TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 6.4. Internationale Fachkommunikation in Wirtschaft und Recht
Sektionsleiter | Section Chair: Bernd Spillner (Duisburg)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Der französische Einfluss auf die kontinentaleuropäische Rechtssprache

Jakob Wüest (Zürich) [BIO]

Email: wueest@rom.uzh.ch

 

Wer einen Text verfasst, hält sich zumeist an bestimmte Normen, die nicht von der Grammatik der betreffenden Sprache diktiert werden, sondern für die jeweilige Textsorte charakteristisch sind. Zumeist sind diese Normen nirgends explizit festgehalten. Niemand zwingt so den Verfasser eines Kochrezepts die Liste der Zutaten getrennt vom eigentlichen Rezept aufzuführen. Alle halten sich jedoch an diese Norm, die sich einfach aus der Imitation vorhandener Modelle ergibt. Solche Normen sind nicht wirklich verbindlich und können sich schnell ändern, weshalb sich die Klassifikation der Textsorten oft als schwierig erweist.

In gewissen Fällen gibt es freilich auch explizite Vorgaben. So hat man sich bei wissenschaftlichen Artikeln an die Vorgaben der jeweiligen Zeitschrift zu halten hat. Auch bei juristischen Texten kann beispielsweise das entsprechende Justizministerium Weisungen erteilen (cf. z.B. Amselek 1990, 404). Im Falle der Europäischen Union besteht sogar ein Gemeinsamer Leitfaden für das Verfassen von Verordnungen, Richtlinien usw., den man in allen Sprachen der Union auf dem Internet einsehen kann.

Viele der darin vorkommenden Anweisungen, wie diejenige, dass ein solcher Text konzis und präzis zu sein hat, mögen zwar gut gemeint sein, bleiben aber zu vage, um tatsächlich wirksam zu sein. Es gibt aber auch durchaus klare Anweisungen wie die folgende:

(1) Im verfügenden Teil verbindlicher Rechtsakte werden Verben im Französischen im Indikativ Präsens verwendet, im Englischen mit „shall“ mit Infinitiv gebraucht. In beiden Sprachen sollte das Futur nicht verwendet werden. (http://eur-lex.europa.eu/de/techleg/2.htm)

Wir zitieren hier die deutsche Fassung des Leitfadens, in dem zur deutschen Sprache nichts gesagt wird, offensichtlich weil sie keine Amtssprache der Europäischen Union ist. Für das Deutsche und eine Reihe von anderen Sprachen gilt aber die gleiche Aussage wie für das Französische: Gesetzestext werden im Indikativ Präsens verfasst. Eine Ausnahme macht allerdings das Spanische, wo der Übersetzung des zitierten Textes der folgende Satz zugefügt wurde: „En cambio, el uso del futuro normativo en castellano es preceptivo.”

Das folgende Alinea lautet dann wie folgt in der deutschen Fassung:

(2) Nicht verbindliche Rechtsakte (wie Empfehlungen oder Entschließungen) dürfen keine Verben im Imperativ enthalten und in Aufbau und Abfassung nicht zu sehr verbindlichen Rechtsakten folgen (ib.).

Erstaunlicherweise ist hier plötzlich von Rechtsakten im Imperativ die Rede, von denen bisher nichts gesagt wurde. Ohnehin dürfte es sehr schwer fallen, den Imperativ in solchen Texten zu finden. Diese Merkwürdigkeit rührt wahrscheinlich daher, dass Juristen dem Indikativ Präsens in Rechtstexten den Wert eines Imperativs zuweisen. Dies ist in linguistischer Hinsicht nicht ganz unbedenklich und hat deshalb schon zu ausführlichen Diskussionen im Rahmen der Sprachakttheorie Anlass gegeben (cf. z.B. Amselek 1990, 391ss., Šar?evic 2000, 5ss., Wüest 2002, 182ss.). Ein möglicher Kompromissvorschlag ist derjenige von Juan Sager (1993, 70, zit. bei Šarčevic 2000, 10), nach welchem Gesetze und Reglemente je nach Empfänger oder Empfängerin eine assertive oder eine direktive Funktion hätten. Sie hätten eine direktive, d.h. imperative, Funktion für diejenigen, die direkt von der entsprechenden Anordnung betroffen sind, für alle anderen dagegen bloß eine informative, d.h. assertive, Funktion.

