TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 5.6. Vom kreativen Denken zum kreativen Handeln - Kreativitätsprobleme in der Sprache, Ausbildung und Erziehungionstitel
Sektionsleiterin | Section Chair: Tamara Janssen-Fesenko (Bad Zwischenahn, Deutschland)

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Übersetzerische Kreativität oder Willkür?

Alina  Fesenko (Universität Bielefeld,  Deutschland)

Email: tamaraalina@hotmail.com

 

Kreativität als Prozess, Kreativität als menschlicher Zustand…. Dieser Untersuchungsbereich lässt für die  Forscher bis jetzt mehr Fragen, als 100%-ig eindeutige Antworten offen. Ist Kreativität  ein Teil des menschlichen Lebens, menschlichen Handelns, bestimmt es das Leben  oder ist es dieses Leben selbst? Eins scheint unbestritten zu sein: ohne Kreativität wäre unser Leben schwarz-weiß.  Kreativität findet in allen Tätigkeits- und Handelnsbereichen ihren Ausdruck,  in erster Linie aber in denen, die mit der künstlerischen/schöpferischen  Produktion  verbunden sind (und darunter ist bestimmt auch die Sprachproduktion zu betrachten).   Als Basis für die Sprachproduktion dient das ganze kognitiv-mentale System des Menschen, das durch seine sozi-kulturelle Umwelt kontextuell bedingt ist. Das Übersetzen ist aus dieser Sicht ein „Bi“-Prozess, das heißt seine Realisierung basiert auf der Widerspiegelung  des verbal-mentalen Systems des IT-Autors  in der  verbal-mentalen Sphäre  des Übersetzers; diese Widerspiegelung  soll einen  schöpferisch-treuen Charakter haben, wobei die übersetzerische Kreativität  eine führende Rolle spielen soll.

Es ist kaum zu bestreiten, dass in Übersetzungsvarianten der Psychotyp des Übersetzers seinen Ausdruck findet, wodurch eigentlich die übersetzerischen Strategien und Problemlösungen, die vom Übersetzer getroffen werden,  bestimmt sind. Ist ihre  Mannigfaltigkeit immer als Kreativitätsausdruck des Übersetzers und Realisierung seiner Kompetenzen oder  auch als Widerspiegelung seiner verbalen Willkür  zu betrachten?

Die Antwort auf diese (und andere) Fragen können wir bekommen, nachdem wir ein mental-verbales Porträt des Übersetzers  als einer der Hauptpersonen des interkulturellen Kommunikationsprozesses  „gemalt“ haben. Dass der Übersetzer/Translator eine der Hauptpersonen im inter- oder transkulturellen Kommunikationsprozess ist, scheint unbestritten zu sein, weil er eigentlich die Korrektheit und Stabilität dieser Kommunikation gewährleistet und den Kontakt zwischen zwei unterschiedlichen lingual-kulturellen Systemen vermittelt.  Aus Sicht seiner funktionalen Relevanz ist es sehr wichtig, das lingual-kulturelle und kognitive Porträt des Übersetzers zu erforschen. Welche Farben dominieren in diesem Porträt?  Unserem Erachten nach soll es ein  Mosaikbild mit beweglicher Konfiguration sein, das seine Eigenschaften und fachlichen Kompetenzen widerspiegelt.

Über die übersetzerische Kompetenz wird in vielen modernen Konzeptionen diskutiert. Traditionell scheint die Konzeption von W.N. Komissarov zu sein, laut deren die Übersetzung als eine Intelligenztätigkeit zu verstehen ist, die mit unterschiedlichen Zielsetzungen bei unterschiedlichen Kontextbedingungen und auf verschiedene Weise realisiert werden kann (Komissarov 2002: 323 ff). In der Interpretation von L.K. Latyschev ist die übersetzerische Kompetenz als Gesamtheit von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten des Übersetzers zu verstehen, die es ihm ermöglicht, seine fachlichen Aufgaben optimal zu lösen (Latyschev 2000: 5 ff). L.K. Latyschev strukturiert die übersetzerische Kompetenz als eine zweiteilige Gesamtheit, die aus dem Basisteil und dem pragmatischen Teil besteht. Der Basiskompetenzteil enthält seinerseits einen konzeptuellen und einen so genannten „technologischen“ Bestandteil, während der pragmatische Teil sich in den speziellen und den spezifischen Bestandteil aufteilen lässt. L.K. Latyschev  minimisiert die Bestandteilanzahl der übersetzerischen Kompetenz, so dass sie von ihm mit Recht strukturell als Gesamtheit der Kenntnisse, Fertigkeiten und Vorstellungen des Übersetzers vorzustellen ist.

