haben eine Wertegemeinschaft, die auf Vertrauen untereinander basiert, ein Geschichtsbewusstsein, ein gemeinsames Herkunftsbewusstsein und eine Schicksalsgemeinschaft gebildet. Jürgen Habermas (2007) ist der Meinung, dass: „Die Verständigung der Europäer untereinander gerichtet [ist] – als Modell für eine Weltgemeinschaft“.  

Der europäische Patriotismus, der eher das Bekenntnis zu einem Wertesystem ausdrückt als auf gefühlsmäßiger Zugehörigkeit beruht, ist mit dem nationalen Patriotismus kompatibel. Er trägt sogar dazu bei, den nationalen Patriotismus, der von unterschiedlichen historischen Erfahrungen, den unterschiedlichen Sprachen und Kulturen geprägt ist, in Zeiten dynamischen Wandels zu stabilisieren. „Gibt es nicht größere Werte als die Einheit Europas?“ – fragte sich Ralf Dahrendorf. Die Frage scheint aber rhetorisch zu sein. „Selbstverständlich gibt es sie. Dazu sind Werte ja da, immer größer zu sein als das, was politisch möglich ist“ – antwortet Jürgen Kaube (2006). Weiter noch Niklas Luhmanns Befund „Wertelisten sind Wartelisten“. Wenn man aber über die EU als Wertesystem spricht, fragt man sich, wie viele Werte braucht man für diese Gemeinschaft? Diese Diskussion kennt aber kein Ende. Hegel behauptete, dass die europäischen Nationen damals wesentlich von Person, Gesellschaft und Staat organisiert waren. Ohne die Form des Staates mangelt es einem Volk an Gesetzen, an objektiven Institutionen, an Selbstbewusstsein. Wenn es wieder um die EU geht, haben viele Angst, dass sie die Form eines Staates annehmen könnte, obwohl die Ursprungsidee die Einheit der Menschen war: „Nous ne coalisons pas des Etats, nous unissons des hommes“ (Jean Monnet, 1952).     

 

V. Quo vadis Europa?

Gibt es eine europäische Gesellschaft? Unser allgemeines Verständnis von der Gesellschaft kommt von der Idee, dass die Welt in Gesellschaften geteilt ist, die ihre eigene Kultur haben, die nur auf einem spezifischen Territorium mit definierten Grenzen gefunden werden können und die vom Staat reguliert sind. Außer diesen Grenzen ist man in einer anderen Gesellschaft. Dieses Konzept wurde von den klassischen europäischen Soziologen des XIX. – Anfang XX. Jahrhunderts entwickelt als eine Antwort auf die Tatsache, dass die Welt sich von einer Bauerngesellschaft zu dem industriellen Kapitalismus entwickelte. Einer der Klassiker, Georg Simmel hat gefragt: „Wie ist Gesellschaft möglich?“ (Simmel, 1908, Kapitel I: 21-31). Genau wie Kant fragte: „Wie ist Natur möglich?“ Bis jetzt hat dieses Konzept eine Geltung gehabt, aber zu welcher Gesellschaft gehört ein Ungar, der in Rumänien lebt, der sich aber für das Leben in Ungarn interessiert und Kontakte mit ungarischen Menschen überall in der Welt hat? Auch wenn nur 2-3% der Bevölkerung außerhalb ihre Geburtsorte leben, werden diese traditionellen Phänomene mehr und mehr selbstverständlich. Es geht um eine transnationale Bewusstheit. Der deutsche historisch orientierte Philosoph Norbert Elias hat vor dem II. Weltkrieg über das Konzept „Interdependenzketten“ geschrieben (Elias, 1939/1969/1980). Wenn es viele Ketten gibt, viele Beziehungen zwischen Menschen, dann gibt es auch eine Gesellschaft für sie. Das Territorium an sich kann nicht die Grenzen der Gesellschaft definieren. Und so ist dann vielleicht die Gesellschaft „möglich“, um Georg Simmels Frage zu beantworten.  

Die Europäisierung ist eng mit der Globalisierung verbunden. Globalisierung heißt heute, dass Kulturen sich gegenseitig zivilisieren. Europa öffnet sich der Welt. Vielleicht gibt es doch eine Welt mit einer höher entwickelten Zivilisation? Hegel war sich dessen bewusst: „Amerika ist somit das Land der Zukunft, in welchem sich in vor uns liegenden Zeiten die Weltgeschichte Wichtigkeit offenbaren soll. Es ist ein Land der Sehnsucht für alle die, welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt. Napoleon soll gesagt haben: cette vieille Europe m’ennuie. Aber was sich bis jetzt dort ereignet, ist nur der Widerhall der alten Welt und der Ausdruck fremder Lebendigkeit, und als ein Land der Zukunft geht es uns hier überhaupt nicht an“ (Hegel, 1806/2000: 33). Thomas Mann ist uns aber näher: „Wir haben Amerika unendlich viel zu verdanken. Dennoch wollen wir zurück nach Europa. Hier, wissen Sie – nun ja, es fehlt Campanile …“ (in: Koch: 1993: 9).

Um Europa heute zu verstehen, müssen wir immer wieder zurück schauen. Wir finden dauernd etwas Vergleichbares. Die Säkularisierung der politischen Einheit, die Entwicklung der demokratischen Idee und sogar die Idee, den Feind in den internationalen Beziehungen zu identifizieren, haben schon immer den europäischen homus geprägt: „L’Europe n’est pas vieille, elle est ancienne. Le monde n’est pas moderne, il est actuel“ (Le Goff, 1994: 68). War und ist Europa eine politische und ökonomische Stärke oder wurde Europa von den europäischen und anderen Staaten als ein Instrument benutzt, um eigene Zwecke zu erreichen? Die Einheit in der Vielfalt scheint ein selbstverständliches Symbol zu sein, aber es gibt immer noch einen Konflikt zwischen dem politischen Europa, das die Einheit und eine Identität sucht, und dem pluralistischen historischen Europa. Die Vielfalt Europas ist nicht eine hybride oder eine künstliche Vielfalt, sondern eine „vielgesichtige“ Vielfalt. Sehr lange waren wir uns bewusst und offensichtlich viele sind es noch, dass der Begriff „Europa“ mit dem der „Europäischen Einigung“ (d.h. mit der EG/EU) identisch sei. Dieses ist das Ergebnis eines langen Prozesses. Susanne Nies geht noch weiter und schreibt in einem futurologischen Beitrag, dass die USA die EU beitreten werden und eine Transatlantische Union entstehen wird (Nies, 2007: 16-17). Europa ist das ganze, wo die EU nur ein Gebilde ist: „Wenn wir also etwas Substantielles über den politischen Charakter der Europäischen Union sagen wollen, so müssen wir zunächst fragen, ob Europa einen für dieses Gebilde charakteristischen Begriff des Politischen herausgebildet hat“ (Preuss, 2005: 14). Dieser Beitrag hat gezeigt, dass Europa mehr als nur die EU ist. Europa war schon immer da. Europa ist der Anfang und das Ende.

 

Bibliographie

 


Anmerkungen:

* Für inhaltliche Anregungen und stilistische Korrekturen bedanke ich mich bei Prof. Ulrich K. Preuss, Prof. Helmut Wagner, Prof. Tine Stein, Prof. Susanne Nies, Godrun Gaarder und Hildegard Korte. Allen gebührt mein aufrichtiger und ganz herzlicher Dank.


4.4. Wege über Grenzen – Studium in Europa?

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INST

For quotation purposes:
Florentina Harbo: Europa als Ort der Zivilisation? - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/4-4/4-4_harbo17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-03-08