Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Januar 2010 |
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Sektion 5.5. |
Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität Sektionsleiterin | Section Chair: Michaela Bürger-Koftis (Genua) |
Mehrsprachige Identitäten. Vom "schreiben zwischen den kulturen"
Hannes Schweiger (Wien) [BIO]
Email: hannes_schweiger@hotmail.com
Der Wechsel in eine neue Sprache kann der Beginn eines neuen Lebens sein. Für die Mutter der Ich-Erzählerin in Sohn Youngs Text „Leimkind“ bedeutet die Emigration und das damit verbundene Erlernen einer neuen Sprache eine Befreiung aus der früheren Sprachlosigkeit und dem Schweigen in ihrer Muttersprache.
Ein fremdes Land, eine fremde Sprache habe sie gebraucht, um sprechen zu lernen. Durch die neue Sprache lerne sie auch ihre alte, schicksalhaft zugewiesene, versäumte, die sie sich nie getraut habe zu sprechen. Sie habe nicht gewusst, dass es so viele Wörter zu sprechen gebe auf dieser Welt. Sogar die Worte, die bei ihr so viele Narben hinterlassen hatten, würden ihr in der neuen Sprache nicht wehtun, alles klinge so leicht und lieblich, dass sie gar nicht aufhören könne zu sprechen, zu hören, zu sehen.(1)
Die neue Sprache verändert den Blick auf die Welt und auch auf die Muttersprache, die sie vor dem Sprachwechsel nicht zu verwenden wusste. Die Wörter der neuen Sprache tragen nicht jenen Ballast mit sich, der sich in der Muttersprache im Laufe des eigenen Sprachlebens angesammelt hat. Sie können viel freier und unbeschwerter eingesetzt werden. Durch den Wechsel in eine neue Sprache kann viel kreatives Potential freigesetzt werden und die Wörter können wieder wie von einem Kind verwendet werden: frei, unbelastet, spielerisch. Und so heißt es über die Mutter in „Leimkind“ nach dem Sprachwechsel: „Sie lebe wahrhaftig, fühle sich wie ein Kind.“(2)
Damit ist eine mögliche Konsequenz von Migration und Sprachwechsel beschrieben: die Wiedererlangung kindlicher Freiheit im Umgang mit Sprache und die Herausbildung einer mehrsprachigen Identität, die die neuen kreativen Freiräume zu nutzen versteht. Ist für Literatur von AutorInnen, die nicht in ihrer Muttersprache schreiben, eine solche spielerische Kreativität im Umgang mit Sprache kennzeichnend? Welche Folgen hat der Wechsel in eine neue Sprache für den literarischen Produktionsprozess? Welche Freiräume eröffnen sich, welche Hindernisse entstehen aber auch? Diese Fragen im Vordergrund stehen, wenn ich mich im Folgenden exemplarisch den Texten der PreisträgerInnen des seit 1997 vergebenen Literaturpreises „schreiben zwischen den kulturen“ widme, der eine Art Plattform und zugleich Sprungbrett für SchriftstellerInnen darstellt, die einen Sprachwechsel hinter sich haben und auf Deutsch als ihrer Fremdsprache schreiben. Einerseits beziehe ich mich dabei auf die literarischen Texte und die darin auffindbaren Spuren von Mehrsprachigkeit, andererseits werden in erster Linie die Selbstaussagen der AutorInnen zum Entstehungsprozess ihrer Texte und zur Bedeutung der neuen Sprache für ihren Schreibprozess diskutiert.
