TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. April 2010

Sektion 5.7. Fachsprachen – Kreativität und Verstehensprobleme
Sektionsleiterin | Section Chair: Olga A. Kostrowa (Staatliche Pädagogische Universität Samara, Russland)

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Zu Merkmalen der Fachtexte

Anatolij Mirskij (Minsk – Weißrussland) [BIO]

Email: mirskij@tut.by

 

Die wachsende Bedeutung der Fachsprachen für unser Leben hat nicht nur Wissenschaftler von unterschiedlichen Disziplinen, sondern auch Politiker, Kulturkritiker und Journalisten dazu angeregt, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Sie alle betonen den Facettenreichtum dieses Gegenstandes [1].

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird versucht, eine integrative Vorstellung des Begriffs „Fachsprache“ zu skizzieren, die möglichst breite Zustimmung finden und die weit auseinander liegenden Ansätze – die stilistisch-statistischen, die soziolinguistischen, die kulturphilosophischen und die historischen – konkreter miteinander ins Gespräch bringen könnte.

Wenn die Fachlichkeit als ein besonderer Umgang mit der Welt bezeichnet wird, so soll dieses Verhältnis als ein kognitives zu verstehen sein. In diesem Sinne liegen dann der Fachsprache drei Systeme zugrunde: ein System von erkannten und kausal geordneten Entitäten, ein System von Abstraktionsprodukten (Begriffen, Konstrukten) und ein System sprachlicher Zeichen [2, S. 28].

Eine solche Auffassung der Fachsprache verlangt, dass die faktische Ausbildung der Fachlichkeit gar nicht ohne das Hilfsmittel „Sprache“ denkbar ist und dass die Entstehung des Expertentums als tatsächliche Grundlage der Fachlichkeit anerkannt wird. Dabei müssen zwei Aspekte des Expertentums in Betracht gezogen werden: zum einen beruht das Expertentum natürlich auf einer Spezialisierung des Wissens und Könnens (und das bedeutet zwangsläufig Parzellierung der Gegenstände oder Betätigungsfelder), denn niemand kann alles können. Zum zweiten beschränkt sich das Experten- oder Spezialistentum auf einen bestimmten Aspekt der Gegenstände. So ist die Aspektualisierung auch ein wesentliches Merkmal der Fachlichkeit. Diese beiden Momente erklären nun die Vielfalt der existierenden „Fächer“. Das nächste wesentliche Merkmal der Fachtexte ist ihre Sachlichkeit, d.h. in solchen Texten zählen Argumente, nicht die Person, die sie vorbringt [3, S. 75−76].

Die sprachlichen Merkmale existieren in diesem Fall auf allen sprachlichen Ebenen. Beginnen wir mit der Lexik der Fachsprachen. Die Bedeutungen fachsprachlicher Ausdrücke sind abstrakter als die allgemeinsprachlichen. Die Bedeutungen der letzteren sind prototypisch, d.h. nach Kern und Rand strukturiert. Fachtexte arbeiten im Allgemeinen nicht mit Prototypenbegriffen. Sie streben nach Wortbedeutungen, die scharf abgegrenzt sind, so dass die Zugehörigkeit eines Exemplars zu einer Kategorie eine Frage des Entweder-Oder ist.

Auch auf der Ebene der Grammatik gibt es Unterschiede. Im Allgemeinen spaltet sich die Frage nach der fachsprachenspezifischen Grammatik in die Frage nach den Bestandspezifika und die Frage nach den Frequenzspezifika auf. Es gibt, wie die Untersuchungen zeigen, nur vereinzelt Bestandspezifika, aber eine außerordentlich große Menge von Frequenzspezifika [4, S. 125].

In der Wortbildung lassen sich auch besondere Spezifika beobachten [5]. Das ist natürlich die Wortkomposition hinsichtlich des Umfanges. Sie ist sehr ausgebaut, besonders die kompositären Nomina actionis. Normalerweise wird im Rahmen des Kompositums die Füllung nur einer Position realisiert. Die hohen syntagmatischen Potenzen des verbalen Kerns ermöglichen aber, dabei gleichzeitig Beziehungen zu selbstständigen Wörtern herzustellen. Es entsteht also bei den komplexen Bildungen mit einer verbal motivierten Grundkonstituente die Fähigkeit zur Erzeugung nachgestellter Attribute. Die folgenden Beispiele veranschaulichen dies: die Industriebeteiligung der Banken, der Kursschub nach oben, die Doppelbesteuerung von Zinsen und Lizenzen verbundener Unternehmen in unterschiedlichen Mitgliedstaaten u.s.w.

Diese Beispiele lassen erkennen, wie mannigfaltig semantisch die Attribuierungen sein können. Diese Beispiele zeigen auch, dass die Attribute ziemlich große Ketten bilden bzw. umfangreich erweitert sein können, was die Nominalisierung im Text beträchtlich unterstützt.