Auf alle Fälle ist dieser Gebrauch des Indikativ Präsens erklärungsbedürftig. Er ist auch nicht wirklich alt (cf. Wüest 1993, 104ss.). Unter dem Ancien Régime wurden in Frankreich die königlichen Erlasse wie heute im Spanischen im Futur verfasst. Es handelt sich dabei um ein normatives Futur, wie es in den romanischen Sprachen allgemein gebräuchlich ist. Im Deutschen ist diese Verwendung des Futurs unbekannt. Deshalb wurde in den älteren Gesetzen deutscher Sprache stattdessen das Modalverb sollen gebraucht, wenn der Satz nicht schon ein anderes Modalverb wie dürfen und können enthielt. Dieser Gebrauch entspricht genau dem englischen shall, das in dieser Sprache bis heute gebraucht wird.

Dass auf diesem Gebiete sich eine Opposition zwischen der englischen und französischen Rechtssprache ergibt, ist nun allerdings nicht sehr verwunderlich. Diese beiden Länder sind nämlich die herausragenden Repräsentanten derjenigen beider Rechtssysteme, die weltweit dominieren. England ist dabei das Ursprungsland des common law, das aus den Rechtsreformen Heinrichs II. im 12. Jahrhundert hervorgegangen ist. Dieses Rechtssystem wurde von fast allen ehemals englischen Kolonien übernommen. Die Aussage, wonach in diesem Fall aufgrund von Präzedenzfällen entschieden wird, muss allerdings dahingehend relativiert werden, dass die entsprechenden Ländern neben dem common law auch das so genannte statuary law kennen, das aus Erlassen eines Gesetzgebers besteht. Insofern haben wir es eigentlich mit einem gemischten Rechtssystem zu tun, weshalb das common law auch nicht mit dem Europäischen Recht unvereinbar ist.

Auf dem europäischen Kontinent und weit darüber hinaus herrscht jedoch das Rechtssystem des civil law, in dem das Recht kodifiziert wurde. Als Vorbild für diese Art von Gesetzgebung gilt das römische Recht von Justinians Corpus iuris civilis, das sich formal allerdings stark von heutigen Kodifikationen unterscheidet. Im 19. Jahrhundert wurde dann vor allem das französische Zivilgesetzbuch, der code Napoléon von 1804, prägend. Dessen Einfluss reichte über das französische Sprachgebiet hinaus, da es übersetzt und in den von Napoléon eroberten Gebieten oft weit über die napoleonische Zeit hinaus verwendet wurde. In Frankreich selber galt diese Kodifikation lange Zeit als unantastbar und wurde erst im 20. Jahrhundert revidiert. Sie hat auch spätere Kodifikationen geprägt. Auf ihren Einfluss ist offensichtlich auch der Gebrauch des Indikativ Präsens ohne Modalverb für zwingende Rechtsakte zurückzuführen (cf. Wüest 1993, 108ss.).

Dabei ist im ersten Drittel des Code civil der Tempusgebrauch noch schwankend, da sich seine Verfasser noch nicht eindeutig für das Präsens oder das Futur entschieden hatten. Erst danach fällt ein eindeutiger Entscheid zugunsten des Präsens und diese Wahl galt dann im Wesentlichen auch für die verschiedenen Übersetzungen des Code civil. Der Einfluss der sehr formalistischen französischen Rechtssprache zeigt sich jedoch nicht nur in dieser Tempuswahl, sondern scheint auch in einer Reihe von Ländern die Abfassung von Gerichtsurteilen beeinflusst zu haben, früher noch mehr als heute.