Der Literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ wird seit 1997 auf Initiative von Christa Stippinger in mittlerweile insgesamt acht Textkategorien vergeben und hat das Ziel, „neue literarische talente in österreich zu entdecken“. Er soll „vor allem autorInnen, die nach österreich zugewandert sind, oder einer ethnischen minderheit angehören ermutigen, sich mit ihrer lebenssituation literarisch auseinander zu setzen.“ Damit ist bereits in der Ausschreibung angelegt, dass die Texte eine starke autobiographische Komponente haben. Laut Ausschreibung müssen sich die Texte zudem im weitesten Sinn mit den Themen „fremdsein, anderssein, integration, leben zwischen den kulturen“ auseinandersetzen.(3) Drei Preise für Prosatexte werden an AutorInnen mit Migrationshintergrund vergeben, seit 1998 einer an AutorInnen mit Deutsch als Erstsprache. Daneben stehen noch ein Lyrikpreis, ein Preis für AutorInnen bis zur Vollendung des 20. Lebensjahres, einer für Teams oder Schulklassen und seit 2007 ein Preis für DramatikerInnen zur Vergabe. Insgesamt beläuft sich das Preisgeld auf € 13000.-, womit „schreiben zwischen den kulturen“ in finanzieller Hinsicht (und auch was die Aufmerksamkeit seitens des literarischen und literaturwissenschaftlichen Betriebs entspricht) zu den kleinen Literaturpreisen im deutschsprachigen Raum zählt.
Wichtiger als das Preisgeld ist allerdings die Veröffentlichung der ausgezeichneten Texte in einer Anthologie – für viele der bisherigen PreisträgerInnen die erste Publikationsmöglichkeit. Wenngleich der Schwerpunkt eindeutig auf AutorInnen mit Migrationshintergrund liegt, werden auch Texte, die von AutorInnen mit Deutsch als Muttersprache und von Angehörigen ethnischer Minderheiten in Österreich stammen, ausgezeichnet. In der Anthologie best of 10, die zum 10-jährigen Jubiläum eine persönliche Auswahl von PreisträgerInnentexten durch die Initiatorin und Herausgeberin Christa Stippinger enthält, ist etwa die Prosaarbeit „marionetten sind wir…“ von Simone Schönett zu finden, die sich mit der Geschichte und derzeitigen Situation der Jenischen auseinandersetzt. Xaver Bayers Text „Ankunft“ schildert die ersten Eindrücke eines Fremden in einer für ihn unbekannten Stadt, der Autor selbst ist Wien geboren und schreibt in seiner Muttersprache Deutsch. Damit liegt der Fokus im Unterschied etwa zum Adelbert von Chamisso-Preis nicht ausschließlich auf der Herkunft der AutorInnen aus einem nicht-deutschsprachigen Land. Die Initiatorin Christa Stippinger leistet damit auch einen Beitrag dazu, dass die Grenze zwischen AutorInnen mit und ohne Migrationshintergrund, die eine willkürliche und diskriminierende ist, etwas durchlässiger wird. Dies erreicht sie auch durch die Besetzung der Jury, die jedes Jahr wechselt, sich aber immer aus zugewanderten und nichtzugewanderten AutorInnen und KritikerInnen zusammensetzt. Unter den JurorInnen waren so prominente und etablierte SchriftstellerInnen wie Barbara Frischmuth, Elfriede Gerstl, Josef Haslinger, Radek Knapp, Robert Schindel, Vladimir Vertlib oder Feridun Zaimoglu. Zudem werden auch gesellschaftspolitische Ziele verfolgt: Abgesehen von der Förderung der Kultur von Zugewanderten und Volksgruppenangehörigen in Österreich soll „schreiben zwischen den kulturen“ als „Denkanstoß zu mehr Gemeinsamkeit durch Offenheit, zu mehr Anteilnahme durch Auseinandersetzung und nicht zuletzt als ein Beitrag zur Vielfalt der Kultur Österreichs“ fungieren.(4) Dass das Ziel der Förderung noch unbekannter AutorInnen zum Teil erreicht wurde, zeigt sich am deutlichsten an der Karriere Dimitré Dinevs, der mit dem Roman Engelszungen (2003) und der Erzählsammlung Ein Licht über dem Kopf (2005) zu einem von Kritik und Publikum allseits gelobten und bejubelten Autor wurde und in weiterer Folge Auftragswerke für das Wiener Burgtheater, das Volkstheater oder die Salzburger Festspiele erarbeitete.
