TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Januar 2010

Sektion 6.9. Touching Society
SektionsleiterInnen | Section Chairs:Arno Böhler und Katja Mayer (Universität Wien, Österreich)

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Götzen-Dämmerung: Von der Verbannung des Sinns durch heilige Namen 

Arno Böhler (Wien) [BIO]

Email: arno.boehler@univie.ac.at

 

Götzen-Dämmerung 1: Moral – ?

In seiner Vorrede Zur Genealogie der Moral nennt Nietzsche die Frage nach der Herkunft moralischer Wertschätzungen sein eigenstes, sein ureigenstes „A priori“ (KSA 5, 249)(1). Auf jeden Satz, der bisher auf Erden als Moral gefeiert worden ist, lässt er, und zwar von Kindheit an, fast instinktiv ein dickes Fragezeichen folgen. Wer seinen Namen deuten will – und Nietzsche fürchtet sich in Ecce Homo vor nichts so sehr, als davor, in seinem Eigensten verwechselt zu werden –, der muss sich daran gewöhnen, Nietzsche als Fleisch gewordenes Fragezeichen hinter den Worten „Sinn“, „Moral“, „Wert“ zu lesen.

Fragen wir, woher diese Annäherung der beiden Zeichen „Moral“ und „?“ bei Nietzsche kommt – denn die Moral von Jahrtausenden lehrt uns gerade das Gegenteil: eine tief sitzende Feindschaft der beiden Zeichen gegeneinander – dann führt uns diese Frage, wie könnte es anders sein, zurück auf Nietzsches Kindheit. Denn schon mit 13 Jahren hat dieses „junge Ding“ eine Abhandlung über die Frage nach dem Ursprung von Gut und Böse verfasst und dabei den Verdacht geäußert, dass das Wort „Moral“ in der Geschichte der Menschheit nahezu ausnahmslos ein Label für etwas ganz anderes war. Für etwas, das mit Moral, um es gelinde zu sagen, wenig zu tun hatte. Kurz: die Einsicht überkam Nietzsche schon früh, dass „Moral“ bisher der weit verbreitetste Deck- und Codename für unmoralisches Handeln war. Gerade darum hatte ein solches Benehmen das Banner der Moral besonders nötig. – Musste es dieses explizit vor sich hertragen: als Maske, als Schild, als Vorwand, als Schwert, mit Hilfe dessen etwas ganz anderes an die Macht kommen konnte, an die Macht kam! Denn der Erfolg über Jahrtausende gab dieser alt bewährten Methode schließlich Recht.

 

Götzendämmerung 2: Nietzsches Singularität als unser konkretes Allgemeines

„Bei einer mir eignen Bedenklichkeit, die ich ungern eingestehe – sie bezieht sich nämlich auf die Moral, auf Alles, was bisher auf Erden als Moral gefeiert worden ist – […] musste meine Neugierde ebenso wie mein Verdacht bei Zeiten an der Frage Halt machen, welchen Ursprung eigentlich unser Gut und Böse habe.“(2)

Verbergen wir es nicht. Es scheint sich bei Nietzsches Passion – der Beantwortung der Frage nach dem Ursprung von Gut und Böse –, um eine recht antiquierte Fragestellung zu handeln. Dass sie ihn schon in seiner Kindheit verfolgt und angerührt hat, stärkt nur unsere These, dass es sich hier um ein traumatisches Kindheitserbe von „klein Fritzchen“ handelt, dem schon früh sein „amor fati“ – sein geliebter Papi – und bald danach auch noch sein Brüderchen weggestorben war.

