TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Februar 2010

Sektion 4.5. Arctic, Antarctica, Alps, Art – Imagining the Extreme / Natural Sciences, Humanities, Arts – Dialoguing
SektionsleiterInnen | Section Chairs: Knut Ove Arntzen (Universität Bergen), Gabriele Rampl (Scinews, Innsbruck) und Victoria Joan Moessner (University of Alaska)

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Schamanismus in Sibirien

Penz Franz (Austria, )

 

1. Sib Ir – schlafendes Land
Ein Ausblick auf die Naturverhältnisse Sibiriens

Sibirien ist der Inbegriff für Frost und Tränen, Taiga, Kälte, Unwegsamkeit und Grausamkeit auf einer Fläche kaum vorstellbaren Ausmaßes. Die Entlegenheit Sibiriens und seine Jungfräulichkeit, die erdrückende Macht seiner Natur, das gewaltige Wirken der Elemente, die Schwierigkeit des Kampfes und der Existenz für jene, welche in diese unbekannten Welten eindrangen, und schließlich auch das mythisch geheimnisvolle und stets schreckhafte Gewand, in welchem das Unbekannte aufzuwarten pflegt, dies alles hat dazu beigetragen, dass Sibirien lange Zeit als unwirtliches, wildes, geheimnisvolles Land galt.

Sehen wir uns ein wenig die geographischen Gegebenheiten an:

Sibirien, welches sich vom Ural bis zum Stillen Ozean und von den sibirischen südlichen Steppen bis zum Eismeer erstreckt, umfasst ein Areal von 12,947.874 km2. Immerhin ist zu bemerken, dass das Areal Sibiriens mehr als doppelt so groß ist, als jenes des europäischen Russland,, Finnland und Polen inbegriffen. Sibirien übertrifft ferner seinem Umfang nach Australien und Ozeanien, ebenso auch Europa; es macht nahezu ein Viertel von Asien und weit ein Drittel von Afrika aus. Das gesamte Areal von Westsibirien wird mit 3,163.280 km2 angegeben und dasjenige von Ostsibirien mit 9,233.818 km2. Vom Polarkreis bis zu den zentralasiatischen Steppen sich erstreckend, umschließt das Land alle Klimazonen: Hier finden wir das ewige Polareis und die hohen Temperaturen Zentralasiens, die lebensfeindlichen Tundren und Eiswüsten mit fossilen Mammuts, welche mit ihrem Gebein die Küsten des Eismeeres übersät haben, und die gesegneten Hochweiden des Altaigebirges, welches zu den schönsten Landstrichen (nicht nur) Sibiriens gehört. Den nach Osten sich fortsetzenden Gebirgszug des Altai – genannt Sajan-Gebirge – durchflossen vom wilden Oka, durfte ich auf einer meiner langen Studienexpeditionen in seiner wilden Schönheit selbst erleben.

 

2. Der Schamane als Seelenführer und Krankenheiler
Altaier, Golden, Juraken

In der Mythologie der Völker Nordasiens ist die andere jenseitige Welt, ein umgekehrtes Bild der unseren, der irdischen Welt. Alles geht dort vor sich wie hier, nur “verkehrt”; ist es auf Erden Tag, ist es im Jenseits Nacht (deshalb finden die Totenfeiern immer erst nach Sonnenuntergang statt, denn erst jetzt wachen die Toten auf und beginnen “ihren” Tag).

Dem Sommer der Lebenden entspricht der Winter im Totenreich; ist Wild und Fisch rar in irdischen Gewässern, so ist Wild und Fisch im Jenseits in Überfülle vorhanden usw.

Die Beltiren geben dem Toten die Zügel und die Weinflasche in die linke Hand, denn sie entspricht der rechten Hand des Lebenden. So fließen auch die Flüsse in der Unterwelt zu ihren Quellen hinauf, denn alles, was auf Erden umgekehrt ist, hat bei den Toten die richtige Lage, deshalb kehrt man die Gegenstände um, die man zum Gebrauch dem Toten auf dem Grab opfert. (Vgl. Harva, „Religiöse Vorstellung“ und auch W. Schmidt „Ursprung X“).

Die Totengeografie der zentral- und nordsibirischen Völker ist sehr vielfältig und kompliziert, da sie immer wieder mit Vorstellungen vom Süden her kontaminiert wurde. Die Toten wenden sich entweder nach Norden oder nach Westen (Harva). Es gibt aber auch die Vorstellung, dass sich die Guten zum Himmel erheben und die Sünder in die Unterwelt steigen. (So zum Beispiel bei den Altai-Tataren s. Radlof). Hier finden wir schon deutlich den Einfluss der iranisch-manichäischen Glaubenswelt.