Das französische Gerichtsurteil hat noch heute die Eigenart, in einem einzigen Satz abgefasst zu sein, wobei dieser leicht über mehrere Seiten gehen kann. Susan Šar?evic (2000, 123) nennt folgende Länder, die diese Form der Abfassung kennen beziehungsweise früher gekannt haben: Luxemburg, Belgien, die Niederlande, Schweden, Finnland, Portugal und Spanien. Heute beschränkt sich allerdings diese Form des Urteils nach meinen Abklärungen auf Frankreich, Luxemburg und Belgien, wobei sie in Belgien sowohl in den französisch wie niederländisch verfassten Urteilen angewandt wird.

Zudem werden in der kanadischen Provinz Québec Urteile ebenfalls in einem Satz abgefasst, wenn sie besonders kurz sind. Ferner scheint auch das Schweizerischen Bundesgerichts in Lausanne in letzter Zeit vermehrt die einsätzige Form zu verwenden. Sie bleibt aber die Ausnahme und kommt nur bei verhältnismäßig kurzen Entscheiden vor, meist solchen, bei denen ein Einzelrichter eine Berufung als unzulässig deklariert. Das geschieht nicht nur bei Entscheiden in französischer, sondern auch in deutscher oder italienischer Sprache.

Dass diese besondere Form der Redaktion insgesamt im Rückgang begriffen ist und sich heute auf ganz oder teilweise frankophone Staaten beschränkt, hat dabei sicher nicht nur mit dem Schwund des französischen Einflusses zu tun, sondern ist auch der Tatsache zuzuschreiben, dass diese Form angesichts der Länge heutiger Urteile nicht gerade zur Lesbarkeit beiträgt.

Sie hat umgekehrt aber auch zur Folge, dass die Abfassung in einem Satz die Gerichtsschreiberinnen und –schreiber zu einer Kürze zwingt, die deutlich im Gegensatz zur Ausführlichkeit von Gerichtsurteilen in Ländern des common law steht. Besonders auffällig ist dieser Unterschied in Kanada, wo die beiden Rechtssysteme aufeinandertreffen. Für die Provinz Québec gilt nämlich im öffentlichen Recht — wie im Rest von Kanada — das common law, im Privatrecht jedoch der Code civil du Québec (cf. Šar?evic 2000, 183ss.).

Die Entstehung der Form in einem Satz erklärt sich wohl historisch. Unter dem Ancien Régime wurden die französischen Gerichtsurteile, zumindest diejenigen des parlement de Paris, nicht begründet. Offenbar hätten es die damaligen Richter als einen Angriff auf ihre Autorität verstanden, hätten sie ihre Urteile begründen müssen (Krefeld 1985, 81ss.). Erst unter der Französischen Revolution wurde dann 1790 verlangt, dass die Urteile begründet werden müssen. Zumeist waren die Begründungen allerdings sehr kurz, weshalb sie ohne Mühe in einem Satz unterzubringen waren, wie das folgende Beispiel einer abgewiesenen Berufung zeigt:

(3) Jugement.

Le tribunal, de l'avis du commissaire, vu l'art. 36 de la loi du 22 avril 1791, attendu que rien ne peut justifier le préposé de n'avoir pas appelé l'adjoint de la commune, dont l'agent municipal était absent, rejette le pourvoi. (Krefeld 1985, 88s.)

Dieser Text ist für Außenstehende völlig unverständlich, da nirgends gesagt wird, worum es bei diesem Prozess ging. Die Form ist aber im Wesentlichen bereits diejenige des modernen französischen Gerichtsurteils. Sie besteht aus einem Hauptsatz „Le tribunal... rejette le pourvoi“ (‚Das Gericht... lehnt die Berufung ab.’), dessen Subjekt am Anfang und dessen Prädikat am Schluss des Schachtelsatzes steht und damit die Begründung gleichsam einrahmt. Die untergeordneten Sätze werden dabei in unserem Beispiel durch vu und attendu que eingeleitet, die man auch noch in den heutigen französischen Urteilen verwendet.

