Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Januar 2010 |
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Sektion 6.9. |
Touching Society SektionsleiterInnen | Section Chairs:Arno Böhler und Katja Mayer (Universität Wien, Österreich) |
Politik der Gebärde oder Der Redner vor dem Spiegel.
Was Lacan über Demosthenes sagen würde
Patrick Baur (Freiburg) [BIO]
Email: baur.patrick@googlemail.com
Einleitung(1)
Dieser Text handelt von einem Moment, das in der politischen Kommunikation fast immer mitspielt. Es spielt fast immer mit und wurde in der Tradition der politischen Theorie doch nur selten in den Mittelpunkt gerückt. Ich meine damit, ganz banal gesagt, das Moment der nonverbalen Kommunikation – genauer: das Moment der Gebärden. Mit Gesten und Gebärden, so meine These, lässt sich mindestens so sehr Politik machen wie mit Worten. Man kann in diesem Sinn von einer Politik der Gebärde sprechen: In welchen Zuständen sich Gesellschaften befinden und welchen Transformationen sie unterliegen, ob sie sich voneinander abgrenzen oder füreinander öffnen, das alles kann sich bis zu einem gewissen Grad in solchen Gebärden manifestieren und durch Gesten beeinflusst werden – sei es durch ‚große‘, d.h. öffentlich und symbolisch vollzogene Gesten, sei es durch Gebärden, die im Umgang von Menschen aus verschiedenen Gesellschaften miteinander in Erscheinung treten. Zwei Beispiele möchte ich hier anführen, um diese These argumentativ zu unterstützen.
Das erste Beispiel betrifft eine jener symbolischen Gesten, von denen gerade die Rede war. Es handelt sich um den so genannten „Kniefall von Warschau“. Während einer Reise nach Polen legte der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 einen Kranz am Denkmal des jüdischen Ghettos in Warschau nieder. In einer überraschenden Geste kniete er sich anschließend vor dem Mahnmal nieder. Rasch wurde dieser Kniefall als Zeichen der Versöhnungsbereitschaft interpretiert. Er avancierte zum Symbol der brandtschen Ostpolitik – und hat in seiner affektiv aufgeladenen, moralischen Symbolhaftigkeit die damalige Debatte um diese Politik sicherlich stärker bewegt, als es eine Rede getan hätte. Der Kniefall von Warschau zeigt wohl auf eine recht handgreifliche Weise, dass man mit Gebärden Politik nicht nur ausdrücken, sondern auch machen kann.(2)
Mein zweites Beispiel bezieht sich auf eine Schrift von Wilhelm von Humboldt. Humboldt vergleicht hier das französische mit dem deutschen Trauerspiel. Er beklagt, dass die Deutschen, anders als die Franzosen, „wirklich eine sehr gebärdenlose Nation sind“(3), und fordert vom Schauspieler, er müsse mehr für das Auge arbeiten. Humboldt betont aber auch gewisse Vorteile der deutschen Schauspielkunst: Ihre Gebärden haben seiner Meinung nach den Vorzug, dass sie nicht so leidenschaftlich und deklamatorisch sind wie die der Franzosen. Auf der deutschen Bühne geht es harmonischer zu: Die Charaktere sind, so Humboldt, idealer dargestellt, ihre Gebärden sind weniger vehement und mehr ausdrückend denn malend.(4) Überspitzt gesagt, stellt Humboldt hier dem allzu pathetisch gestikulierenden Franzosen einen nüchternen, rationaleren, mehr zur Abstraktion fähigen Deutschen gegenüber. Das Phänomen der Gebärde wird also benutzt, um unter der Hand eine Konstruktion nationaler Identität vorzustellen und sie in die Bewegungsformen der Körper einzuschreiben.
Ich meine, dass solche Einschreibungen mitunter eine stärkere politische Wirkung entfalten können als mehr oder weniger rational durchgeführte Debatten; denn sie wirken auf einer Ebene, die man nur teilweise unter Kontrolle hat. Gebärden können etwas überaus Politisches sein; und wenn sie es sind, dann politisiert sich mit ihnen auch der Körper, mit dem sie ausgeführt werden, und es politisieren sich die Affekte, aus denen die Gebärden entstehen. Mit den Gebärden betritt also ein affektives, aber auch ein körperliches Moment die Bühne der Politik – zwei Momente, die das politische Subjekt in seinem Anspruch auf rationale Selbstkontrolle wenigstens teilweise transzendieren. Das politische Subjekt ist auf dieser Ebene offener für das, was von außen kommt. Es ist zugänglicher durch die Berührung durch das Gesellschaftliche und damit durch das Politische. Das ist der Grund für meine These, dass sich mit Gesten und Gebärden mindestens so sehr Politik machen lässt wie mit Worten.