Im Vorwort zur Anthologie passwort, die die Texte der PreisträgerInnen 2007 enthält, hebt die Jurorin Seher Çakir Mehrsprachigkeit als einen wesentlichen Grund hervor, weshalb die Literatur von AutorInnen mit Migrationshintergrund eine „Bereicherung“ darstellt:
Durch unsere Mehrsprachigkeit, durch unsere Mehr-Erfahrung, dadurch, dass wir ‚mehr Kulturräume’ durch Er-fahrung kennen, bringen wir durch die Art, wie wir schreiben und erzählen, neue Farben, neue Bilder in die Sprache und ihr Verständnis. Mehrsprachigkeit ist ein unermesslicher Reichtum!(5)
Die Rede von der Literatur zugewanderter AutorInnen als Bereicherung ist insofern nicht unproblematisch, als sie den Schluss nahe legen könnte, diese Literatur als Anhang, als Zusatz zur Literatur hier Geborener und mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsener AutorInnen zu betrachten. Damit würden Grenzen zwischen der ‚richtigen’ deutschsprachigen Literatur und der hinzugekommen Literatur von Zugewanderten aufrechterhalten und verfestigt. Diese Grenze ist für AutorInnen oft nur schwer zu überschreiten. AutorInnen mit Migrationshintergrund stellen auf dem literarischen Markt und in der Wahrnehmung vieler KritikerInnen eine eigene Kategorie dar. Dies kann Vorteile bringen, etwa in Zeiten, in denen die mediale Aufmerksamkeit auf das Thema Migration und auf die Bevölkerkungsgruppe der MigrantInnen gerichtet ist und auch im Bereich der Literatur die Texte, die sich mit Migration, mit Exilerfahrung oder mit multikultureller Gesellschaft auseinandersetzen eine Konjunktur erleben und mit einem hohen symbolischen Wert gehandelt werden. Andererseits kann die Kategorisierung „Migrationsliteratur“ auch zu einem erheblichen Nachteil werden, wenn beispielsweise die Texte dieser AutorInnen nur noch im Hinblick auf das Thema Migration gelesen und andere Aspekte und Facetten übersehen oder Texte mit anderen Themen und Inhalten ignoriert werden. Zudem geraten AutorInnen mit Migrationshintergrund, die in ihren Texten MigrantInnen als Figuren erscheinen lassen oder sich schriftstellerisch mit dem Thema Migration auseinandersetzen immer sofort in den Verdacht des Autobiographischen – eine unzulässige Verkürzung, der Texte anderer AutorInnen nicht so leicht unterliegen.
Seher Çakir nennt daher die Bezeichnung „Migrantenliteratur“, die mittlerweile in der wissenschaftlichen Literatur unter anderem mit dem Terminus Migrationsliteratur, Literatur der Migration oder mitunter auch interkulturelle Literatur ersetzt wurde, „ausschließend, diskriminierend und ausgrenzend.“ Sie fordert zurecht, dass zugewanderte AutorInnen als „ein Teil der Literaturlandschaft allgemein“ anerkannt werden. „Denn wir sind ein Teil der Geschichte des Landes, in dem wir leben, und ein aktiver Teil seiner Literaturlandschaft“.(6) AutorInnen mit Migrationshintergrund schreiben nicht nur über das Thema Migration, über das Fremdsein, über das Leben zwischen den Kulturen. Es stellt sich aber die Frage, ob ihre Mehrsprachigkeit ihre Texte vielleicht dennoch von jenen unterscheidet, die von AutorInnen stammen, die in Deutsch als ihrer Erstsprache schreiben.