Aber, so fragen wir uns an dieser Stelle mit den meisten: „Was geht uns eigentlich ein Herr Professor Friedrich Nietzsche an? Seine Passionen, seine Dekadenz, sein ganz persönlicher Leidensweg?“

Sicherlich. Herr Professor Nietzsche selbst hat in seinen Schriften gerade behauptet, dass seine Idiosynkrasie für unser Zeitalter im Ganzen symptomatisch sei. Sie habe nichts Privates an sich, sondern sei von höchstem öffentlichem und staatlichem Interesse. Mehr noch. Seinen Texten zufolge scheint es, als habe er gerade diese, seine Idiosynkrasie und Leidenschaft, was moralisch-religiöse Fragestellungen betrifft, als Empfang eines epochalen Calls(3) gedeutet, der einst seine ihm, und nur ihm zukommende historische Bedeutung ausgemacht haben wird. Gerade aufgrund dieser singulären, unvergleichbaren Konstellation, so dachte er, in die er durch das Karma seiner Geburt geworfen wurde – Sohn eines Landpfarrers, ausgestattet mit einem völlig überreizten Gewissen, in dem das Erbe von zweitausend Jahren christlicher Erziehung, christlicher Züchtigung, christlicher Nagetiertechnik Instinkt geworden ist –, gerade aufgrund dieses dekadenten christlichen Gewissens fühlte er sich insgeheim berufen, ein vom Schicksal auserkorenes Exempel zu sein, in dem die Geschichte von Jahrtausenden im Großen und Ganzen ihren letzten Schlussstrich zieht. – Einen letzten Ausweg sucht, Zäsuren erfindet, Umwege simuliert, Abwege geht, um schließlich eine ganz neue Geschichte zu beginnen, in der die große Gewissenskollision, an der unsere Zeit insgesamt leidet, gelöst und überwunden worden sein wird… – Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. So also dachte Nietzsche über sich selbst in seiner für ihn charakteristischen Maßlosigkeit.

Und doch. Reicht es nicht, einen flüchtigen Blick auf die gegenwärtigen Großkonflikte in unserer Welt zu werfen, um allerorts die globale Wiederkehr religiöser Rhetorik als Grundtenor der Geschichte des 21. Jahrhunderts zu vernehmen? Und fragen wir, was dieser religiösen Rhetorik entgegengesetzt wird – man denke nur an die Begründung der Angriffe im Kosovo-Konflikt, die von vielen als erster Krieg unter dem Banner der „Menschenrechte“ begrüßt, bejubelt und emphatisch gefordert wurde, dann wird mit einem Schlag klar: noch immer sind es moralisch-religiöse Sinn- und Wertgebungen, in deren Namen „heilige Kriege“ geführt und gerechtfertigt werden. Auch heute noch. Oder könnten wir uns die öffentliche Legitimation von Kriegen und Kriegsverbrechen ohne solche „heilige Namen“ überhaupt auch nur vorstellen? Ohne die Berufung auf den religiösen Mastercode „Gott“ oder politische Mastercodes, die einen irdischen Wohlstand der Seele versprechen, in dem sich der Sinn der Geschichte im Ganzen global gebündelt, in ein Ganzes vollendet und damit auf endgültige Art und Weise ein für alle Mal geschichtlich totalisiert haben wird?…

Woraus wir schließen können, dass uns ohne „heilige Namen“ vermutlich die Gründe und öffentliche Zustimmung für „heilige Kriege“ insgesamt abhanden käme. Ja nicht nur die Gründe, sondern darüber hinaus auch noch die Mittel. Sind es doch gerade solche Mastercodes – genauer die Autorität solcher Mastercodes – mit deren Hilfe man auch heute noch eine Mobilisierung der Massen im „Generalen“ zuwege bringt.

Dass diese Sprachspiele auch heute noch funktionieren stützt sich auf die Tatsache, dass der aktuelle Ge-brauch dieser Worte immer noch auf ein altehrwürdiges Brauch-tum rekurieren kann,(4) das aufgrund einer tiefeingefleischten Tradition immer noch die Macht besitzt, quasi automatisch Ehrfurcht und Respekt in uns auszulösen –; analog einem habilitierten Reflex,(5) der uns beim Zitat(6) solcher „heiliger Namen“ unwillkürlich überkommt und kulturell gesehen daher ganz unmittelbar anrührt. Ein Sachverhalt, aus dem ersichtlich wird, dass solche historisch generierte Mastercodes vor allem eines ausschließen müssen: Fragezeichen; dicke Fragezeichen, die hinter diese „heiligen Namen“ gesetzt werden.