Nicht immer ist das so und nicht unter allen Umständen. Aber Gebärden und Gesten begleiten jede Rede in jedem Moment, und so auch die politische Rede. Dadurch haben sie immer wieder Gelegenheit, in diese Rede gleichsam einzugreifen und mit ihr oder auch gegen sie, unterstützend oder auch verräterisch, mitreißend oder abweisend Politik zu machen. Hier, in diesem Text, soll es darum gehen, eine bestimmte Tendenz im Verhältnis von Politik und Gebärde sichtbar zu machen. Diese Tendenz hat das abendländische Verhältnis von Politik und Gebärde in einem gewissen Ausmaß geprägt. Nicht immer und nicht unter allen Umständen hat sich diese Tendenz verwirklicht – doch es ließe sich wohl nachweisen, dass das in der Geschichte des Westens oft oder wenigstens immer wieder geschehen ist. Hier soll es nicht darum gehen, diese Geschichte nachzuzeichnen; nur die Grundtendenz, die eben angesprochen wurde, soll herausgearbeitet werden. Der historische Prozess, in dem diese Tendenz entsteht, ist das, was ich die Rhetorisierung der Gebärde in der Antike nennen möchte.
1. Politik und Sprache, Rhetorisierung und Gebärde
In seiner Schrift über die Politik hat Aristoteles das Verhältnis von Politik und Sprache auf eine Weise bestimmt, die für das Selbstverständnis der politischen Kultur des Abendlandes prägend geworden ist. Er stellt Politik als etwas dar, das sich wesentlich in der Gestalt einer Auseinandersetzung über „das Nützliche und Schädliche, das Gerechte und Ungerechte“(5) vollzieht. Diese Bestimmung bringt das Selbstverständnis der athenischen Demokratie auf den Begriff;(6) und sie wirkt in einem entscheidenden Sinn auch in der Neuzeit nach – in der Epoche, in der die zweite Erfindung der Demokratie stattfindet. Die Idee des Parlaments ist die Idee eines öffentlichen Raumes, in dem man sich redend über „das Nützliche und Schädliche, das Gerechte und Ungerechte“ verständigt. Politikfähigkeit ist demnach, so scheint es, undenkbar ohne Sprachfähigkeit – ohne einen genuin sprachlichen Wesenszug am Menschsein. Aristoteles bestimmt ganz in diesem Sinn den Menschen als zôon lógon echon: als ein Lebewesen, das die Sprache hat. Nicht zufällig findet sich diese Bestimmung ebenfalls in der Schrift über die Politik, und genau an jener Stelle, an der Aristoteles den Sinn des politischen Sprechens charakterisiert.
In der griechischen Antike – das kann man vor diesem Hintergrund wohl sagen – ereignet sich der Einbruch der Sprache in die Politik: Die Sprache betritt in einem hervorgehobenen Sinn als ein Mittel öffentlich-gesellschaftlicher Auseinandersetzung das Feld des Politischen. Zugleich findet in dieser Phase aber noch ein anderer Wandel statt: Das ist der Einbruch der Rhetorik in die Sprache. Die Disziplin der Rhetorik, die ebenfalls in dieser Zeit entwickelt wird, verändert das Verhältnis der Menschen zur Sprache: Sie macht die Sprache zu etwas, das man üben kann, zu etwas, das sich bewusst einsetzen lässt, um bestimmte Wirkungen und Ziele zu erreichen – und nicht zuletzt politische Ziele. Es ist also nicht nur so, dass sich in der Antike in einem bestimmten Sinn der Einbruch der Sprache in die Politik ereignet; die Politik macht sich auch umgekehrt auf eine neue Weise im Verhältnis der Menschen zur Sprache geltend.