Bemerkenswert ist auch, dass vorangestellte Attribute ebenfalls erweitert werden können: die bisher höchst umstrittene Zinsbesteuerung, die von Busch geplanten massiven Steuersenkungen usw. Es können pränominal ganze Gruppen entstehen, die die verbale Grundkomponente ergänzen.

An dieser Stelle könnte man fragen, ob beides zugleich (pränominal + postnominal) sprachlich möglich ist. Die Antwort ist eindeutig positiv.  

Bei den folgenden Belegen haben wir es sowohl mit der präpositiven als auch mit der postpositiven Attribuierung zu tun: fünffache Erdentfernung von der Sonne, die Furcht vor einem serbischen Militärschlag aus Südserbien in das Kosovo usw. Diese Beispiele lassen erkennen, dass die vererbte Verbvalenz, deren Träger die zweite Konstituente der nominalisierten Bildung ist, auf unterschiedliche Weise realisiert werden kann, wodurch die entstandenen Leerstellen unterschiedlich gefüllt werden.

Sowohl voran- als auch nachgestellte Attribute sind ein wichtiges Begleitcharakteristikum der kompositären Nominalisierungen. Diese Attribute sind interessant in mehrfacher Hinsicht. Sie stellen strukturell syntaktisch besondere (nominale) Strukturen dar, die in semantischer Hinsicht äußerst leistungsfähig sind, denn sie vermitteln in der Regel ein großes Inhaltsvolumen. Sie haben die Fähigkeit, mehrere im Rahmen eines Prozesses oder einer Handlung stehende Aspekte auf einmal (linear) wiederzugeben. Die dargestellten nominalen Ketten bieten eine einzigartige Möglichkeit zur mehrgliedrigen Wiedergabe der Realität mit dem Vorzug einer kompakten Darstellungsweise an der Textoberfläche.

Die Analyse hat darüber hinaus gezeigt, dass Produkte der Nominalisierung eine natürliche Erscheinung in den deutschen Fachtexten sind. Und die Nominalisierung selbst, anders gesagt die nominale Ausdrucksweise, kann als ein wesentliches differenzierendes Merkmal der Fachtexte angesehen werden, die man sehr oft zu einem Wesenszug des Nominalstils (Substantivitis) zählt.

Die Vorliebe der Fachsprachen für den Nominalstil erklärt sich aus folgenden Gründen: Substantive können mehr thematische Rollen übernehmen als das finite Verb; sie behalten dabei ihre Gestalt deutlicher erkennbar bei; Substantive sind artikelfähig, was dem Aufbau von Textkohärenz zugutekommt; Substantive sind bevorzugte Gegenstände von Definitionen und terminologischer Arbeit; zusammengesetzte, teils sehr umfangreiche Ausdrücke lassen sich schwer in finite Formen bringen (z.B.: Außenrundschleifen); Substantive sind im Satz verschiebbarer als Verben und können daher die Thema-Rema-Gliederung besser zum Ausdruck bringen. Damit hängt die Betonbarkeit zusammen. Das alles kommt den Bedürfnissen der einzelnen Fächer entgegen.

Das Vorherrschen substantivischer Termini, die Verwendung vieler Streckformen (Funktionsverbfügungen) sind auch Hauptmerkmale der lexikalischen Ebene der Fachtexte. Sie streben danach, die in Verb vorhandene Tätigkeit in ein Substantiv zu überführen, also Tätigkeiten und Prozesse nicht durch Verben, sondern hauptsächlich durch Substantive wiederzugeben. Dabei gehen Nebensätze verloren, statt der Satzgefüge erscheinen vielgliedrige Einfachsätze [6, S. 71].

Die Flexionsbesonderheiten bleiben sporadisch. Sie sind in den Fachtexten auch       oft vorzufinden: ungewohnte Plurale von allgemeinsprachlichen Singulariatantum (besonders bei Stoffnamen zur Wiedergabe von Sorten und Arten): Sände, Wässer, Drücke; Singulare von allgemeinsprachlichen Pluraliatantum (selten): das Elter; abweichende Pluralformen: Dorne (gegenüber Dornen); abweichendes Genus: das Teil, das Filter (allerdings auch in der Allgemeinsprache einzutreffen, teils regional); schwache Konjugation von allgemeinsprachlich starken Verben: sendete (Rundfunk), saugte (Staub). Kurios ist diese häufige Pluralbildung: Datenbänken, Samenbänke (statt -banken).

Die Syntax, die gegenwärtig in der Fachsprachenforschung besondere Beachtung findet, bedingt auch die Spezifika der Fachtexte. Noch auf ein Merkmal muss unbedingt hingewiesen werden.

In den Grundpositionen des Satzes im Fachtext erscheinen regelmäßig Substantive, besonders ihre bestimmten Typen: die deverbativen suffixlosen und abgeleiteten Wörter auf -ung, die adjektivischen auf -keit, -heit, substantivierte Infinitive und andere gruppensetzende Wörter, d.h. solche Substantive, die imstande sind, erweiterte Gruppen um sich zu entfalten. Weit ausgebaute Substantivgruppen sind Träger eines stark komprimierten Inhalts, z.B.: die Bewertung der Leistungen auf der Grundlage der gültigen Prüfungsordnung usw. So entstehen umfangreiche Wortgruppen, dabei viele besondere wie substantivische Blockbildungen und Genitivketten, die sehr stark den Inhalt komprimieren.