Wenn es aber so um unser Global Village steht, dann drängt sich zwangsläufig der Gedanke auf, ob die ganz persönliche Passion des Herrn Professor Nietzsche für die Frage nach dem Ursprung religiös-moralischer Wertschätzungen, ob eine solche, nur dem Anschein nach persönlich anmutende Idiosynkrasie für unser Zeitalter nicht wirklich symptomatisch und lehrreich sein könnte? Dann nämlich, wenn wir Nietzsche ernst nehmen und seinen Namen als Schicksal lesen, in dem sich die Welt des 20./21. Jahrhunderts in ihrer entscheidenden Problematik im Großen und Ganzen schon im 19. Jahrhundert frühzeitig erahnt, seismographisch erspürt,(7) in einem Testlauf(8) der Geschichte am eigenen Leib simuliert und dabei virtuell durchgespielt hat? „Ich kenne mein Loos.“, sagt er in Ecce Homo. „Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, – […] an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“(9) Also sprach Nietzsche über sich selbst in seinen späten Memoiren.

Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit? Ein Satz der verstört. Worte, die schrecken. Aufgeladen mit unzähligen Bildern, die uns im 20., im 21. Jahrhundert global ins Wohnzimmer geliefert worden sind. „I will send my terror before you, and will throw into confusion all the people...“ Exodus 23:27. Also sprach einst der Allerhöchste. Einst, vor tausenden Jahren schon. Auch das noch.

 

Götzen-Dämmerung 3. Moral: Die Übersetzung ästhetischer Zustände in ethische Wertschätzungen

„In der Tat gieng mir bereits als dreizehnjährigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach […] – und was meine damalige ‚Lösung’ des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und machte ihn [den Allerhöchsten A. B.] zum Vater des Bösen.“(10)

Inzwischen ist Nietzsche erwachsen geworden und gerade dabei, seine Schrift Zur Genealogie der Moral zu verfassen. Als gereifter Mitte-Vierziger hat er gelernt, die Ursachen des Bösen nicht mehr hinter, sondern in der Welt selbst zu suchen und seine Frage nach dem Ursprung des Bösen auf weniger naive Art und Weise zu stellen als damals, mit 13 Jahren. Unter welchen ästhetischen Bedingungen, so fragt er sich nun, erfand sich der Mensch eigentlich moralisch-religiöse Werthurteile wie gut und böse? Um gleich ein noch radikaleres Fragezeichen nachzusetzen. Welchen Werth haben solche moralisch-religiösen Ausdeutungen und Übersetzungen ästhetischer Gefühle in ethische Wertschätzungen überhaupt? Haben sie überhaupt einen Wert, oder sind solche Werturteile nicht grundsätzlich wertlos, zumindest suspekt?(11)
Machen wir uns die Beantwortung dieser Frage nicht zu leicht. Natürlich haben Werturteile, in denen der Sinn des Ganzen beurteilt wird, objektiv gesehen keinen Wert. Denn wie sollten wir den Sinn des Ganzen überblicken, wie die Allmacht der Zeit abschätzen, das Ende der Zeit im Voraus absehen können? „Urtheile, Werthurteile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Werth als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht, – an sich sind solche Urtheile Dummheiten,“ denn „der Werth des Lebens“ kann „nicht abgeschätzt werden.(12) Aber diese banal anmutende Einsicht, dass es keinen “objektiven”, keinen “an sich” bestehenden Sinn des Lebens gibt: keinen Endzweck der Geschichte, keine vollendete Seligkeit, die irgendwann, irgendwo, in dieser oder einer anderen Welt endgültig realisiert worden sein wird, so dass das Ende der Geschichte nur die endgültige Rück- und Einkehr der Zeit in den ursprünglichen Sinn des Ganzen gewesen wäre.(13) – Diese Einsicht in die große Sinn-Leere des Da-seins, die den rechtverstandenen Nihilismus Nietzsches zur einzig redlichen Philosophie über den Sinn des Ganzen macht – sie bedeutet für ihn gerade nicht, dass jede Sinngebung, dass jede Aussage über den Sinn des Ganzen für sich genommen ebenfalls wertlos wäre. Für sich genommen, das heißt eben für sich am eigenen Leibe als wahr, als überzeugend, als attraktiv, als animierend, als lustvoll genommen und damit an sich selbst ästhetisch als sinnvoll erfahren machen solche Wert- und Sinngebungen für Nietzsche sehr wohl Sinn. Mehr noch. In der Einsicht, dass der Sternengang der Menschheitsgeschichte letztendlich von gar nichts anderem handelt und sich um gar nichts anderes dreht, als eben um solche Sinngebungen in Bezug auf das „Wohin“ des Seienden im Ganzen, in dieser philosophischen Erkenntnis gründet gerade Nietzsches Forderung nach einer Philosophie der Zukunft. Nach einer zukünftigen Philosophie also, in der die Frage nach dem Sinn und Wert unseres globalen Da-seins im Ganzen zu einem philosophischen Problem höchster Priorität erhoben worden sein wird. Diese Philosophien der Zukunft, in denen im Vorhinein ein kommender Wohlstand der Seele verkündet wird – sei es Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, sei es der neoliberale „American Dream“, sei es „das Kommunistische Manifest“, seien es die „Schriften der Propheten“ –, diese Texte machen für Nietzsche im recht verstandenen Sinne nicht nur für sich, sondern sogar objektiv Sinn. Denn jede geschichtsphilosophische Antizipation eines Endzwecks der Geschichte sieht sich aufgrund des imaginären Charakters solcher Versprechungen per se genötigt, nach geeigneten „Objekten“ Ausschau zu halten, dienach einer solchen allgemeinen Sinn- und Wertordnung des Seienden im Ganzen verlangen und der imaginären Ordnung des versprochenen Sinns im Befolgen desselben damit ganz objektiv ihr Fleisch, ihre Lust, ihr „virtuelles“ Engagement zur Verfügung stellen.

