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Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 |
Sektion 4.4. | Wege über Grenzen – Studium in Europa? Sektionsleiterinnen | Section Chairs:Silvena Garelova (Rousse/Rustschuk) und Dagmar Kostalova (Bratislava) |
Europa der bunten Flecken
Oskar Terš (Wien)
Dieser Essay ist ein reiner Erfahrungsbericht und stützt sich auf keine Theorien zu Europa oder der EU. Sollte trotzdem der Inhalt einer dieser zu erkennen sein oder dieser widersprochen werden, so geschieht das in einem Schleier des Nichtwissens, ist unbeabsichtigt und sei mir verziehen. Wegen meiner Arbeit mit Literatur und Theater versuche ich folgend einige Grundthemen von „Kulturprojekte mit Jugendlichen zur Schaffung einer europäischen Identität“, nämlich europäisches Zugehörigkeitsgefühl, Bedeutung von Kulturprojekten, Sprachproblematik innerhalb Europas und übergreifende Partizipation anhand von europäischen Schriftstellern zu analysieren und darzulegen.
Elias Canetti wurde als Türke in Bulgarien geboren, ging in England zur Schule, studierte in Österreich, lebte in Deutschland und England, starb in der Schweiz. Sein Geburtshaus in Ruse ist verwaist und renovierungsbedürftig, die Adressen seiner zahlreichen Wohnorte kennen nur mehr eingefleischte Literaturinteressierte, den Nobelpreis für Literatur bekam er als Staatenloser. In seinem Europa gab es lange Zeit noch keine EU, seine Reise nach Marokko war noch orientalisch, sein Jüdischsein noch ein Problem.
Im Dezember 2006 fand in Ruse, dem Geburtsort Elias Canettis, eine von der Robert Bosch-Stiftung organisierte Schreibwerkstatt mit dem vage übergeordneten Thema „Europa“ statt. Viele der Teilnehmer(1), Schüler und Studenten aus den Städten Ruse, Shumen und Veliko Târnovo, stöhnten auf, als sie eben dieses Thema hörten. Sie hatten in den letzten Wochen und Monaten von Presse, Lehrern, Politikern und Eltern so viel darüber gehört, dass jegliches Interesse daran erloschen war und sich eher Unmut angesichts des nahen Beitritts eingestellt hat. So lautete dann auch der Tenor, dass die EU an sich schlecht ist und nur noch schlechter sei, dass Bulgarien ihr nun beitrete. Texte haben sie dann trotzdem geschrieben, mit wachsendem Enthusiasmus und voll sprudelnder Fantasie und in manchen kam sogar Europa vor.
Die Abende verbrachten wir zusammen in den Kneipen Ruses; Bulgaren, Deutsche, Mazedonier, Österreicher und sogar ein Litauer an einem Tisch und scherzten unter anderem auch über „Europa“. Dass mein Nachname Terš österreichischer sei als, zum Beispiel, Schickelgruber, dass Mazedonier bulgarischer sind als die Einwohner Sofias, dass die Schweiz europäischer ist als Zypern und trotzdem nicht der EU angehört. Summa summarum blieben die Bulgaren aber dabei, dass die EU ihnen ihre Identität raube und sie in der EU-europäischen Wertegesellschaft, nach der Zuweisung ihres Platzes, untergehen würden.
Mich erinnerte das an den EU-Beitritt Österreichs 1995. Mit praktisch den gleichen Argumenten – mehr Geld, weniger Arbeitslosigkeit, mehr Sicherheit – warben damals auch die österreichischen Befürworter, mit praktisch den gleichen Gegenargumenten – Krümmung der Gurke, Verbot des privaten Schnapsbrennens, Verwaltungsmoloch Brüssel – die Gegner. Nichts von dem kam dann letztlich wie angekündigt, -gedroht. EU–Europa für die nicht direkt daran Beteiligten als Hydra mit unzähligen Köpfen, die maßlos nachwachsen.