In Platons Dialog Gorgias heißt es, und wohl nicht zu Unrecht, dass die Rhetorik „der Hersteller von Überzeugung“(7) sei. Dazu bedient sich die Rhetorik unterschiedlicher Mittel. Sie bietet Methoden rationaler Argumentation und Instrumente einer logischen Kritik, aber sie bietet auch ästhetische Figuren und stilkritisches Wissen. Bei Aristoteles überschneidet sie sich auch zum Teil mit der Psychologie, genauer gesagt, mit der Affektenlehre: Um mit rhetorischen Mitteln Überzeugung herzustellen, bedarf es auch einer Kenntnis der Affekte, die man ansprechen muss. Doch nicht zuletzt umfasst das rhetorische Wissen auch den Aspekt der Performanz, der actio. Rhetorik beschäftigt sich mit den Regeln der Aufführung und des Sprechens, mit Aussprache und Betonung.
Diese Rhetorisierung der Sprache und der Sprachperformanz erfasst auch das Phänomen der Gebärden. Auch die Gebärden werden in der Antike ‚rhetorisiert‘, sie werden zu einem Element in der rhetorischen Thematisierung der actio. Rhetorik ist zwar die Lehre vom Sprachgebrauch unter dem Aspekt der Wirkung, das heißt, der Herstellung von Überzeugung; sie ist aber auch die Lehre vom Gebrauch der Gesten zur Herstellung von Überzeugung.(8)
Die antiken Prozesse der Rhetorisierung haben das Verhältnis von Sprache und Politik in der abendländischen Kultur in grundlegender Weise geprägt – und das bis in die Gegenwart hinein. Da diese Rhetorisierung der Sprache auch das Feld der Gebärden mit einbezieht, muss man davon ausgehen, dass auch das Verhältnis von Politik und Gebärden in der Geschichte der politischen Kultur des Westens durch die antike Entwicklung der Rhetorik mitbestimmt wurde. Durch die Rhetorisierung der Gesten wird der Körper in das Register des Politischen eingetragen: der Körper in seiner Beweglichkeit, in seinem Ausdruckspotential, seiner Kraft, zu handeln, die Dinge zu verändern. Die Vermutung lautet: Aus der Weise, wie die antike Rhetorik mit den Gebärden umgeht, könnte sich Grundsätzliches über das Phänomen der politischen Gebärde lernen lassen; zumindest über die Kultur der politischen Gebärden des Westens.
In diesem Text beschränke ich mich auf die Darstellung einer bestimmten Tendenz, durch die das Verhältnis von Rhetorik und Gebärde und Politik bestimmt wird. Mir scheint diese Tendenz von entscheidender Wichtigkeit zu sein. Um zu zeigen, worum es sich dabei handelt, soll von dem Rhetoren die Rede sein, der neben Cicero als der berühmteste und vielleicht wirkmächtigste Redner der Antike gilt: von Demosthenes also. Ich beziehe mich dabei auf Plutarchs Doppelbiografie von Demosthenes und Cicero; die Szene, auf die ich hinauswill, findet sich aber auch in Quintilians Lehrbuch der Rhetorik. Beide behandeln Demosthenes bis zu einem gewissen Grad als einen paradigmatischen Rhetoren – als eine Figur, in der sich der Sinn dessen manifestiert, was man Rhetorik nennt. Demosthenes ist in diesem Sinn eine Allegorie der Rhetorik als solcher.