Da diese Passion nach einem alle Seelen eines Gemeinwesens ergreifenden und animierenden „generalen“ Gemeinsinns nicht wenigen Menschen eigentümlich ist, nehmen imaginäre Diskurse für Nietzsche im Laufe der Zeit also ganz „objektiv“ die Macht und Magie „heiliger Namen“ an. Sie werden dann, zumindest für eine bestimmte Zeit lang, zu alles dominieren Order-Words (Stratifikanten)(14), in denen der Sinns des Ganzen im Begriff ist, Fleisch zu werden: unsere Körper also regulativ zu regulieren.

Sich der Architektonik dieser Phänomenologie des Geistes sehr wohl bewusst seiend, kann Nietzsche daher behaupten, dass es sich in der Geschichte der Menschheit letztlich immer um die Erfinder von „heiligen Namen“ gedreht hat, die „Fleisch“ geworden sind. Um Worte also, die im Stande sind, die Entscheidungsträger einer Epoche – früher waren es einige wenige Männer, heute ist es die Macht der Masse – ästhetisch anzuziehen, seelisch zu faszinieren, geistig zu mobilisieren und damit auf signifikante Art und Weise für sich zu gewinnen und kardinal zu ordnen. Denn in einem ist sich Nietzsche nun sicher geworden. Nach langem Suchen, Zaudern, Fragen, Tasten, Verwerfen und Abwägen hat er hier, bei der Beantwortung der Frage nach dem Ursprung von Gut und Böse, nun „an sich“ selbst eine ihn überzeugende Wahrheit gefunden, an der er in Zukunft nicht mehr zu zweifeln gedenkt: „Moral ist die Über-setzung ästhetischer Empfindungen in ethische Wertschätzungen.“(15)

 

Götzendämmerung 4: Willkommen in der Wüste des Realen

In einem Artikel, in dem Slavoj Zizek seine Sicht auf 9/11 verarbeitet hat, stellt er sich die Frage, die entscheidende Frage, was eigentlich das Angriffsziel religiös motivierter Terrorattacken sei. Ihre „entscheidende Message“, so Zizek, „ist nicht irgendein profunder ideologischer Sachverhalt, sondern [ihre| unmittelbare traumatische Wirkung…“(16)