Zurück in Wien kamen die Fragen zu Bulgarien, zu Diebstählen, Zigeunern (ja, Zigeunern, nicht Roma und Sinti), Korruption. Leider konnte ich mit Antworten nicht dienen, da ich nur bestens ausgebildete bulgarische und mazedonische Jugendliche in Bulgarien getroffen habe, in der Stadt eines Nobelpreisträgers in Steinwurfweite von der rumänischen Grenze (sofern man in der Lage ist einen Stein über das hier sehr breite aus Bayern kommende Donauwasser zu werfen). Zurück in Wien wurde der Beitritt von Rumänien und Bulgarien in der österreichischen Presse nur als Randnotiz erwähnt, keine rumänisch–bulgarischen Tage am Stephansplatz, kein Feuerwerk in Salzburg, keine Projektinszenierungen in Graz. Vielmehr die Diskussion über Beitrittsländer zweiter Klasse, Diebstähle, Zigeuner und Korruption. Zurück in Wien erreichten mich auch E-Mails aus Ruse, wie schön es jetzt wäre und dass viele Rumänen von Trans- (oder Cis?) Danubien kämen und zusammen mit den Bulgaren eine Party nach der anderen feierten.
Im Jahr 2007 sind uns viele Differenzierungen aus politisch korrekten und anderen Gründen verloren gegangen, man lehnt sich dankbar an Begriffe wie „’89“, „Warschauer Pakt“ und „Ostblock“ an um über Europa und seine Zukunft zu sprechen. In Westeuropa. In Osteuropa spricht man von „Kapitalismus“, „Antisemitismus“ und „Sozialismus“ und der Fall der Berliner Mauer ist verglichen mit der Hinrichtung Ceauşescus ein Gimmick, für einen Rumänen. Europas Identität zerfällt in die Augenmerke seiner Bewohner. Diese jedoch sind genauso verschieden, wie es die Definitionen von Skandinavien, Mitteleuropa, Westbalkan oder Baltikum sein können. Eine Erweiterung oder Neuorientierung wird dann gespürt, wenn man von Rumänien nach Bulgarien über die Donau nicht mehr zwei Stunden im Zoll steht, sondern einfach eine Brücke überquert. So entsteht eine neue Identität, genauso wie eine neue Ausgrenzung entsteht, wenn Mazedonier wegen dem EU-Beitritt Bulgariens plötzlich nicht mehr ohne weiteres in Ruse studieren können. Canetti konnte es noch im damaligen Wien, trotz seiner Herkunft.
Als Ivo Andrić 1961 der Literaturnobelpreis verliehen wurde, war ganz Tito-Jugoslawien stolz auf seinen gewürdigten Sohn aus Dolac/Travnik. In Višegrad und Sarajevo aufgewachsen, verbrachte er viele Jahre seines Lebens in Kroatien, Frankreich, Italien, Polen, Rumänien, doch blieb er immer Jugoslawe. Seine ausgezeichneten Romane beschäftigen sich mit der osmanischen Herrschaft im heutigen Bosnien-Herzegowina. Da er auch, nach heutiger geographischer Einteilung, dort geboren ist, beansprucht ihn das Land für sich. Wegen den Einflüssen von Antun Matoš in seinem Werk tut dies aber auch Kroatien, wegen seiner Tätigkeit in Belgrad als Abgesandter Titos, Serbien. Andrić hat seine Nationalität verloren, lange nach seinem Tod und wäre heute ebenso ein Staatenloser wie Elias Canetti. Er ist hierin aber nicht alleine, die Praxis, sich große Namen anzueignen, ist weit verbreitet. So ist Beethoven eigentlich Österreicher, Chamisso Deutscher, die Brueghels Niederländer. Argumente zu historisch veränderten Grenzen und ehemaligen Staatsgebilden, die heute nicht mehr existieren, werden dann gerne von den Verfechtern solches ideellen Einbürgerns als Besserwisserei gewertet. Vice versa funktioniert das natürlich auch, nach Abgabe Hitlers von Österreich an Deutschland, soll dieser, letztjährigen Überlegungen der SPD in Braunschweig zufolge, in die Staatenlosigkeit gezwungen werden. So ein Hin- und Herschieben von Würdenträgern und Verbrechern kann einer europäischen Identität nicht förderlich sein. Aber zurück nach Jugoslawien.