Die Texte in den Anthologien zum Literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ thematisieren zwar immer wieder Mehrsprachigkeit und verarbeiten sie auf inhaltlicher Ebene, diese wird jedoch nur in seltenen Fällen in formaler Hinsicht produktiv und hinterlässt Spuren in den Texten. Das Leben und Schreiben zwischen den Kulturen und ihre Konsequenzen für die kulturelle wie sprachliche Identität der Figuren wird in den meisten Fällen erzählerisch verarbeitet, wie etwa in den Texten von Dimitre Dinev, Güler Alkan oder Grace M. Latigo, um einige Beispiele aus der Zusammensstellung best of 10 zu nennen.(7) Alma Hadzibeganovic, Anna Kim und Alxandra Moskovchuk stellen unter den PreisträgerInnen von „schreiben zwischen den kulturen“ mit ihren sprachlich hoch reflektierten und selbstreflexiven Texten eher Ausnahmen dar. Für sie ist ein spielerischer und mitunter an Texte der österreichischen Avantgarde im Stil und Gefolge der Wiener Gruppe erinnernde Umgang mit Sprache als Material charakteristisch. Durch das Spiel mit Sprache entsteht, wie Alexandra Moskovchuk meint, nicht nur Freiheit, sondern auch „eine gewisse Sicherheit“. „Selbst wenn ich Fehler mache, sind das meist bewusste Fehler.“(8) Vor allem Hadzibeganovic verschränkt in ihren Texten mehrere Sprachen und Sprachebenen miteinander, setzt das kreative Potential der Verbindung mehrerer Sprachen frei und öffnet damit neue Sprach- und Denkräume. „sie schafft ungeniert neologismen, montiert und demontiert, verzerrt und stellt um, zerstückelt und stückelt an“(9) und überträgt auch das eine oder andere Mal Redewendungen aus ihrer Muttersprache ins Deutsche, über die deutschsprachige LeserInnen stolpern und dadurch auf Interferenzen zwischen den Sprachen aufmerksam werden – wenngleich sie im Falle der fehlenden Kompetenz in der Muttersprache der Autorin die Herkunft dieses Stolpersteins kaum näher bestimmen können. Dass sich Mehrsprachigkeit nicht in einem offensichtlichen Sinn auf die Präsenz fremdsprachiger Wörter oder Wendungen beschränken muss, zeigt Sandra Vlasta an Anna Kims 2004 veröffentlichtem Text Die Bilderspur, der – obwohl durchgehend auf Deutsch geschrieben – Mehrsprachigkeit nicht nur thematisiert, sondern auch sprachlich und formal verarbeitet.(10)
Auch wenn sich Mehrsprachigkeit in den Texten der PreisträgerInnen von „schreiben zwischen den kulturen“ nur selten auf formaler Ebene niederschlägt, spielt sie für den Produktionsprozess und für das Selbstverständnis der AutorInnen sehr wohl eine wesentliche Rolle. Die Anthologien zum Literaturpreis bieten einen Blick in die Werkstatt der AutorInnen, da neben den Texten auch Interviews mit ihnen veröffentlicht werden, in denen sie unter anderem Auskunft zum Schreibprozess und zur Bedeutung des Sprachwechsels für ihre Produktionsweisen geben. Häufig ist dabei vom kreativen Potential die Rede, das durch den Wechsel in eine neue Sprache freigesetzt wird. In erster Linie wird die erhöhte Sprachaufmerksamkeit genannt, die das Schreiben in einer fremden Sprache mit sich bringt. „Das Schreiben in einer anderen Sprache ist schwieriger. Du suchst oft sehr lange nach dem richtigen Wort“, meint beispielsweise Dimitré Dinev in einem Gespräch mit Christa Stippinger.(11) Die Worte werden weniger selbstverständlich eingesetzt und durch die intensive Suche nach der Wortbedeutung kommen neue Sinnebenen zum Vorschein, die von einem nicht durch eine andere Sprache gebrochenen Blick übersehen worden wären. In der Fremdsprache hat man einen Heftklammerentferner zur Hand, wie Yoko Tawada dies mit einem häufig zitierten Bild fasst:
In der Muttersprache sind die Worte den Menschen angeheftet, so daß man selten spielerische Freude an der Sprache empfinden kann. Dort klammern sich die Gedanken so fest an die Worte, daß weder die ersteren noch die letzteren frei fliegen können. In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner: Er entfernt alles, was sich aneinanderheftet und sich festklammert.(12)
Es entsteht eine Distanz zwischen der Autorin und den Wörtern, die es ermöglicht, Sprache freier zu verwenden, Wörter zu drehen und zu wenden und ihnen ungewohnte Bedeutungen zu verleihen. Kaum eine Autorin im deutschsprachigen Raum nutzt diese Freiheit auch in formaler Hinsicht in einem solchen Maß wie Yoko Tawada in ihren vielsprachigen Texten.