Von Nietzsche haben wir soeben gehört, dass der Adressat religiöser Sinngebungen seit jeher die Empfindsamkeit unseres Fleisches war. Auf diesen sensiblen Nerv haben es religiös-moralische Sinngebungen im Besonderen abgesehen. Nicht die Aufstellung einer intellektuellen Forderung, sondern die Produktion eines spektakulären biopolitischen Ereignisses, das unter die Haut geht, das am eigenen Leibe unmittelbar spürbar ist, steht bei ihrer Art von Rhetorik und Kriegsführung im Vordergrund. Auch “ihre Feinde” müssen daher unmittelbar auf der Ebene der Empfindsamkeit getroffen werden, um das selig machende Heilsversprechen, dem ihr Fleisch fälschlicherweise folgt, eben als unseligen Götzen, als Irrtum, als verkehrte Ordnung einer falschen Glückseligkeitslehre zu entlarven. Nicht gegen die Person des Gegners, sondern gegen sein Fleisch, das Zeuge einer falschen Wohlstandslehre ist, sind solche Attacken gerichtet. Wobei der Terminus „Fleisch“ hier eine streng philosophische Definition angenommen hat. Fleisch ist die leibhaftige Besorgung einer Ökonomie des Wohlstands, die von uns objektiv befolgt wird, da wir uns von ihr einen kommenden Wohlstand der Seele verspechen.

Täuschen wir uns also nicht. Schon für Nietzsche gibt es keine Ethik, die insgeheim nicht eine Schlusslehre unserer Affektivität, ein Syllogismus unserer Seligkeit wäre. „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er… Das Selbst sagt zum Ich: ‚hier fühle Schmerz!’ Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr leide – und dazu eben soll es denken. Das Selbst sagt zum Ich: ‚hier fühle Lust!’ Da freut es sich und denkt nach, wie es noch oft sich freue – und dazu eben soll es denken.“(17) Also sprach Zarathustra.

Aus diesem einfachen Grunde kann Nietzsche seinen Zarathustra mit der schlichten sensualistischen Weisheit enden lassen: „Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit –, – Will tiefe, tiefe Ewigkeit!“(18) Sätze, mit denen der soteriologische Imperativ unseres Gemüts gefunden und auf seinen allein selig machenden Nenner gebracht worden ist.(19)

 

Götzendämmerung 5: Vom Sinn des Exils inmitten der Exile des Sinns

Nachdem Nietzsche den Schlüssel für ethische Sinngebungen in der soteriologischen Organisation unserer Empfindsamkeit verortet hat – jede Ethik muss dieser Lehre gemäß einen neuen Wohlstand der Seele verkünden, der uns durch die Aussendung von Lustgefühlen ästhetisch zu überzeugen weiß – kann sich Nietzsche nun fragen, welche affektiven Bedingungen im Besonderen nach religiös-moralischen Sinngebungen verlangen.