Egal, wo man sich in Ex-Jugoslawien befindet, überall wird Andrićs Werk hochgehalten, gelesen und ihm Respekt gezollt, als „einer der ihren“. Vor meiner dreijährigen Tätigkeit an der Universität Tuzla, habe ich seine „Brücke über die Drina“ gelesen und war nicht nur vom literarischen, sondern auch von der darin transportierten Information begeistert. Bald nach meiner Ankunft in Tuzla, empfahl mir ein Student einen weiteren Roman Andrićs, „Wesire und Konsuln“, damit ich besser verstünde, wie es mit der hiesigen Mentalität aussehe und warum es zum Krieg kommen konnte. Der Student heißt Jusuf Šabanović, Muslim aus dem unabhängigen Distrikt Brčko, seine Mutter Serbin, sein Vater Mazedonier.
Dass ich die Taten des Krieges wegen „Wesire und Konsuln“ erklären kann, will ich mir nicht anmaßen. Der Krieg fand zwischen 1991 und 1999 statt, begann vierzig Jahre nachdem sich Belgien, die BRD, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zusammengeschlossen haben. Aus dieser rein wirtschaftlichen Allianz sollte die EU entstehen, deren lautere Idee der Friede der Staaten Europas ist. Während des Jugoslawienkrieges wurden die Kopenhagener Kriterien aufgestellt, der Maastrichter Vertrag unterschrieben, traten Finnland, Österreich und Schweden bei, wurde das Schengener Abkommen unterzeichnet, starteten die Verhandlungen für die Osterweiterung, starben ca. 280.000 Menschen in den ehemals jugoslawischen Staaten, plus/minus 100.000. Und EU-Europa sah bei all diesen Ereignissen mehr oder minder interessiert zu. Mitten im Europa des Friedens fand ein verabscheuungswürdiger und brutaler Krieg statt, der erst durch die NATO-Bombardements 1999 beendet werden konnte. Um das zu verstehen sollte man „Wesire und Konsuln“ lesen, empfehlen die Opfer. Was die Politik der EU nicht erklären konnte, soll die Literatur, die Kultur schaffen. Für die Kultur sind ab 2007 33 Millionen Euro/Jahr EU-Förderung vorgesehen(2), für Sicherheit und Justiz 10,6 Millionen Euro/Jahr(3), für die Wirtschaft 98,5 Millionen Euro(4). Die Zahlen der NATO habe ich leider nicht gefunden. Vielleicht ist das ja ein Ansatz für das Verstehen, von politischer Seite her.
Die Menschen in Ex-Jugoslawien identifizieren sich trotz allem weiterhin mit den Werken ihrer Schriftsteller. Und nicht nur hier. Den jugoslawischen Andrić findet man wieder im bulgarischen Vazov, im tschechischen Hašek, im ukrainischen Franko, im spanischen Cervantes, im französischen Hugo. Es sind Namen und Werke, die eine Identität vermitteln. Selbst wenn Hugo und Cervantes eine längst vergangene Zeit beschreiben, im jeweiligen Land kann man die Gegenwart damit erklären. So dient der analysierte Hidalgo weiterhin als Dr. Frankenstein des Franco-Regimes. Und Don Quijote wird wieder mehr als eine bloße Zeichentrickfigur im Vormittagsprogramm.
Gleiches gilt für die anderen Kunstrichtungen und es wäre müßig diese nun alle aufzuzählen. Die Kultur ist ein wichtigeres Identifikationsmerkmal als Wirtschaft oder Militär. Noch.
Noch wird Schweden nur unter anderem über H&M und IKEA definiert, doch auch noch über Bergmann und Mankell. Obwohl gerade IKEA alles tut, um das zu verschieben. Liest du noch oder kaufst du schon?