Vladimir Vertlib, der 2004 als Juror für „schreiben zwischen den kulturen“ fungierte, betont in seinen Poetikvorlesungen ebenfalls die Distanz zu den Wörtern, die das Schreiben in einer fremden Sprache mit sich bringt. Die Fähigkeit zur Distanz ist aber ein „Signifikum von Literatur überhaupt“ und eine Gemeinsamkeit von AutorInnen unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Muttersprache.(13) Schreiben in der Fremdsprache ist in besonderem Maße mit sprachlicher Verunsicherung verbunden, die sowohl als produktiv als auch als bedrohlich erlebt werden kann. Vertlib sieht die Tatsache, dass er sich seiner Sprache „nie sicher sein kann,“ dass er Wörter und Formulierungen hinterfragt, „die andere mit intuitiver Selbstverständlichkeit handhaben“, als Vorteil an, weil ihm dies erlaubt, kritische Distanz zur Sprache und seinen eigenen Texten zu halten.(14) Er weist aber auch darauf hin, dass Mehrsprachigkeit „nicht nur Gewinn, sondern auch Reduktion und Verlust“ bedeutet, „weil es – wenn man sich Sprachen als Kreise vorstellt – neben einem Überlappungsbereich, in dem eine tatsächliche Sprachkompetenz in zwei oder mehreren Sprachen besteht, immer Außenbereiche gibt, in denen man monoglott oder fast monoglott bleibt.“ Dieser monoglotte Außenbereich kann bestimmte Themenfelder betreffen, in denen das Ausdrucksspektrum ein eingeschränktes ist. Partielle Einsprachigkeit zwingt in diesen Bereichen zur „Selbstbeschränkung“ oder zur Übersetzung, die aber immer nur eine Annäherung sein kann, wie gerade mehrsprachige AutorInnen häufig erfahren, wenn sie zwischen ihren Sprachen wechseln.(15) Der Wechsel in eine fremde Sprache erweitert das Feld der eigenen Möglichkeiten, führt aber nicht zu Grenzenlosigkeit. „Die Sprache setzt uns Grenzen. Der Sprachwechsel setzt uns ebenfalls Grenzen. Die große Herausforderung ist, diese erst einmal erreichen zu können, und wenn wir sie überschreiten, stoßen wir auf neue.“(16) Das Entscheidende daran ist aus meiner Sicht, dass Grenzen zwar nicht aufgehoben, aber doch teilweise verschoben und in Frage gestellt werden. Sie werden sichtbarer und bewusster und können daher auch eher überschritten, wenngleich nicht zum Verschwinden gebracht werden. Die Literatur von mehrsprachigen AutorInnen erzeugt daher in mehrfacher Hinsicht Uneindeutigkeit: Sie stellt die Selbstverständlichkeiten der eigenen Muttersprache in Frage. Sie zieht die nationalkulturell verankerten Grenzen zwischen literarischen Feldern in Zweifel und eröffnet ein internationales Feld der Literatur. Und sie verweist auf die Ambivalenz und den Konstruktionscharakter jeder Form von sprachlicher bzw. kultureller Identität.