Die konzeptuelle und sprach-kulturologische Analyse der Übersetzungsversionen ermöglicht es uns die Relevanz auch anderer Kompetenzkomponenten festzustellen, worauf  viele moderne Übersetzungswissenschaftler auch hinweisen, darunter,  zum Beispiel die (inter-) kulturelle Kompetenz,  weil  „sie sowohl Sprach- und Textbildungskompetenz in zwei Sprachen als auch para- und extralinguistisches Wissen für eben diese situativ-kommunikativ angemessene Sprachverwendung einschließt (Kupsch-Losereit 2007). Also, die (inter)kulturelle Kompetenz ist ohne Zweifel eine der wichtigen Bestandkomponenten der fachlichen Kompetenz des Übersetzers und ist für seine Tätigkeit als eines inter-/ transkulturellen Vermittlers von besonderer Bedeutung, was auch andere Forscher bemerken: “Kulturspezifika (kulturelle Eigenheiten) sind für jede Übersetzung von herausgebender Bedeutung. … Ein Übersetzer möchte sein Schäfchen ins Trockene bringen, also seine Strategien sowohl anhand der Sprachpaare, als auch der verschiedenen Kulturen entwerfen, um den Unterschied zwischen zwei (oder mehreren) Kulturen überbrücken zu können“ (Szull 2007).

Wie sieht das „typische“ Porträt eines Übersetzers aus? Welche Komponenten enthält sein „Mosaikbild“? Als Basismuster analysieren wir das Porträt vom Übersetzer Rüdiger Schildknapp aus dem Roman von Th. Mann „Doktor Faust“, weil es kein virtuelles Porträt, sondern das Abbild von einer realen Person ist: „R. Schildknapp ist keine Erfindung, sondern hat seine Vorlage in der Wirklichkeit. Bis in die Namensgebung hinein hat sich T. Mann an sie gehalten. Schildknapp ist der Übersetzer und Schriftsteller Hans Reisiger, der mit Th. Mann befreundet war. Zwischen den Namen Reisiger und Schildknapp besteht eine semantische Nähe, ein Reisiger ist etwas Ähnliches wie ein Schildknapp nämlich ein „berittener Söldner“ (so definiert „Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Duden“ dieses spätmittelhochdeutsche Wort)“ (Gauger 1995: 165). 