2. Der Rhetor vor dem Spiegel
Plutarch zufolge beginnt die Rednerkarriere des Demosthenes mit schweren Hindernissen. Dem Redner eignet „eine Schwäche der Stimme, eine Undeutlichkeit der Aussprache und eine Knappheit des Atems, die durch das Zerreißen der Perioden den Sinn des Gesagten nicht recht klar werden ließ“(9). Nach einigen Niederlagen, die unter anderem durch diese Probleme zustande kamen, beschließt Demosthenes, sich aus der Politik zurückzuziehen. Verschiedene Ereignisse bewegen ihn aber dazu, ein comeback zu versuchen, das auch mit Glanz gelingt. Plutarch schildert eindrücklich, was Demosthenes zu diesem Zweck unternimmt:
Er ließ sich [...] einen unterirdischen Übungsraum bauen [...] und ging täglich da hinunter, um sich im Vortrag zu üben und seine Stimme auszubilden; ja, oft setzte er das zwei oder drei Monate fort und ließ sich die Hälfte des Kopfes abscheren, um es sich aus Furcht vor der Lächerlichkeit unmöglich zu machen, das Haus zu verlassen, selbst wenn er es wollte.(10)
Demosthenes: Das ist der Mythos des Übens und Trainierens in der Rhetorik, ein Bild der stillen Arbeit an der Selbstüberwindung, die im Privaten geschieht. Man sieht an diesem Bericht, dass der Prozess der Rhetorisierung, der Technisierung der Rede und der Gesten durch das Mittel der Übung nicht so sehr auf der politischen Bühne stattfindet. Vielmehr treten die rhetorisierte Sprache und die rhetorisierten Gesten erst dann ins Licht der Öffentlichkeit, wenn sie bereits perfektioniert wurden. Solange sie noch nicht der vollkommenen Kontrolle des rhetorischen Subjekts unterliegen, bleiben sie privat. Der Prozess des Übens findet in einer dunklen Kammer statt, in einem unterirdischen Raum der Subjektivität. Dadurch verändert sich auch die Idee des Privaten: Es wird zum Feld der ungeübten Sprache, das dem Feld der rhetorischen Sprache entgegengesetzt ist – und es wird zu einem Raum, in dem die Gesten nicht stilisiert, nicht geübt sind. Das Private – und mit ihm vielleicht das ‚Subjektiven‘ ist nun der Bereich, in dem die Gesten nicht in vermittelter Weise Gesten des Subjekts sind, sondern unmittelbar.
Plutarch informiert uns an einer besonders wichtigen Stelle auch darüber, was Demosthenes gegen „seine körperlichen Behinderungen“ unternommen hat.
Die Undeutlichkeit und das Anstoßen mit der Zunge habe er weggebracht und eine klare Aussprache erzielt, indem er Steine in den Mund nahm und gleichzeitig lange Dichterstellen vortrug, und die Stimme habe er geübt, indem er bei raschem Lauf und beim Bergansteigen sprach und Reden und Verse mit aufs äußerste angespanntem Atem vortrug; er habe auch zu Hause einen großen Spiegel [méga kátoptron] gehabt und vor diesen hintretend seine Redeübungen gehalten.(11)
Interessant ist an dieser Stelle gar nicht so sehr die berühmte Passage, in der der Redner den Mund voller Steine nimmt, um zu üben; viel aussagekräftiger ist hier nämlich die Tatsache, dass in dem privaten Übungsraum des Rhetoren ein Spiegel steht. Dieser Umstand verdient besondere Beachtung. Demosthenes, der seine Redegebärden vor dem Spiegel beobachtet und korrigiert – man kann das eine Urszene nennen: die Urszene, in der die Transformation des privaten Subjekts in das rhetorische Subjekt geschieht. Vor dem Spiegel, so Plutarch, gelangt Demosthenes zu der Einsicht, dass das bloße Auswendiglernen eines Redetextes nicht genügt: Man muss auch den Vortrag und den Stimmungsgehalt des Gesagten beachten und üben. Die Rhetorisierung wirkt sich hier auf die Performanz der Sprache aus, auf den Vortrag. Sie gründet sich auf das Verhalten eines Subjekts, das sich selbst prüft, testet und korrigiert. Die Rhetorisierung verhält sich zur Performanz der Sprache durch ein Spiegelbild: Sie hat die Tendenz, ein ‚katoptrisches‘ Verhältnis zur politischen Rede einzunehmen – ein Spiegelverhältnis.(12)
Insbesondere betrifft das die Gebärden, die diese Rede begleiten. Demosthenes vor dem Spiegel: Das ist auch die Urszene, die das Verhältnis der Rhetorik zum Phänomen der Gebärde darstellt. In dieser Urszene tritt das rhetorische Subjekt in ein visuelles Verhältnis zu seinen eigenen Gebärden: Es übt sie, korrigiert sie, eignet sie sich an vor dem Spiegel. Die Rede und insbesondere die Gebärden dem Aspekt der Wirkung zu unterstellen – dieser Prozess der Rhetorisierung geschieht durch einen Akt, in dem sich das Subjekt selbst mit einer Gestalt identifiziert, die es im Spiegel sieht.
Es scheint recht naheliegend, diese Urszene zu interpretieren, indem man die Begriffe einer von Lacan geprägten Psychoanalyse aufgreift. Lacan hat ja zu beschreiben versucht, was es für die Psyche heißt, vor einem Spiegel zu stehen und sich selbst darin zu sehen – und er hat die Konstitution des sozialen Ich und der ihm entsprechenden psychischen Strukturen aus dieser Erfahrung abgeleitet. Zwar ist der Begriff des Spiegelstadiums, den Lacan entwickelt hat, auf die frühkindliche Entwicklung gemünzt; es wird sich aber zeigen, dass er sich auch auf die Situation des Rhetoren vor dem Spiegel anwenden lässt.