Die Jakuten glauben, dass nach dem Tod sowohl Gute als auch Böse zum Himmel aufsteigen, wo ihre Seelen (kut) die Gestalt von Vögeln annehmen. In ihren Vorstellungen setzen sich die „Vogelseelen“ auf die Äste des Weltenbaumes. Dieses mythische Bild treffen wir auch anderswo in Sibirien und der angrenzenden Mongolei. Nach jakutischem Glauben wohnen die bösen Geister, welche ja auch Seelen von Toten sind, unter der Erde; wir sehen hier eine zweifache Tradition.

So verlegen nach Sieroszewski bestimmte Jakuten-Clans das Totenreich „über den achten Himmel“, in den Norden, in eine Gegend, wo ewige Nacht herrscht, wo ohne Unterlass eisiger Wind weht, wo die bleiche Sonne des Nordens glänzt und der Mond sich nur von hinten zeigt, wo die Mädchen und die Jungen ewig jungfräulich bleiben,, während es in einem anderen Mythos unter der Erde eine andere Welt gibt, ganz gleich der unseren, in die man durch die Öffnung gelangen kann, welche die Unterirdischen für ihre Lüftung belassen haben (Sieroszewski „Du chamanisme“). Man trifft auch auf die Vorstellung, dass gewisse Privilegierte, deren Körper man verbrennt, mit dem Rauch zum Himmel auffliegen, wo sie eine der unseren völlig gleiche Existenz führen. Dies bestätigen die Schamanen der Burjaten, aber auch Tschuktschen und Korjaken.

Der Gedanke, dass das Feuer von den Himmlischen kommt, wird durch den Glauben bestätigt, dass die vom Blitz Getroffenen zum Himmel fliegen. Feuer verwandelt den Menschen zum „Geist“ – Feuer ist seiner Natur nach reinigend, läuternd, ist „Licht im mahnenden Aspekt“. In den Mythen aller Religionen geschehen Weltschöpfung und Weltuntergang in der Kraft des Feuers – als Heliophanie.

Der Schamane ist also „Meister des Feuers“ in der Funktion des Seelenführers. So kommt die Einäscherung einer Initiation gleich. Heroen und die eines gewaltsamen Todes Gestorbenen steigen zum Himmel auf. Tod durch Krankheit kann den Verstorbenen nur in die Unterwelt bringen, denn Krankheit kommt von bösen Geistern oder Ahnen.

Wird bei den Altaiern jemand krank, so sagen sie: „Jetzt wird er von den körmös (den Toten) aufgefressen – und wer gestorben ist, ist „von den körmös aufgefressen worden“ (Harva).

Die Furcht vor den Toten hat ihren Grund darin, dass jeder Verstorbene sich gegen seine neue „Seinsweise“ wehrt, er will leben und kehrt zu den Seinen zurück. Das stört natürlich das geistige Gleichgewicht des Stammes, der Gemeinschaft. Da der eben Verstorbene in die Welt der Abgeschiedenen noch nicht eingegliedert ist, sucht er seine Angehörigen, seine Freunde, seine Herden mitzunehmen; er möchte das Leben, welches jäh unterbrochen wurde, mit aller Gewalt fortsetzen. Man fürchtet weniger die Bösartigkeit, als die Unkenntnis des Verstorbenen. Im Bardo-Thödol, dem Tibetischen Totenbuch, werden all diese Gedankengänge weiter ausgebaut und metaphysisch überlagert. Statt den Toten auf seiner Jenseitsreise zu begleiten (wie der sibirische oder indonesische Schamane), erinnert ihn der Lama auf allen Stationen durch die Bardowelt an seinen eben jetzt erlebten Zustand.

Aus der Tatsache, dass diese Seelen begleitende Reise erst bei der Reinigungszeremonie beginnt und nicht unmittelbar nach dem Tod, darf man entnehmen, dass die Seele des Toten noch drei, sieben und vierzig Tage auf dem Leichenacker bleibt, sich erst dann zur Unterwelt wendet (vgl. Bardo-Thödol).

Bei den Altaiern, Golden, Juraken führt der Schamane die Toten am Ende des Totenmahles in das Jenseits, während er bei anderen (Tungusen) nur dann dafür gerufen wird, wenn der Tote nach Ablauf der üblichen Frist noch weiter die Stätten der Lebenden heimsucht.