Also, welche Eigenschaften hat der Übersetzer R. Schildknapp? Die Analyse des von Th. Mann „gemalten“ Übersetzerporträts ermöglicht es uns festzustellen, dass Th. Mann sowohl ein vollendetes/verallgemeinertes wie auch differenziertes/personifiziertes Porträt geschaffen hat, das auch das Verhältnis von Leib und Seele des Übersetzers widerspiegelt, die ihrerseits „…durchgehend durch gespalten gekennzeichnet (sind): verbittert und doch lustig, unzuverlässig, und doch auf seine Weise  anhänglich und treu; gut aussehend, jugendlich straff und im Gesicht die Neigung zu vorzeitigem Verwittern“ (Gauger 1995: 175).   Diese Eigenschaften von R. Schildknapp auch seine „Unzuverlässigkeit, Entschlussunfähigkeit, auch natürlich ….  das gehobene Schnorrertum“ beeinflussen seinen übersetzerischen Stil: „gespalten“ ist nicht nur sein Äußeres oder Inneres,  sondern auch seine übersetzerische Tätigkeit: Einerseits beschäftigt er sich mit der zeitgenossischen Unterhaltungsbelletristik, das heißt mit weniger anspruchsvollen Texten, andererseits – mit Anspruchsvollem und Schwierigem aus alten Zeiten – mit sehr „anspruchsvollen literarischen Texten“ Er strebt auch danach, sprachliche Äquivalenz im ZT zu erreichen und die Treue zum „heiligen“ Original zu bewahren. Aus diesen Gründen „…. bringt (er) die Figur in die Nähe des Typus: das Dienen, dessen besondere Reize und Schwierigkeiten (beides gehört zusammen); die zu solchem Dienen gehörende „Versessenheit“; das Verzweifeln und Verzehrende seines Ringens mit Worten und um die Worte; „das Übersetzen als Schicksal“ (Gauger 1995: 175).  Mit anderen Worten, wichtig für den Übersetzer sind seine AS-Kenntnisse und seine literarische Erfahrung, aber es ist für seine Tätigkeit auch gut, wenn er  „…  sich in einer gewissen Mitte bewegt …. bei allem Versagen Treue (bewahrt)“ (Gauger 1995: 177, 179).

Der Übersetzer ist im Prinzip kein gehorsamer Diener,  er dient natürlich seinem Herren-Autor, aber er „…erobert, … die Schliche seines Herrn vielfach durchschaut und auf seine Weise im Medium der neuen Sprache… herrscht“ (Gauger 1995: 179).  Also, anhand dieser Porträtbeschreibung kann man schlussfolgern, dass die fachliche Kompetenz von R. Schildknapp  unterschiedliche Teilkomponenten enthält und sich in zwei Hauptteilen gliedern lässt:

 Es ist zu betonen, dass in Th. Manns Beschreibung  alle fachlichen Teilkompetenzen von R. Schildknapp in seinem mental-verbalen System nach dem Koordinierungsprinzip funktionieren. Mit anderen Worten, die übersetzerische Kompetenz basiert sowohl auf Fremdsprachen- und Textkenntnisse als auch auf Kulturkenntnisse, was im Prinzip mit modernen Konzeptionen übereinstimmt: „Translatorische Kompetenz setzt eine Verwendungskompetenz von Diskursen voraus, die alle für die erfolgreiche zweisprachig vermittelte Kommunikation erforderlichen Kenntnisse umfasst. Sie umfasst damit auch kulturelle Kompetenz“ (Kupsch-Losereit 2007).

Es scheint attraktiv zu sein, das Übersetzerporträt mit modernen kognitiv-linguistischen Mitteln zu „malen“ und zu vergleichen, ob etwas Neues in der letzten Zeit in diesem Mosaikbild erschienen ist, ob irgendwelche Veränderungen in der Mosaikkonfiguration festzustellen sind etc. Wodurch wird das moderne lingual-mentale Porträt des Übersetzers gekennzeichnet?

Als moderne „Porträttechnik“  benutzen wir die konzeptuelle Analyse, die es uns ermöglicht, den Inhalt des Gesamtkonzeptes „Übersetzung“ detailliert zu erforschen und zu repräsentieren. Dieses Konzept hat eine hierarchische mehrschichtige Struktur, in welcher zwei Hauptebenen zu unterscheiden sind: eine äußerliche/„referenzielle“ Ebene und eine tiefe/kognitive Ebene. Die äußerliche Ebene enthält allgemeine Eigenschaften und Charakteristika, die konkrete Situationen in maximal vollem Umfang identifizieren. Die kognitive Ebene (wie ein abstraktes konzeptuelles Schema) gibt die Struktur und Charakteristika der potentiellen Assoziationseigenschaften von Dingen, Sachverhalten etc. wieder. Eine solche konzeptuelle Darlegung ermöglicht es uns, das Übersetzen als eine kausale Folge von zu lösenden Problemen und zu beschreibenden/wiederzugebenden Situationen zu interpretieren. Also, das Hauptkonzept „Übersetzung“ umfasst mehrere kausale Verkettungen von übersetzerischen Strategien, Handlungen, Persönlichkeiten etc., die weiterhin Vernetzungen bilden können. Alle diesen Vernetzungs- und Verkettungsstrukturen bilden das kognitive Modell der Übersetzung, das heißt das Mosaikbild der Übersetzung.