Lacan beschreibt die Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild als einen Akt äußerster Ambivalenz. Auf der einen Seite steht eine Erfahrung der Vollständigkeit oder Ganzheit: Das Kind, das sich zum ersten Mal im Spiegel wiedererkennt, hat sich bisher immer nur zu bestimmten Körperteilen verhalten. Nun sieht es seine ganze Gestalt und identifiziert sich mit ihr.(13) Es gewinnt ein Bild von seiner körperlichen Totalität – und in Zukunft „symbolisiert diese ‚Gestalt‘“, wie Lacan sagt, „[...] die mentale Permanenz des Ich (je)“(14). Dieses Identitätsbewusstsein wird als positiv erfahren; das ist der ‚jubilatorische‘ Aspekt der Situation, eine antizipatorische Erfahrung zukünftiger Größe.
Auf der anderen Seite aber handelt es sich beim Spiegelbild eben nur um ein Bild, um etwas, das von dem sich spiegelnden Ich unterschieden ist und bleibt. Ich bin das, was ich da im Spiegel sehe, und ich bin es doch nicht – das ist die Dialektik, die der Identifizierung mit dem Spiegelbild inhärent ist. Deswegen ist in der Erfahrung des Ich vor dem Spiegel gleichzeitig auch ein Moment grundlegender Entfremdung angelegt. Nach dem Spiegelstadium wird sich das Subjekt immer in einer Dialektik der Identifikation bewegen: Es wird nach Weisen suchen, sich mit seinem Idealbild, dem Spiegelbild, zu identifizieren.
Der Rhetor, der vor dem Spiegel die eigenen Gebärden kontrolliert, sieht in diesem Sinn ebenfalls eine Größengestalt seiner selbst vor sich – ein Bild, das mit zunehmender Übung immer idealer wird. Er verwandelt sich auf diese Weise in einen Repräsentanten der Gesellschaft; denn indem er sich im Spiegel erblickt, sieht er sich aus der Perspektive der anderen. Die Struktur des rhetorischen Übens besteht darin, die Perspektive zu wechseln und wie mit den Augen eines anderen die Wirkung zu beobachten, die die Bewegungen des Redners haben. Sie besteht darin, die eigenen Bewegungen so zu gestalten, dass sie dem idealen Spiegelbild entsprechen. Der Rhetor lernt vor dem Spiegel ideale Bewegungen – und er lernt, sich diese Bewegungen anzueignen und sie anderen gegenüber anzuwenden. Die anderen: Das sind die, die ein Bild von mir erblicken: ein Ideal-Ich, eine Spiegelung.
An dieser Stelle zeigt sich, dass Lacans Begriff des Spiegelstadiums, obwohl er sich auf ein Moment in der frühkindlichen Entwicklung bezieht, trotzdem auch auf die Situation anwendbar ist, in der die Gebärden vor dem Spiegel rhetorisiert werden. Laut Lacan geht das Ich vor dem Spiegel (je spéculaire) dem sozialen Ich (je sociale) voraus. Indem er vor den Spiegel tritt um zu üben, fällt der Rhetor in ein früheres Stadium zurück – eine Regression findet statt. Wenn das Geübte dann in einer öffentlichen Situation eingesetzt wird, verwandelt sich der Rhetor wieder in ein je sociale: In eines, das jetzt wirkungsvoll vor versammelter Menge sprechen kann.
Ein Punkt ist an Lacans Interpretation des Spiegelstadiums besonders wichtig. Der eigene Körper tritt hier nur als Bild auf, als etwas rein Visuelles, etwas nur Sichtbares. Als Bild wird er von seinem Besitzer aber gleichsam nur von außen erlebt. Wenn ich mich in der Welt bewege, findet immer auch ein Spüren statt: Ich spüre mich selbst, spüre die Menschen und Dinge, die ich berühre. Ein Bild aber lässt sich nicht spüren – man kann es nur sehen. Das gilt auch für den eigenen Körper, wenn man ihm im Spiegel erblickt. Deswegen sind die Gesten, die sich im Spiegel abzeichnen, in einem bestimmten Sinn etwas nur Visuelles: Sie können nicht spüren, können auch nicht in einem materiellen Sinn berühren.