„Ich bin Europäer“ lautete Ende Februar 2007 das Wahlkampfmotto für das Präsidentenamt Frankreichs von Nicolas Sarkozy, nachdem sein direkter Konkurrent François Bayrou damit punkten und Stimmen aufholen konnte. Der gleiche Sarkozy, der die Jugendlichen der Pariser Unruhen 2005 als „Abschaum“ betitelte und „wegkärchern“ wollte, weil sie in sein Paris nicht passten und nun auch tatsächlich Präsident ist Die meisten der Aufständischen waren ja auch Nordafrikaner und somit keine Europäer.
„Ich bin Europäer“ meint auch Jorge Semprún. Er lebt im Paris Sarkozys, war selbst einmal spanischer Kulturminister und ist Überlebender des KZs Buchenwald. Wegen seiner Tätigkeit im Widerstand wurde ihm die spanische Staatsbürgerschaft vom Franco-Regime aberkannt, erst nach der Demokratisierung Spaniens nimmt er sie wieder an. Sein Leben verbindet Spanien, Frankreich und Deutschland. Die jeweiligen damaligen politischen Systeme aller drei Staaten führten zu drastischen Einschnitten in seinem Leben. Erst mit 40 Jahren veröffentlicht er sein erstes Buch „Die große Reise“ in dem er seine Erfahrungen zwischen Resistance und Vernichtungslager aufarbeitet.
Die Literatur dient zur Verarbeitung, als Ausdruck des Geschehenen, des Gesehenen. Nicht nur die Literatur, die Kultur im Allgemeinen. Was Statistiken und Bilanzen in Zahlen versuchen darzustellen und trotzdem immer wieder an Steuerhinterziehern, Finanzamtprüfungen und Bilanzfälschern scheitern, gelingt jedoch der Kultur über das Individuum. Jedes Buch wird von den Einzelnen anders gelesen, jedes Bild anders geschaut, jedes Musikstück anders gehört. Kinder, die in der Oper Mozarts „Bastien und Bastienne“ sehen, sind von den Drachen, den Schmetterlingen oder der Musik begeistert oder von allem zusammen. Mozarts Geburtshaus in Salzburg interessiert sie nicht. Jugendliche, die Büchners „Woyzeck“ inszenieren, haben nicht nur Spaß am Spiel, an den Kostümen oder der Kulisse, sondern finden sich auch mit dem Gesellschaftssystem des 19. Jahrhunderts konfrontiert, abseits der Militärromantik postnapoleonischer Kriege. Die Kultur dient zum Reflektieren und Kritisieren und das sollte bei ihr ohne Grenzen erlaubt sein.
Semprún begann zu schreiben, als er sicher war, dass er gelesen werden würde. Als staatenloser Exilant und Kommunist im Frankreich der 50er Jahre hätte er nur ein sehr eingegrenztes und spezialisiertes Lesepublikum gefunden. Seine Reflexion der Gegenwart führte dann auch zum Bruch mit dem Kommunismus, da er nur gefärbte Beschreibungen der Gestapo-Haft und Nazideutschlands hätte geben können. Politische Systeme müssen parteilich sein, sonst wären sie ein Paradoxon der Selbstverleugnung. Kulturelle Projekte müssen offen sein, um das zu fördern, was zu fördern da ist oder durch die Förderung geschaffen werden kann. Politische Kultur ist somit als theoretischer Homunkulus nicht Fisch und Fleisch und läuft Gefahr tendenziös und subjektiv zu sein. Diese Gefahr wird bestätigt durch propagandistisch genützte Aufregungen über Kultur, die den moralisch gesetzten Normen eines Systems widerspricht. Eine durch Propaganda erzeugte Identität kann jedoch auf längere Sicht nicht zu einer Definition Europas beitragen.