Seine Antwort auf die Frage nach einem möglichen „Täter- und Opferprofil“ religiös-moralischer Wertschätzungen mutet zunächst einmal trivial an: „Der Mensch, an sich selbst leidend, irgendwie, jedenfalls physiologisch, etwa wie ein Thier, das in den Käfig gesperrt ist, unklar, warum, wozu?, [folglich] begehrlich nach Gründen“.(20) Nicht alle eignen sich demnach gleichermaßen für eine moralisch-religiöse Ausdeutung des Lebens. Um für eine solche Interpretation empfänglich zu sein braucht es vielmehr Menschen, die wie Tiere in Käfige gesperrt und darin gewaltsam, ohne ersichtlichen „Grund“, festgehalten werden. Denn nur hier, in diesen Exilen des Sinns, in denen sich die physische Erfahrung von Schmerz mit der sozialen Erfahrung völliger „Ohnmacht“ gegenüber einer übermächtigen Gewalt paart, sind für Nietzsche die wirklichen Ursprungsbedingungen für moralisch-religiöse Sinngebungen gegeben. Da, wo die Übermacht eines Peinigers am eigenen Leib schmerzlich erfahren wird, da hat man eben höhere Gewalten, da hat man imaginäre Mächte nötig, um den realen Machtverhältnissen zu entkommen. Reflexartig phantasiert man-sich in solchen Folterkammern der Ohnmacht eine fremde, eine andere, eine freie Welt, welche der am eigenen Leib verspürten Hölle entgegensetzt ist. Die realen Verhältnisse werden in diesen Kerkern der Seele imaginär, also ein zweites Mal erschaffen, und zwar mit dem einzigen Unterschied, dass die Machtverhältnisse zwischen Peiniger und Gepeinigtem in der Imagination ihren Platz getauscht haben. Die leidende Kreatur tritt nun, Hand in Hand an der Seite einer höheren Gewalt auf, die über ihre Peiniger zu Gericht sitzt und jene „Gerächtigkeit“ exekutiert, die das Opfer aufgrund seiner realen Ohnmacht in Wirklichkeit gerade nicht selbst zu vollziehen vermag. Unter qualvollen Lebensumständen hat man, hat „frau“ also ganz automatisch auf das letzte verbliebene Fluchtorgan zurückgegriffen, das einem in solchen Lebenslagen noch bleibt: das Fluchtorgan unserer Einbildungskraft. Unsere Kraft der Imagination ist nun zum alles und allein dominierenden Instinkt geworden. Zum letzten verbliebenen Organ der Macht eines zur Ohnmacht verdammten „Tiers“, das leidet und daher flüchten will – „wie ein Thier, das in den Käfig gesperrt ist, unklar, warum, wozu?, [folglich] begehrlich nach Gründen“.(21)

Da es in einer so bedrohlichen Lebenslage zunächst einmal nur darum geht, das erlittene Trauma abzuwehren, es imaginativ zu leugnen und abzustreiten, aus diesem Grund sind Menschen in so prekären Lebenslagen imaginären Ursachen ganz besonders zugeneigt. „Der ganze Bereich der Moral und Religion gehört unter diesen Begriff der imaginären Ursachen“(22) – Und das darum, weil es bei der religiös-moralischen Begründungsart zu-nächst einmal gar nicht um die wahren Ursachen des Leidens geht, sondern um ein möglichst rasches Loswerden des erlittenen Schmerzes durch einen unreflektierten Rückgriff auf zufällig verfügbare Begründungen. Denn: „Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem ein Gefühl von Macht […] – der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen Zustände wegzuschaffen. Erster Grundsatz: irgend eine Erklärung ist besser als keine.(23)

Lieber an Gespenster glauben als in einer so schrecklichen Lage an gar nichts mehr glauben. So lehrt Nietzsches Hantologie.(24) Weil es im Grund nur um das Loswerden-wollen von drückenden Vorstellungen geht, „nimmt man es nicht gerade streng mit den Mitteln, sie loszuwerden: die erste Vorstellung, mit der sich das Unbekannte als bekannt erklärt, thut so wohl, dass man sie ‚für wahr hält’.“(25) Was kümmert uns in einer solchen Lebenslage – hier, am wirklichen Quellgrund moralisch-religiöser Wertsetzungen –, die „Wahrheit“?, „die Moral“? Irgendeine Begründung ist immer noch besser als gar keine. – Und da es immer schon diskursiv verfügbare Profile für eine mögliche Markierung möglicher Übeltäter in einem Gemeinwesen gibt, die als Ursache solcher Übeltaten gewöhnlicherweise in Frage kommen, sind wir mit den Ursachen für unser Leiden in solchen Fällen doppelt schnell bei der Hand. „Es wird also nicht nur eine Art von Erklärungen als Ursache gesucht, sondern eine ausgesuchte und bevorzugte Art von Erklärungen, die, bei denen am schnellsten, am häufigsten das Gefühl des Fremden, Neuen, Unerlebten weggeschafft worden ist, – die gewöhnlichsten Erklärungen.“(26)