Dieses Verhältnis setzt sich in den Gebärden fort, die gemäß dem vor dem Spiegel Erlernten ausgeführt werden. Sie sind aus einem reinen Sehprozess entstanden. Das Subjekt spürt sich nicht in ihnen, und es spürt mit diesen rhetorischen Gesten auch nicht die Dinge und Menschen, die es berührt. Dadurch wird die Gebärde bis zu einem gewissen Grad entlebendigt, sie verfestigt sich zur Figur, zur Geste in diesem Sinn.(15) Das ist der klassische Narzissmus der Gebärde.
Demosthenes vor dem Spiegel – das ist also vor allem dreierlei: die Verwandlung der alltäglich verwaschenen Gebärdem in verfestigte gestische Figuren; der Übergang vom Berühren und Spüren zum Sehen; und die Einführung eines Selbstbezuges, der im Sich-Beobachten, Sich-Sehen, Sich-Prüfen besteht, immer im Hinblick auf ein Größen-Bild, in dem das Moment der Berührung verlorengeht. Rhetorisch wirken zu wollen – ich meine, in einem gewissen Ausmaß heißt das, so auf sich zu blicken.
3. Die Größe des Politischen
Mein Ziel war es, zu zeigen, dass in der Antike eine Rhetorisierung der Gebärden stattfindet – und dass auf diese Weise Körper und Gebärden in das Feld des Politischen überführt werden. Bisher habe ich aber nur dargestellt, wie diese Rhetorisierung verläuft: in paradigmatischer Weise zeigt sich dieser Verlauf durch die Urszene des Rhetoren vor dem Spiegel. Wie kommt hier das Moment des Politischen ins Spiel? Um zu beschreiben, wie das politische Moment in die rhetorisierten Gesten eindringt, kann man auf eine Passage aus der Politik des Aristoteles zurückgreifen. In ihr beschreibt Aristoteles das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit einer politischen Entität. Er benutzt hier eine organologische Argumentation, die in der Tradition des politischen Denkens immer wieder bemüht wurde: Das Verhältnis von Einzelmensch und pólis wird durch das Verhältnis einzelner Körperteile zu einem Gesamtkörper verglichen.
Der staatliche Verband geht aber von Natur [...] jedem einzelnen von uns voraus; denn das Ganze geht notwendigerweise dem Teil voraus. Wenn nämlich das Ganze zerstört wird, wird (kein Teil), weder Fuß noch Hand, existieren [...]. Es ist damit klar, daß der Staat einmal von Natur ist und außerdem jedem einzelnen vorausgeht. Denn unter der Voraussetzung, daß jeder, wenn er isoliert lebt, nicht autark ist, muß sein Verhältnis zum Ganzen genau so sein wie das von Teilen sonst (zum Ganzen).(16)
Aristoteles will hier die Abhängigkeit des Einzelmenschen vom Ganzen der pólis denken und vergleicht die Einheit des Staates, in die der Einzelne gehört, mit der Einheit des Körpers. Hier findet aber mehr statt als eine bloß gedankliche Analogisierung: Im Hintergrund lauert hier eine Angstphantasie. Jacques Lacan hat diese Phantasie unter anderem in seinem Vortrag über das Spiegelstadium beschrieben: Er nennt sie die Phantasie des ‚zerstückelten Körpers‘. Aristoteles ruft implizit die Vorstellung eines Körpers auf, dessen einzelnen Organe sich gleichsam verselbständigen, der sich dadurch also auflöst und so quasi zerstückelt wird. Das bedeutet, anders gewendet: Wenn der Staat etwas Ganzes bleibt, dann werden sich auch die verschiedenen Organe des Körpers nicht vereinzeln. Überspitzt gesagt: Es ist hier der staatliche Verband, der die Einheit des Körpers beschützt und garantiert.