Während meiner Zeit in Bosnien-Herzegowina habe ich Lesereisen deutschsprachiger Schriftsteller organisiert. Die aktuellsten deutschsprachigen Schriftsteller, von denen man in Bosnien-Herzegowina gehört hat, sind Günter Grass und Peter Handke, von ersterem wegen des Nobelpreises, von zweiterem wegen seiner Serbientexte. Alle anderen bekannten sind seit langem unter der Erde, nur die bosnischen Germanistikstudenten können noch im Schlaf Geburts- und Strebedaten aufsagen und Passagen ihrer Balladen rezitieren. Die dort unbekannten Schriftsteller kamen gerne, da sie neugierig auf Land und Leute waren und die Reiseveranstalter, die Bosnienreisen anbieten, einem nicht unbedingt die Tür einrennen. Die Studierenden kamen gerne zu den Lesungen, weil es etwas Neues war, weil sie mit einem tatsächlich anwesenden Schriftsteller reden konnten und weil sie allen Beteiligten gerne eine Freude machen und gerne, anstatt wie sonst mit ihren Freunden, mit ein paar Ausländern Kaffee trinken. Die Werke der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur kennen sie nicht, sie sind auch kaum übersetzt und im ganzen Land gibt es nur eine ernst zu nehmende Buchhandlung. Amazon liefert auch nicht. Trotzdem, nach drei Jahren und zwölf durch Bosnien gereisten Schriftstellern, findet man jetzt, in den regallangen Diplomarbeiten der verteidigten Germanistikstudenten, zwischen Goethe, Hölderlin und Schiller auch Gstrein, Hettche und Stanisić. Und somit ein paar literarische weiße Flecken weniger auf dem bunter gewordenen Westbalkan. Diese weißen Flecken existieren jedoch in ganz Europa. Noch immer hält sich die Konkurrenz der Kulturen, jedes Land hat seine eigenen Kulturinstitute im Ausland, doch fördert nur die eigenen Schaffenden. Die europäische Identität kann nur entstehen, wenn auch diese Grenzen aufgeweicht werden, Frankreich Albaner fördert und Dänemark Schweizer. Oder ein EU-Kulturinstitut geschaffen wird, das dann nicht auf regionale Präsenz Acht geben muss. Letztlich darf es nicht vom Schicksal der Geburt bestimmt werden ob kulturelles Gut den Weg zu europäischen Verlagen, Galerien und Konzerthäusern findet.
Je mehr man demnach versucht diese weißen Flecken allgemein kulturell anzumalen, desto mehr kann man eine Identität schaffen. Eine Identität, die weg geht von der nationalen, geboren Mitte des vorletzten Jahrhunderts, zu einer gemeinsam-europäischen, geboren Anfang des jetzigen Jahrtausends.
In Brody, einer vergessenen Stadt in der heutigen Ukraine, drückte einst der Schüler Joseph Roth die Schulbank und lernte Deutsch, die am meisten gesprochene der monarchischen Amtssprachen. Die Einwohner Brodys waren zu 85% jüdisch und den jungen unter ihnen war klar, dass ihr Weg über Lemberg, Wien und Prag führen musste, wollten sie nicht Landwirt oder Händler von Nippes werden. Mit dem Untergang der Monarchie ging auch die Sprachenvielfalt verloren, da man jetzt Grenzen hatte, innerhalb derer die jeweilige Sprache zu sprechen sei. Das hält bis heute an. Der infantile und höchst beschämende Streit über zweisprachige Ortstafeln im slowenischen Teil Kärntens ist noch eine Jahrmarktattraktion gegenüber den Italienisierungen Südtiroler Grabsteine oder der grammatischen Unterscheidung zwischen Kroatisch, Serbisch, Bosnisch, Montenegrinisch. Im geografischen Europa gibt es ungefähr 150 verschiedene Sprachen, darunter vom Aussterben bedrohte wie das Manx der Isle of Man oder das Selonische in Litauen. Dazu kommen Dutzende Dialekte und regionale Färbungen. Verglichen mit den USA also ein gröberes Verständigungsproblem in Europa? Verglichen mit Indien ein sprachliches Eden?