Zu den Hauptgliedern, welche (als Mosaikteile) den Inhalt des Gesamtkonzepts „Übersetzung“ bestimmen, gehören in erster Linie  solche, wie„Übersetzer“, „Übersetzerische Kompetenz“, „ZT“,  „AT“, „Mentaler Mechanismus“ etc.(diese Komponentenreihe kann immer wieder erweitert und vervollständigt werden, weil das Gesamtkonzept „Übersetzung“, wie wir schon geschrieben haben, eine vielschichtige komplizierte Struktur hat).

Der Übersetzer“ als Kultur-, Sprach- und Kognitionsträger nimmt eine zentrale Position in der gesamten Konzeptstruktur ein; er besitzt eine eigene „virtuelle Realität“, das heißt sein Weltbild, das durch die Gesamtheit seiner individuellen Kenntnisse über die Wirklichkeit repräsentiert und gebildet wird, sein eigenes und fremdes kulturelles und sprachliches Weltbild etc. Also, der Mosaikteil „Übersetzer“ ist durch solche primäre Komponenten, wie „das sprachliche Wissen“, „das soziokulturell geprägte enzyklopädische Wissen“, „Kulturwissen“, „Erfahrungen“, „Fähigkeiten“, „Psychotyp des Übersetzers“ und sein ganzes individuelles kognitives Potential gefüllt (geprägt). Je nach der Zielsetzung und Problemstellung beim Übersetzen kann der Fokusvektor im konzeptuellen Modell auf andere wichtige Bestandteile dieser konzeptuellen Vernetzung gerichtet werden, dann wird die Aufmerksamkeit des Übersetzers auf andere Knoten der äußeren oder kognitiven Ebene gelenkt. Alle Glieder dieser sprachkognitiven Kette sind relevant.
Als Beispiel analysieren wir das Kettenglied Übersetzerische Kompetenz“. Der Inhalt dieses Kettengliedes ist durch drei  Hauptbestandkomponenten bestimmt:

  1. „Sprach-kulturelle Kenntnisse“;
  2. „Text-diskursive Kenntnisse“;
  3. „Prozedur-kommunikative Kenntnisse“.
     Die Komponente „Sprach-kulturelle Kenntnisse“ enthält Kenntnisse von:

Die Komponente „Text-diskursive Kenntnisse“ vereinbart Kenntnisse von:

Die Komponente „Prozedur-kommunikative Kenntnisse“ spiegelt Kenntnisse von:

Das Kettenglied „Mentaler Mechanismus“ enthält folgende Hauptkomponenten:

Zusammenfassend kann man sagen, dass die sprach-kognitive Repräsentation der übersetzerischen Tätigkeit mittels von Hauptkonzepten, die als Metasprache  und Metastruktur der Erforschung der Übersetzung dienen. Das ermöglicht es uns mental-verbale Verhältnisse beim Übersetzen zu objektivieren und zu beschreiben, um  Schlussfolgerungen  zu ziehen, dass beim Übersetzen das übersetzerische Handeln, Taktik und übersetzerische Strategien durch objektive mentale Prozesse bestimmt sind. Willkür spielt bei den Berufsübersetzern (nicht bei Amateurübersetzern!) keine Rolle. Man kann akzeptieren, dass die Intuition dabei von großer Bedeutung ist; doch Intuition und Willkür sind Begriffe ganz unterschiedlicher Art.

 

Literaturverzeichnis


5.6. Vom kreativen Denken zum kreativen Handeln - Kreativitätsprobleme in der Sprache, Ausbildung und Erziehung

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For quotation purposes:
Alina  Fesenko: Übersetzerische Kreativität oder Willkür? - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/5-6/5-6_fesenko-alina17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-03-05