Als Vergleich mag uns hier ein jüngstes Urteil des französischen Kassationsgerichts dienen, das ich wegen seiner Kürze ausgewählt habe:

(4) Vu l'article 978 du nouveau code de procédure civile ;
Attendu que le 17 mai 2006, l’ordre des avocats au barreau de Périgueux et divers électeurs se sont pourvus en cassation contre l’arrêt rendu le 17 mars 2006 par la cour d’appel de Bordeaux ayant annulé les élections du bâtonnier et de certains membres du conseil de l’ordre organisées les 16 décembre 2005 et 13 janvier 2006 ;
Attendu qu’il n’a pas été déposé de mémoire contenant des moyens à l’encontre de cette décision dans le délai prévu à l’article 978 du nouveau code de procédure civile ; que la déchéance du pourvoi est encourue ;

PAR CES MOTIFS:

CONSTATE la déchéance du pourvoi. (06-60.130
Arrêt n° 1341 du 22 novembre 2007)

Was sich formal geändert hat, das ist zunächst die Tatsache, dass das Gerichts als Subjekt des Hauptverbs CONSTATE nicht mehr genannt wird. Es wird einzig im Titel des Urteils (Cours de cassation – Première chambre civile) erwähnt. Diese Änderung ist allerdings recht neu. Dass das Prädikat durch „par ces motifs“ eingeleitet wird, ist dagegen ein alter Brauch, der auch in französischsprachigen Urteilen außerhalb Frankreichs beachtet wird.

In inhaltlicher Hinsicht hat sich dagegen geändert, dass das Urteil nun immer in seinen Kontext gestellt wird. Tatsächlich kommen den beiden von attendu que eingeleiteten Paragraphen zwei verschiedene Funktionen zu. Das erste attendu que führt hier jene kontextuellen Informationen ein, welche für das Verständnis des Urteils unerlässlich sind und deren Fehlen im Urteil aus der französischen Revolution den gesamten Text unverständlich macht. Das zweite attendu que führt dagegen die eigentliche Begründung des Urteils ein.

Dieser inhaltliche Unterschied wird in einsätzigen Urteilen außerhalb Frankreichs auch formell hervorgehoben. Dort erscheint nach wie vor der Name des Gerichts oder des Gerichtspräsidenten als Subjekt am Anfang, der Entscheid des Gerichts als Prädikat dazu am Ende und die Begründung dazwischen. Das Dispositiv, d.h. die Entscheidung des Gerichts, wird dann allerdings in mehrere Artikel aufgeteilt, in denen insbesondere auch festgehalten wird, wer die Gerichtskosten trägt.

Die Unterscheidung zwischen Fakten und Recht wird dann aber durch den Gebrauch verschiedener Konjunktionen oder Präpositionen markiert. Im belgischen Urteil französischer Sprache bedient man sich so der Präposition vu für Dokumente, die vom Gericht eingesehen wurden, und entendu für Aussagen, die mündlich vor dem Gericht gemacht wurden. Die juristischen Erwägungen werden dagegen durch considérant que eingeleitet. Zu erwähnen ist dabei, dass im Französischen considérant que und attendu que eigentlich synonyme Konjunktionen für die Motive eines Urteils sind, dass sich in Frankreich aber offenbar attendu que, außerhalb Frankreichs dagegen considérant que durchgesetzt hat.

In den verhältnismäßig wenigen Urteilen des Schweizer Bundesgerichts, die in einem Satz abgefasst werden, kommt es dagegen immer wieder vor, dass die Unterscheidung zwischen Sachverhalt und Erwägungen nicht gemacht wird und die gesamte Begründung durch Considérant que... beziehungsweise im Deutschen durch In Erwägung, dass... eingeleitet wird. In den mehrsätzigen Urteilen wird dagegen immer der Sachverhalt von den Erwägungen durch Zwischentitel klar unterschieden. Das Dispositiv steht grundsätzlich am Schluss.