Joseph Roth schrieb auf Deutsch, konnte passables Jiddisch und ausgezeichnetes Französisch, dazu noch ein paar Brocken Ukrainisch, Polnisch und Englisch. Englisch wurde mit der Zeit zur Weltsprache und das ist eine positive Entwicklung. Egal wo man ist, kann man sich in Englisch verständigen. So wird eine Identität eingeführt, die nicht als Konkurrenz zu Deutsch, Französisch oder Spanisch gesehen werden darf. Jeder, der in Westeuropa aufgewachsen ist, hat früher oder später eine dieser Sprachen gelernt. Es wurde und wird als wichtig angesehen, Fremdsprachen zu beherrschen. Das gleiche gilt für Osteuropa. Wie schon zu Zeiten Joseph Roths, gibt es auch heute noch deutschsprachige Gymnasien, ist die starke Verbindung über die deutsche Sprache zwischen Ost und West vorhanden. Der aufstrebende Jungmanager in Görlitz kann mit seinem Nachbarn in der Muttersprache Deutsch plaudern und fließend ins Englische wechseln. Dass der Nachbar zu Hause dann seine Muttersprache Polnisch spricht, geht ihm aber verloren.
Polen liegt mit knapp 39 Millionen Einwohnern an sechster Stelle der bevölkerungsreichsten Länder der EU. Rumänien auf Platz sieben. Sollte die Türkei beitreten, wäre sie nach Deutschland mit mehr als 70 Millionen Einwohnern an zweiter Stelle. Dennoch lernen Polen, Rumänen und Türken Deutsch und Englisch, mit dem Argument, dass niemand ihre Muttersprache kann. Die „alten“ EU-Länder sind damit zufrieden und nur Exoten besuchen die Polnisch-, Rumänisch- oder Türkischkurse. Es gilt leider immer noch, obwohl sich diese Situation dank der neuen EU-Länder ein wenig verschiebt, als vergeudetes Wissen eine Sprache Osteuropas zu beherrschen. Es ist leider immer noch angesehener in Westeuropäischen Sprachen zu parlieren. Die Identität kann somit nur über die Weltsprache Englisch stattfinden, solange die 150 verschiedenen Sprachen Europas einen Nimbus mit sich tragen. Egal ob dieser „schwierig“, „unwichtig“ oder „historisch behaftet“ lautet.
Joseph Roth hat auf Deutsch geschrieben. 1918 zerfiel sein Staat, seine Existenz. Durch Erlernung der französischen Sprache fand er eine neue Heimat, kam dem ungeachtet über die Tatsache, staatenlos geworden zu sein, nie hinweg. Das Ende der Monarchie brachte auch das Ende des monarchischen Roths. Dies sollte, durch das wechselseitige Sprachenlernen in Europa, zusammen mit einer Auflösung der inneren Grenzen, in der jetzigen Zeit jedoch verhindert werden können.
Isaac B. Singer hat auf jiddisch geschrieben und als bisher einziger für seine Bücher in dieser Sprache den Literaturnobelpreis erhalten. Seine Romane und biographischen Texte zeichnen die Lebensweise polnisch-jüdischer Auswanderer in den USA nach und wie sie ihre Heimat dorthin mitgenommen und installiert haben. Die Widersprüche zwischen den kapitalistischen Amerikanern und den polnischen Einwanderern, die sich den „american way of life“ auf der Straße wie eine Maske aufsetzen und zu Hause wieder ablegen, zeigt eine erhaltene Identität in einem fremden Land. Äußerliche Anpassung, innere Pflege. Die Pflege einer damals von der Landkarte gelöschten Heimat.
Wie kann das in Europa behandelt werden? Die Diskussionen über Parallelgesellschaften, Gettobildung und Verslumung von Randbezirken nimmt mit den Jahren zu, populistische Parteien rekrutieren daraus ihre Wählerschaft. Singers autobiografische Aufzeichnungen heißen bezeichnenderweise „Verloren in Amerika“. Verliert man sich auch in Europa? Trägt die EU dazu bei oder wirkt sie dem entgegen?