Dimitré Dinev beschreibt im Interview mit Christa Stippinger das Verhältnis zur fremden Sprache nicht wie Vertlib in räumlichen, sondern in kalorischen Kategorien:
Wenn ich deutsch schreibe, fühle ich mich ganz anders. Es ist, als hätte ich einen Eiszapfen in der Hand, und den muß ich solange halten, bis er zu schmelzen beginnt. Und jeder kleine Tropfen ist ein Wort, das geboren wird. Die Worte kommen zwar nicht fließend, aber dafür kennt jedes Wort die Wärme meines Körpers. Und wenn meine Hände durch diese Berührung kalt werden, laufe ich wieder zurück in den Garten und bleibe solange, bis ich wieder Lust auf die Winterlandschaft bekomme. Aber da gibt es noch einen anderen Trick. Ich laufe nicht weg, sondern wärme mir meine Hände und mache weiter. Und wer weiß, vielleicht bricht auch hier eines Tages das Eis. Dann werde ich sehr glücklich sein. Ich werde mich fühlen wie Adam, der von einem Paradies ins andere wechseln kann.(17)
Die fremde Sprache ist nicht wie die Muttersprache mit Gefühlen und Erinnerungen verbunden und daher kalt wie ein Eiszapfen. Sie kommt nicht aus einem selbst heraus und sie fließt nicht mit der Selbstverständlichkeit, mit der dies die Muttersprache tut. Der fremden Sprache muss erst durch die Verbindung mit dem eigenen Körper Leben eingehaucht werden, sie bleibt dann nicht kalt, sondern wird mit den eigenen Gefühlen und Gedanken erwärmt und kann dann fließen, wenngleich nur langsam, nur tropfenweise. Aus der Verbindung mit der fremden Sprache entsteht, so Dinevs Bild, etwas Neues, es werden Wörter geboren. Doch das bleibt nicht ohne Folgen für die Identität des Autors, der in der Fremdsprache zu erkalten droht. Daher ist auch der Wechsel in die vertraute Umgebung der Muttersprache wichtig, kann er doch dort die Hände wieder wärmen und dann umso besser die Eiszapfen der fremden Sprache zum Schmelzen bringen. Dimitré Dinev beschreibt dergestalt die Freuden und Leiden des Lebens in der fremden Sprache. Für ihn ist aber klar, dass er in erster Linie auf Deutsch schreibt, da dies die Sprache seiner Lebenswelt in Österreich ist, die Sprache, die ihn mit den Menschen hier verbindet, die Sprache, in der er lebt und liebt. Die fremde Sprache ist für ihn zu einer neuen Heimat geworden, wie er in seinem Essay „In der Fremde schreiben“ betont und dabei zugleich deutlich macht, wie beschwerlich, gefährlich und anstrengend der Weg in diese neue Heimat ist, vor allem aufgrund der herrschenden Gesetze, die die Grenzen dicht halten bzw. noch dichter machen, als sie ohnehin schon sind.(18)
Anna Kim betont so wie viele andere AutorInnen mit Migrationshintergrund zurecht, dass sie eine deutschsprachige Autorin ist und nicht in die Nische der Migrationsliteratur gestellt werden will. Die deutsche Sprache ist für ihre Identität konstituierend, nicht nur als Autorin. Die Sprache, in der sie denkt, schreibt und lebt, ist ihre Welt: „die zunge mein tragbarer himmel“, formuliert sie daher im Gedicht „exile“.(19) Ihre Identität ist nicht „zwiegespalten, sie ist eindeutig. Eindeutig hat sie sich im Deutschsprachigen verankert“.(20) In einem Interview mit Christa Stippinger aus dem Jahr 2000 schildert Anna Kim, wie sich als Kind durch den Wechsel vom Koreanischen ins Deutsche eine Art „Hybridsprache“ entwickelte, „die aber nicht nur über eigene Regeln verfügte, sondern auch Inhaltliches reglementiert hat.“(21) Sie verstand es laut ihren eigenen Schilderungen die beiden Sprachsphären mit großer Selbstverständlichkeit miteinander zu verbinden und abwechselnd in ihnen zu leben: in der Familie in der koreanischen Sphäre, in der Schule in der deutschsprachigen. Im Laufe ihrer sprachlichen Entwicklung wurde Deutsch nicht nur zu der Sprache, die ihre Identität konstituiert, sondern auch zu ihrer Schreibsprache.