Dieser Aufbau mit den entsprechenden Zwischentiteln ist auch für die spanischen und italienischen Urteile charakteristisch, so dass man sich fragen kann, ob diesen Urteilen ein gemeinsames Muster zugrunde liegt. Um diese Frage zu beantworten, bräuchte es eine ausführliche historische Untersuchung, die ich hier nicht leisten kann. Ich möchte mich deshalb mit einigen grundsätzlichen Überlegungen begnügen. Jedem Texttyp liegt eine bestimme Kommunikationsabsicht zugrunde, die dessen Form und Inhalt bis zu einem gewissen Grad bestimmt.

Autoren wie Brandt und Rosengren (1992) oder Rolf (1993) vertreten die Auffassung, dass diese grundlegende Sprecherintention innerhalb des Textes den Gegenstand eines dominierenden Sprechaktes bildet, dem sich alle übrigen Sprechakte logisch unterordnen. Ich stimme dieser Auffassung mit der Einschränkung zu, dass es Textsorten gibt, wo der dominierende Sprechakt nicht explizit ausgedrückt wird (cf. Wüest 2001). Im Falle des Gerichtsurteils lässt sich allerdings das Dispositiv, d.h. der eigentliche Beschluss des Gerichts, sehr leicht als dominierender Sprechakt identifizieren.

In dieser Perspektive macht die Form des französischen Gerichtsurteils in einem Satz durchaus Sinn. Das Dispositiv erscheint darin als der übergeordnete Satz, dem sich die Begründungen grammatisch unterordnen. Es ist dies der seltene Fall, in dem die postulierte hierarchische Struktur des Textes der grammatischen Struktur entspricht. Üblicherweise ist der dominierende Sprechakt nämlich nicht formal als solcher gekennzeichnet.

Was nun die untergeordneten Sprechakte betrifft, so ist die Unterscheidung zwischen Sachverhalt und rechtlichen Erwägungen völlig gerechtfertigt. Von der Darstellung des Sachverhalts lässt sich nämlich sagen, dass sie einzig dem Verständnis des folgenden Textes dient. Brandt und Rosengren (1992) sprechen in diesem Fall von sachverhaltsklärenden Sprechakten. Nur die juristischen Erwägungen haben eine argumentative Funktion; auf sie stützt sich die Entscheidung des Gerichts.

Tatsächlich ist die Unterscheidung zwischen Sachverhalt, Erwägungen und Dispositiv jedoch noch nicht ausreichend. In Revisionsurteilen werden beispielsweise unter den Erwägungen üblicherweise auch die Argumente der Vorinstanz, sowie der Beschwerdeführerin beziehungsweise des Beschwerdeführers vorgetragen. Diese brauchen für das Urteil nicht ausschlaggebend zu sein und werden im Deutschen beispielsweise immer durch das Stilmittel der berichtenden Rede (im Konjunktiv) wiedergegeben. Einzig die Erwägungen des Gerichts haben einen klar argumentativen Charakter, durch den das Dispositiv gestützt wird.

Die Abfolge Sachverhalt, Argumente der Parteien, Erwägungen des Gerichts findet sich denn auch in deutschen und österreichischen Urteilen. Dort steht die Disposition jedoch am Anfang und nicht am Schluss. Auf sie folgt meist ein einziger Zwischentitel wie „Gründe“ oder „Begründung“ und dann die genannte Abfolge. Wir haben es hier also mit einer anderen Tradition zu tun. Nochmals eine ganz andere, sehr wortreiche Form des Gerichtsurteils findet man sodann in den Staaten des common law.

Es zeigt sich somit, dass die Kommunikationsintention nicht alleine die Struktur eines Textes festlegt. Diese wird zusätzlich durch Konventionen bestimmt, die in Raum und Zeit variieren. Im Falle eines so stark normierten Texttypus wie das Gesetz oder das Gerichtsurteil sind diese Konventionen im Prinzip an die Staatsgrenzen gebunden, da jeder Staat sein eigenes Rechtssystem hat. Daneben gibt es aber auch Rechtstraditionen, die offensichtlich die Staatsgrenzen überschreiten.