Der Satz im Fachtext strebt danach, die im Verb vorhandene Tätigkeit in ein Substantiv zu überführen, Tätigkeiten und Prozesse nicht durch Verben sondern hauptsächlich durch Substantive wiederzugeben. Dabei gehen Nebensätze verloren, statt der Satzgefüge erscheinen vielgliedrige Einfachsätze. Ein solcher Einfachsatz enthält bei einer finiten Verbform viele substantivische Glieder mit stark konzentriertem Inhalt. Vom kommunikativen Standpunkt aus besteht die Spezifik des Satzes in Fachtexten darin, dass der Mitteilende bestrebt ist, eine ganze Reihe von Sachverhalten mit einem Mal, d.h. simultan auszudrücken, in einem erweiterten Einfachsatz mit nur einer finiten Verbform. So entstehen Sätze mit der linearen Struktur. Die lineare Struktur des Satzes kann auch als ein wesentliches Merkmal der Fachtexte gelten. So ist es zu sehen,  dass es in der Syntax der Fachsprachen evidente Spezifika gibt.

Wenn man die grammatische Seite der Fachtexte näher betrachtet, so erkennt man deutlich die Tendenz zur Nominalisierung. Sie wird in diesen Texten auch durch folgende syntaktische Besonderheiten gekennzeichnet: zahlreiche Substantivgruppen mit der Tendenz zur Blockbildung; Gebrauch von Passivsätzen (vorwiegend zweigliedriger Struktur) in Dienst der Unpersönlichkeit, d.h. zum Ausdruck der Prozesse unabhängig von ihrem Urheber. Der unpersönliche Charakter der Mitteilungen ist für diese Texte im Allgemeinen ein charakteristisches Merkmal. Als Satztyp dominiert der Vorgangssatz; er tritt als Hauptform der Wiedergabe verschiedener Prozesse auf. Der Aussagesatz ist dominierend als kommunikativer Satztyp.

Es besteht gegenwärtig das Desiderat, den Fachtext als Forschungsgegenstand der Fachsprachenlinguistik noch mehr in den Vordergrund zu stellen. Betrachtet man  die Klassifikation von Fachtextsorten und die Analyse der Fachtextstruktur als die beiden dringlichsten Aufgaben, so ist die getrennte Erledigung dieser beiden Aufgaben die Bedingung dafür, sie miteinander in Beziehung zu setzen. Die sprachlichen Untersuchungen sind hier aufgerufen, andere Spezifika der Fachtexte nachzuweisen [7].

Die weitere Forschung wird nicht nur unsere Kenntnis über die hier skizzierten Mittel vermehren sondern auch ihren funktionalen Sinn herauszufinden suchen, etwa auf dem Wege der Einordnung in eine Konzeption von „Fachlichkeit“, wie sie in unserem Referat angedeutet worden ist.

 

Literaturverzeichnis

  1. Ickler, Theodor: Zur Theorie der Fachsprache // Perspektiven der angewandten Linguistik. Kongressbeiträge zur 16. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik / hrsg. von w. Kühlwein. – Tübingen: Narr, 1987. – S. 14−32.
  2. Романова, Наталья Н., Филиппов, Андрей В.:  Стилистика и стили: учебное пособие; словарь / Н.Н. Романова, А.В. Филиппов. – М.: Флинта: МПСИ, 2006 . – 416 с.
  3. Heusinger, Siegfried: Pragmalinguistik: Texterzeugung, Textanalyse; Stilgestaltung und Stilwirkungen in der sprachlichen Kommunikation; ein Lehr- und Übungsbuch / Siegfried Heusinger. – Frankfurt am Main: Haag und Herchen, 1995. – 162 S.
  4. Glušak, Tamara: Funktionalstilistik des Deutschen / T.S. Glušak. – Minsk: Verl. „Wyschejschaja schkola“, 1981. – 172 S.
  5. Kljutschenowitsch, Sergej, Glušak, Tamara: Zum Verhältnis von Nominalisierung und Wortbildung // Muttersprache, Jahrgang 111, 2001. – S. 248−254.
  6. Möller, Georg: Praktische Stillehre / Georg Möller. – Leipzig: Bibliographisches Institut, 1980. – 244 S.
  7. Glušak, Tamara, Mirskij, Anatolij: Deutsche Textlinguistik von heute / T. Glušak, A. Mirskij. – Minsk: Staatliche Linguistische Universität, 2006. – 77 S.

5.7. Fachsprachen – Kreativität und Verstehensprobleme

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For quotation purposes:
Anatolij Mirskij: Zu Merkmalen der Fachtexte - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/5-7/5-7_mirskij17.htm

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