In ihrem Text „irritationen“(22) führt sie unterschiedliche Versuche der Identitätsfindung vor, wobei deutlich wird, dass die Protagonistin erst durch ihre Umwelt immer wieder auf ihre vermeintliche Herkunft verwiesen wird. Die eigene Fremdheit ist eine von außen auf die Protagonistin projizierte. Nicht sie selbst sieht sich als Gespaltene, die zwischen den Kulturen steht oder gar als Fremde in einer deutschsprachigen Umgebung, sondern die Mitmenschen sind es, die sie zur Fremden machen, die Grenzen zwischen ihr und den vermeintlich Einheimischen ziehen und sie auf ihre angeblichen Wurzeln aufmerksam machen. Festgemacht wird ihre Fremdheit an ihrem Äußeren, das jedoch für sie gerade nicht ihre Identität konstituiert. Gespalten wird ihre Identität somit „nur selten von der Sprache, selten vom Scheitern einer Sprache oder ihrer Übersetzung, immer von jenen Sprachbetroffenen, die mutwillig Unterscheidungen treffend, betroffen machen“.(23) In dem Interview mit Christa Stippinger meint Anna Kim, viele Menschen verständen nicht, dass „sich in mir trotz meiner asiatischen Außenhaut deutschsprachige Gedanken verstecken“.(24) Das Schreiben ermöglicht es, unabhängig von ihrer Außenhaut in der deutschen Sprache aufzutreten und ihre in der Sprache gestiftete Identität zu leben. Ihr Schreiben ist wie das vieler AutorInnen mit Migrationshintergrund eine Bewegung auf einem Territorium, das nach wie vor im literarischen Betrieb entlang nationaler Grenzen konturiert ist. Wer eine Sprache als Muttersprache erlernt, glaubt über diese Sprache mit mehr Recht verfügen zu können, als jemand, der oder die sie sich als Fremdsprache aneignet. Daher hatte Anna Kim „das Gefühl, unerlaubterweise in fremdes Gebiet einzudringen.“(25) Das Recht, dieses Territorium zu betreten, ist kein selbstverständliches, sondern eines das erst erkämpft werden muss.
Als „schonungslose Rebellin des Wortes“ will sich Alma Hadzibeganovic verstanden wissen und pocht auf ihr Recht, sich die fremde Sprache anzueignen, sie dabei zu verändern und sich über Regeln und Konventionen hinwegzusetzen.(26) Wenn schon die Gesetze das Leben von MigrantInnen erschweren und ihre Existenz mitunter bedrohen, so können sie zumindest in der Sprache außer Kraft gesetzt werden. Sprachliche Kreativität wird damit zu einem Akt des Widerstands gegen die herrschende Sprachgemeinschaft, die im Fall der deutschsprachigen Länder auch über die politische und rechtliche Hegemonie verfügt. „Die Sprache entwickelt sich und WIR VERÄNDERN SIE MIT. Schluß mit den schmierigen Aposteln der (sprachlichen) Starrheit!“. Sie fordert eine sofortige „Demokratisierung der Sprache! Sie können uns das Wahlrecht verweigern, aber das Grundrecht auf Sprache, die einzige Waffe, die wir haben, […] NICHT!“(27)
Auf das emanzipatorische Potential sprachlicher Grenzüberschreitungen macht auch Monik Schmitz-Emans in ihren Ausführungen zu literarischer Mehrsprachigkeit aufmerksam. Sie schreibt vom „Reich der Polyglossie“ als einem „Reich der Ambivalenzen“, da man nach jeder überschrittenen Grenze auf eine neue stößt, und Grenzen als „schmerzlich“, aber auch als „Stimulation zur Transgression, zur Horizonterweiterung und zur Eroberung von Neu-Land“ verstanden werden können: „Gerade Überschreitungen von Sprachgrenzen signalisieren ein Sich-nicht-abfinden-wollen damit, daß man sich redend und handelnd auf abgestecktem Gelände befindet.“(28) AutorInnen, die nicht in ihrer Muttersprache schreiben, haben sich mit den Grenzen der einen Sprache nicht abgefunden und versuchen sich fortwährend an sprachlichen Transgressionen, die in einem politischen Sinn auch als Emanzipations- und Selbstbehauptungsversuche gelesen werden können. Ihr Sprachwechsel ist häufig kein freiwilliger, sondern ist notwendiges Resultat ihrer Migration in eine neues Land, die unterschiedliche Gründe haben kann und nicht selten aufgrund von Krieg, Verfolgung oder existentieller Bedrohung erfolgt. Wenn es gelingt, sprachliche Grenzen zu verschieben oder zu überschreiten, „hat man möglicherweise einen Bruchteil von Freiheit geschmeckt.“(29) Und es wurde dabei ein kreatives Potential freigesetzt, das an die Möglichkeit erinnert, auch politische Grenzen überschreiten zu können.
Fußnoten:
5.5. Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität
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