Vor diesem Hintergrund kann man jetzt die Frage beantworten, inwiefern die Politik in die antike Rhetorisierung der Gebärden eindringt. Pointiert gesagt: Der Staat zeigt dem rhetorisierten Subjekt die Einheit dieses Subjekts wie ein Spiegel. Im Sprechen über „das Nützliche und Schädliche, das Gerechte und Ungerechte“ sieht das rhetorisierte Subjekt seine eigene körperliche Totalität vor sich: Es macht erneut die aufgeladene Erfahrung des Spiegelstadiums. Vor dem Spiegel macht der Rhetor die Erfahrung, dass sein Körper nicht in Partialobjekte zerfällt. Vor dem Spiegel imaginiert er aber auch die pólis als einen Körper, der nicht in Partialobjekte zerfällt.(17) Das rhetorische Subjekt bildet sich vor dem Spiegel in dem Bewusstsein, dass es auf eine organische Weise mit der pólis verbunden ist, in der es lebt. Es argumentiert auf der Ebene dieses politischen Verbandes. Das, was Demosthenes im Spiegel sieht, sind nicht nur individuelle Gebärden – es sind Körperbewegungen, die sich auf diese ‚großen‘ Gegenstände beziehen; Bewegungen, die in diese ‚großen‘ Fragen verwickelt sind. Die rhetorisierte Gebärde wird politisiert, indem sich in das Größen-Bild des Redners von sich selbst das größere Bild des Staates einmischt – eines Staates, der erst die körperliche Integrität und die Größe des Rhetoren garantieren kann.
Abschluss
Ich habe zu zeigen versucht, dass es in den Gründungsakten des abendländischen Politikverständnisses eine bestimmte Tendenz gibt, mit den Gesten umzugehen: Man kann Politik mit Gesten machen, die in einem gewissen Ausmaß rhetorisiert sind: technisiert, visualisiert, ‚katoptrisiert‘, gespiegelt; mit Gesten, die das Moment der Berührung ins Visuelle übertragen und es dadurch aufheben. Ich habe auch zu zeigen versucht, dass sich diese Tendenz in der Ursituation des Rhetors vor dem Spiegel zusammenfassen lässt – und dass in dieser Tendenz ein Moment an den Gebärden verlorengeht, das von großer Wichtigkeit ist: eben das Moment der Berührung.
Das Berühren stellt eine Überschreitung des rein Visuellen dar. Es überschreitet die Dimension des Sichtbaren und bewegt sich in einem Bereich des Haptischen, des Spürens, der Materialität. Daher lässt sich der eigentliche Sinngehalt einer Berührung nicht im Spiegel wiedergeben – denn das Berühren ist in diesem Sinn nichts Visuelles. Berühren lässt sich nur etwas, das nicht Bild ist. Es ist zwar möglich, das visuelle Moment einer Gebärde des Berührens in ein Bild zu bannen; aber das Bild einer Berührung ist gerade nicht diese Berührung.
Der Berührung wohnt deswegen ein gewisses Versprechen inne: das Versprechen auf einen Kontakt zwischen Menschen, der nicht durch das Imaginäre bestimmt wird, nicht durch Ideal-Bilder, sondern durch die Wirklichkeit, auch die körperliche, der Menschen. Jemand, der einen anderen berührt, entzieht sich in einer gewissen Weise jener Urszene, in der die Gebärden rhetorisiert werden und in der sich die großen Bilder auf die Gebärden auswirken. Er strebt vielleicht nicht mehr so sehr danach, sich im Anderen zu spiegeln, sondern vollführt eine nicht-imaginäre Geste, eine Geste, die wirklich dem Anderen gelten kann.
Wie sähe eine Politik aus, die sich nicht aus dem Blick auf den Spiegel konstituiert, sondern in einem wörtlichen Sinn un‑spekulativ vorgeht? Es könnte naheliegend erscheinen, diese Frage mit Hilfe der Phänomenologie zu behandeln. Immerhin strebt das phänomenologische Denken im Sinn eines strengen Sachlichkeitspathos danach, die ‚Sachen selbst‘ zu betrachten, die Sachen, wie sie sich von sich her zeigen. Das bedeutet auch: Phänomenologie will ihre Themen nicht als Projektionen oder Widerspiegelungen eines Subjekts betrachten – sie will die Welt nicht im Spiegel des Subjekts sehen. Vielleicht könnte ein phänomenologisches Denken auch die Gebärden als solche ‚Sachen selbst‘ verstehen. Ein derartiges Denken müsste die Gebärden dann nicht mehr als Ergebnisse eines Sich‑Spiegelnwollens des Subjekts auffassen, sondern als tatsächliche Bezüge zu anderen Menschen, die auch dann ein Moment der Berührung besitzen, wenn sie nicht zu einem materiellen Kontakt führen.