Durch die Abschaffung der Grenzen, der gemeinsamen Währung und der anvisierten europäischen Verfassung werden Schritte in eine vereinigende Richtung gemacht. Politische Schritte, die den kommenden Generationen als Selbstverständlichkeit erscheinen werden. Für die Jugend Anfang des neuen Jahrtausends ist es normal von Schweden nach Portugal ohne Passkontrolle zu reisen und mit nur einer Währung zu zahlen. Für die Jugend Mitte des neuen Jahrtausends wird das ebenso normal sein, wenn sie von Großbritannien in die Türkei reisen wird, sollte diese politische Orientierung beibehalten werden. Politisch kann so eine Identität erschaffen werden. Kulturell muss sie über die Kunst erschaffen werden, um die Fremdheit der vielen EU-Länder aufzuheben, um die Angst vor einer anderen Gesellschaft zu nehmen. Mit einem Blick zurück auf die europäischen Schriftsteller muss festgestellt werden, dass Cervantes, Hugo und Shakespeare ohne Probleme über Amazon erhältlich sind, Vazov, Franko und Čapek nur über ZVAB. Hier fehlt noch eine Aufarbeitung im Kennenlernen der unterschiedlichen Kultur. Singer hat es vorgemacht, indem er seine Werke selbst ins Amerikanische übersetzt und lektoriert hat. Die im Stillen gepflegte Identität wird versucht der Öffentlichkeit nahe zu bringen. Um Missverständnisse und Vorurteile zu vermeiden. Singer selbst hat seine Heimat nicht mehr wieder gefunden und genauso umgekehrt.
Bleibt letztlich die Frage, ob die Wirtschaftsunion EU auch in dieser Sparte eine Identität erzeugen kann. Ich kann ab 2008 ohne Passkontrolle von Wien nach Bratislava fahren. Fahrzeit 50 Minuten. Wenn ich mich dort ins Café setze, kann ich die Rechnung ab 2011 in Euro bezahlen. Wenn ich mein Mobiltelefon nehme und meine Freunde in Polen anrufe, um ihnen zu sagen, wie schön das Leben ist, zahle ich von eben diesem Mobiltelefon, das in Österreich gemeldet ist, slowakische Roaminggebühren und eine polnische Auslandsverbindung (die erst ab dem 1. September 2007 ein wenig geworden ist). Eine europäische Identität kann solange nicht entstehen, solange man auf den Rechnungen die Aufenthalte im weiterhin bestehenden Ausland ablesen kann. Solange wird Ausland bleiben, wo das Telefonieren teurer ist, der Kaffee und der Zahnersatz billiger. Eine europäische Identität mit ungarischen Zähnen und ukrainischen Zigaretten ist eine Identität des Preisvergleichs und bringt keine Annäherung der teilnehmenden Menschen und Kulturen.
Dass Kulturprojekte mit Kindern und Jugendlichen einer Identitätsbildung in Europa nicht hinderlich sind, steht außer Frage. Die Inszenierung und Durchführung derselben ist jedoch ein anderes Thema. Durch Projekte können bei falscher Zielsetzung auch Vorurteile und Ressentiments erzeugt werden. Für die Bildung einer Identität, die die bestehenden Grenzen Europas überwindet, muss ein ständiger Austausch im Vordergrund stehen, eine Metamorphose weißer, in bunte Flecken. Je persönlicher dieser Austausch ausfällt, durch multinationale Projekte mit gegenseitigen Besuchen, desto höher ist das Verständnis für das „Andere“ und die Integrierung in eine gemeinsame Identität. Dabei sollte man aber nicht die Vorgehensweise des 2007 verstorbenen Journalisten Kapuściński vergessen, dass man mit denen, die man verstehen will, auch leben muss, selbst wenn Leid und Hunger dazu gehören. Vielleicht auch ein Rat an die EU-Vertreter, beim nächsten Aufenthalt im Land der jeweiligen Ratspräsidentschaft, mit dem Zug statt dem Jet anzureisen und zu Fuß zum Think Tank zu gehen, statt mit der Limousine chauffiert zu werden. So sieht man mehr von dem, wo man ist und was man sein möchte. Sollte. Könnte.
Anmerkungen
4.4. Wege über Grenzen – Studium in Europa?
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-08