Radlof beschreibt zum Beispiel eine Totenzeremonie, bei der die Seele einer vor vierzig Tagen verstorbenen Frau in die Unterwelt geführt werden soll. Hören wir seinen Bericht:

„Die Zeremonie findet am Abend statt. Der Schamane beginnt mit dem Umkreisen der Jurte, er schlägt mächtig die Trommel, dann betritt er das Innere des Zeltes, nähert sich dem Feuer und ruft die Abgeschiedene an. Auf einmal ändert sich die Stimme des Schamanen und er beginnt mit gellender Kehlstimme zu sprechen, denn in Wirklichkeit ist es die Tote, die jetzt spricht. Sie klagt, daß sie den Weg nicht weiß, daß sie Angst hat, sich von den Ihrigen zu entfernen usw. Zuletzt ist sie aber damit einverstanden, von dem Schamanen fortgeführt zu werden und die beiden machen sich in das unterirdische Reich auf. Bei der Ankunft dort verweigern die Seelen der Toten dem Schamanen die Aufnahme der neuen Seele. Bitten bleiben ohne Erfolg, man bringt den Toten Wodka-Opfer dar. Die Zeremonie belebt sich und wird grotesk, denn die Seelen der Toten beginnen – durch die Stimme des Schamanen – zu streiten und schreien alle miteinander. Schließlich lassen sie sich herbei, die Tote aufzunehmen. Der zweite Teil des Rituals stellt die Rückreise dar. Der Schamane tanzt und schreit, bis er bewußtlos zu Boden fällt“. (Radlof „Aus Sibirien II“).

Bei den Golden finden wir zwei Totenzeremonien, das „nimgan“, welches sieben Tage oder noch länger (bis zwei Monate) nach dem Tod stattfindet und das „kazatauri“, die große Zeremonie einige Zeit nach der Ersten, die mit dem Fortführen der Seele in die Unterwelt endet.

Bei der „nimgan-Zeremonie“ kommt der Schamane mit seiner Trommel in das Haus des Toten, er sucht die Seele, fängt sie ein und bannt sie in eine Art Kissen (fanja). Darauf folgt das Gelage, an dem alle Freunde und Verwandte des im Kissen anwesenden Toten teilnehmen. Der Schamane bringt dem fanja ein Aquavit-Opfer dar.

Das „kazatauri“ beginnt ebenso:

Der Schamane legt seine Tracht an, ergreift die Trommel und sucht rund um die Jurte die Seele. Er tanzt dabei unablässig und erzählt von den Schwierigkeiten und Gefahren auf der Unterweltreise. Schließlich fängt er die Seele ein und bringt sie zurück ins Haus, wo er sie in dem Kissen (fanja) tanzen lässt. Das Festgelage geht bis weit nach Mitternacht. Die Reste der Mahlzeit wirft der Schamane ins Feuer. Die Frauen tragen ein Bett in die Jurte, der Schamane legt das fanja auf das Bett, bedeckt es mit einer Decke und sagt dem Toten, dass er schlafen solle. Er selbst streckt sich in der Jurte aus und schläft. Am nächsten Tag wird der Tote vom Schamanen mit seiner Trommel aufgeweckt. Ein neues Gelage folgt und wenn es Nacht geworden ist – die Zeremonie dauert oft Tage – legt der Schamane das fanja wieder aufs Bett und bedeckt es mit einer Decke. An einem Morgen beginnt der Schamane mit einem Gesang und rät dem Toten, gut zu essen aber wenig zu trinken, denn der Weg in die Unterwelt sei für Betrunkene sehr schwierig.

Bei Sonnenuntergang trifft man die Vorbereitungen für die Abreise (denn jetzt beginnt der Tag für die Wesen der jenseitigen Welt). Der Schamane singt, tanzt und bestreicht sein Gesicht mit Ruß. Er ruft die Hilfsgeister und bittet sie, den Toten ins Jenseits zu führen.

Ein wichtiges Anliegen der gegenwärtigen sibirischen Schamanen ist das, was man „moralische Aufrüstung“ nennen könnte. Durch jahrzehntelanges Ferngehaltensein von religiösen Werten durch Verfolgung, Folter und Mord, hat ein Verfall der Moral eingesetzt, nicht nur der in ganz Russland weitverbreitete Alkoholmissbrauch fördert seelische und physische Gewalt. In Reden, die man am besten mit Predigten vergleichen könnte, versuchen einige Schamanen, in ihren Landsleuten Verständnis für moralisches Verhalten, Verantwortung und Ethik zu wecken.

Auch die Lamas der buddhistischen Kirche versuchen, wie ich mich selbst in Burjatien überzeugen konnte, in einem Miteinander zusammen mit den Schamanen ihre Landsleute zu mehr Mitgefühl, Erbarmen, Verantwortung für die gesamte Schöpfung und Toleranz aufzurufen. Ihr beiderseitiges Bemühen möge den unendlichen Weiten Sibiriens wieder Frieden und Hoffnung bringen.

Literaturverzeichnis:


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For quotation purposes:
Penz Franz: Schamanismus in Sibirien - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/4-5/4-5_penz.htm

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