Allerdings gibt es gewichtige Einwände gegen die Idee, die Gebärde und insbesondere das Berühren könnte gerade durch eine phänomenologische Untersuchung als solche zugänglich werden. Jacques Derrida hat in seinem Text über das Berühren bei Jean-Luc Nancy angedeutet, dass die Phänomenologie möglicherweise nicht zu einem solchen Denken gelangen kann. Er kommentiert eine Äußerung aus der aristotelischen Schrift de anima: Aristoteles sagt dort, das Berühren sei schwer zu verstehen, es sei nicht endelon, sondern adelon – nicht offenkundig, sondern verborgen.
Derrida kommentiert das so: „[...] le toucher, ce n’est pas clair, ouk estin endelon [...], c’est adelon, inapparent, obscur, secret, nocturne.“(18) Damit deutet Derrida zugleich an, dass sich die Gebärde des Berührens der Phänomenologie entzieht: Das Berühren ist nicht etwas, das erscheint, es ist ‚inapparent‘, es ist in einem bestimmten Sinn kein Phänomen. Ich denke, man kann zeigen, dass der aristotelische Begriff des dēlon in hohem Maße visuell geprägt ist – es geht hier, ganz wörtlich, um das Offensichtliche. Und ich denke, man kann zeigen, dass die Phänomenologie einen Phänomenbegriff hat, der ähnlich gelagert ist.
Man könnte das demonstrieren, indem man die Rolle näher betrachtet, die der Hand an zentralen Stellen der phänomenologischen Interpretation zukommt. Husserls berühmte Analyse der Doppelempfindung enthält zwar ein Berühren – aber die Hand, um die es da geht, berührt nur die andere Hand desselben Menschen.(19) Die Hand des Phänomenologen berührt hier nicht die Hand des Anderen. Es geht um ein Ich, das sich selbst berührt, um ein – so könnte man sagen – narzisstisches Sich-Spürenwollen.
Heidegger kehrt zu dieser Szene, zu dieser Gebärde zurück. Auch er weiß, dass es da ein Spüren, ein Berühren gibt; aber auch hier geht es nur darum, dass man sich selber spürt: „Die Hand vernimmt man, weil es meine Hand ist, in ihrer Lage auch ‚von innen‘ her.“(20) Husserl und Heidegger wissen hier, dass das Spüren der Hand etwas ‚Inneres‘ ist; aber wissen sie auch, dass es sich ‚draußen‘ abspielt, nicht einfach ‚in einer Welt‘ (so deutet Heidegger ja das ‚Draußen‘, für das es eigentlich kein ‚Innen‘ geben soll), sondern in der Beziehung zum Anderen, zu diesem Mitmenschen? Vielleicht betonen die Phänomenologen zu sehr, dass die Phänomene gesehen werden sollen; vielleicht betonen sie zuwenig, dass man Kontakt mit den Phänomenen haben könnte, Berührung, Ertasten. Vielleicht lässt sich der Begriff des Phänomens gar nicht ‚haptisch‘ zu bestimmen.
Wenn diese Kritik richtig ist, dann wird die Phänomenologie Schwierigkeiten haben, die Berührung adäquat zu beschreiben; denn dann ereignet sich die Berührung in einem Bereich des Vorphänomenalen. Sie geschieht in der Dunkelheit, in der man nicht sieht, sondern spürt – in der Nacht des Haptischen, des Taktilen, und nicht im Licht des Visuellen.
Wie also sähe eine Politik aus, die sich nicht aus dem Blick auf den Spiegel konstituiert, sondern in einem wörtlichen Sinn un‑spekulativ vorgeht? Sie wäre nicht durch große Gesten bestimmt, sondern durch jenes Versprechen, das hier bereits erwähnt wurde: durch das Versprechen auf einen Kontakt zwischen Menschen, der nicht durch das Imaginäre bestimmt wird, nicht durch Ideal‑Bilder, sondern durch die Wirklichkeit, auch die körperliche, der Menschen selbst. Mir ist im Moment nicht klar, wie man diese Politik konkret beschreiben müsste. Aber das ist es, was ich unter Touching Society verstehen möchte: eine Politik, die sich auf eine andere Weise der Gebärden bedient oder die von anderen Gebärden ausgeht, als es die Politik der großen Gesten tut.
Fußnoten:
6.9. Touching Society
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