So bleibt die Form der Gerichtsurteile in der Schweiz in allen Landessprachen praktisch dieselbe. Sie ist offensichtlich von französischen Mustern beeinflusst und unterscheidet sich dabei deutlich von den deutschen und österreichischen Gerichtsurteilen. Im Falle des Deutschen Bundesgerichtshofs kommt dazu, dass — im Gegensatz zum Verfassungsgericht —der Sachverhalt und die Argumente der Parteien nur gerade in den Leitsatzentscheidungen dargestellt werden.

Diese Verkürzungen führen dann gelegentlich zu eher befremdlichen Lösungen, wie wenn etwa ein Urteil in folgender Weise beginnt:

(5) Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat […] beschlossen:
In Abänderung des Beschlusses vom 19. September 2007 wird der Streitwert auf 26.389,00 € festgesetzt.
Gründe:

I.
Der Streitwert für den Räumungsanspruch ist auf 19.800,00 festzusetzen. […] (VIII ZR 16307)

Von einer Begründung, d.h. von einer Argumentation im logischen Sinne kann hier gewiss nicht mehr die Rede sein. Dieser Aufbau erklärt sich erst, wenn man weiter liest. Es wird zunächst vorgerechnet, wieso ein Räumungsanspruch in dieser Höhe besteht, worauf unter II. noch von „rückständigen Mietzinsen in Höhe von 6.589,00 €“ die Rede ist. Daraus ergibt sich erst die im Richterspruch genannte Summe.

Nun hat dieser merkwürdige Aufbau jedoch seine Gründe. Dadurch, dass das Dispositiv am Anfang steht, wird gleichsam auch der Argumentationsstrang umgekehrt. Wir haben es deshalb mit einer Textsequenz zu tun, die Egon Werlich (1975) expositorisch und nicht argumentativ genannt hat. Argumentativ nennt Werlich ausschließlich diejenigen Sequenzen, die von den Prämissen zu einer Schlussfolgerung führen. In expositorischen Sequenzen wird dagegen zunächst eine These aufgestellt und erst danach begründet.

So wird im zitierten Text zunächst der Räumungsanspruch auf eine bestimmte Summe festgesetzt und dann erst begründet, wieso er auf diese Summe festgelegt wurde. In gleicher Weise wird etwa gesagt, ob eine Berufung zulässig oder begründet ist, bevor gesagt wird, wieso dies der Fall ist. Man kann sich fragen, ob diese Lösung günstiger ist als die argumentative Struktur, die auch in Ländern des common law üblich ist.

Auffällig ist etwa, dass in österreichischen Urteilen eine gemischte Form vorherrscht. Ihr Aufbau ist zwar derjenige deutscher Urteile mit dem Richterspruch am Anfang. Trotzdem sind die Erwägungen so aufgebaut, dass an deren Ende eine Schlussfolgerung steht, z.B. diejenige, der Berufung sei stattzugeben oder den Erfolg zu versagen. Auch hier wurde ein gegebenes Modell offenbar nur modifiziert übernommen.

Man mag erstaunt sein, dass der angelsächsische Einfluss, der heute auf vielen Gebieten so übermächtig ist, in unserem Fall kaum eine Rolle spielt. Das hängt natürlich damit zusammen, dass die angelsächsischen Länder ein ganz anderes Rechtssystem haben. Es gibt ganz einfach kein englisches oder amerikanisches Zivilgesetzbuch; darum hat dieses auch keinen Einfluss. Das Phänomen, dass eine Nation einen dominierenden Einfluss ausübt, ist aber alt. Im Falle des Rechts ist dabei der einstmals dominierende Einfluss des Französischen noch heute spürbar.

 

Bibliographie:

Internetadressen (letzter Zugriff: 9.11.08):


6.4. Internationale Fachkommunikation in Wirtschaft und Recht

Sektionsgruppen| Section Groups| Groupes de sections


TRANS   Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Jakob Wüest: Der französische Einfluss auf die kontinentaleuropäische Rechtssprache - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/6-4/6-4_wuest17.htm

Webmeister: Branko Andric     last change: 2010-03-12