Nietzsche schickt an dieser Stelle den Automatismus unserer Rache- und Ressentimentgefühle auf grandiose Art und Weise in Analyse. En passant macht er uns darauf aufmerksam, dass unsere Diagnosen, die Ursachen unseres Unwohlseins betreffend, zunächst einmal gar nicht auf „Wahrheit“ abzielen, sondern für eine Sprachgemeinschaft bloß symptomatisch sind. Da jede Sprachgemeinschaft über ihr eigenes, historisch generiertes Profil vonÜbeltätern und Sündenböcken verfügt, die für erlittenes Leid gewöhnlich verantwortlich gemacht werden, sind wir mit der Identifikation eines wohlbekannten Übeltäters in jedem Gemeinwesen schnell bei der Hand. „So entsteht eine Gewöhnung an eine bestimmte Ursachen-Interpretation, die in Wahrheit eine Erforschung der Ursache hemmt und selbst ausschließt.“(27)

Fazit: Eine habilitierte, eingewöhnte Verkettung von Schmerzzuständen wird mittels wohlbekannten Signifikanten auf gewohnte Art und Weise in Verbindung gebracht und führt damit zur Ausbildung imaginärer Götzen, die von nun an in unseren Sprachsystemen als identifizierbare „Zeichen des Bösen“ kursieren. Gegenüber der performativen Kraft dieser diskursiven Götzen, so Nietzsche in seiner Götzen-Dämmerung, sind alle realen Gründe und „Realitäten“ etwas bloß Sekundäres, Akzidentielles,  Hinzugefügtes. 

 

Götzendämmerung 6: Die Veränderung der Vorzeichen (+/–)

Gerade weil dem so ist, gilt es, zumindest seit der Name Nietzsche in Erscheinung getreten ist, bei allen Lehren, die einen allgemeinen Wohlstand der Seele predigen, dicke Fragezeichen folgen zu lassen und äußerste Vorsicht walten zu lassen! Denn wenn irgendwo, dann sind wir gerade darin Jünger und Gefolgsleute des Signifikanten „Nietzsche“, dass wir uns gleich ihm inmitten des Global Village besonders über jenes beängstigende Faktum wundern, dass das Wort „Moral“, dass das Wort „Religion“, dass politische Mastercodes wie „das Volk“, „die Nation“, „Amerika“, „der Wohlstand der Meisten“, „der Kommunismus“, ja selbst „Demokratie und Menschenrechte“ immer noch so unbedenklich, so unhinterfragt, so gedankenlos kursieren dürfen.

Dass mit diesen großen Worten auch heute noch massenhaft Ehrfurcht bei den Menschen erzeugt werden kann, das ist eine Wahrheit, die uns und unseresgleichen empfindlich empört. Vielleicht, dass von daher das Geschlecht von Singularitäten, das uns gleicht, erst sein kollektives „Wir“ erleidet. „Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: Wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu thut eine Kenntnis der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständnis, aber auch Moral als Ursache, als Heilmitttel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift)“(28) Im Namen „Heiliger Namen“ wird auch heute immer noch viel Blut vergossen und Unheil angerichtet. Man sollte es nicht glauben. Auch heute noch.

 

Epilog

„Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit –, – Will tiefe, tiefe Ewigkeit!“(29)

 Lassen wir uns von der Selbstverständlichkeit dieser Proposition nicht täuschen! Es waren gerade tiefe Bedenken gegenüber diesem Satz, die es um Nietzsche einst still werden ließen.

„Hat nicht alle Welt seit jeher das Gegenteil gepredigt? –: ‚Lust spricht: Vergeh! Doch aller Frust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!’…? Wurde auf Erden je etwas anderes gepredigt? – Schlimmer noch. Wurden sie, die so redeten, von den Menschen bisher nicht gerade als Sinngeber und Wahrsager der Menschheitsgeschichte gepriesen und angerufen? Vor allem dann, wenn es gefährlich wurde, wenn Krisen drohten? Hat sich die Menschheit bis zum heutigen Tage nicht gerade dann, wenn es ‚ernst wurde’, wenn es um ‚Leben und Tod’ ging, gerade an sie, die Prediger dieses Wahn-Sinns gewandt und gerade ihnen die Wende ihrer Not anvertraut?“

Dieses oder Ähnliches ist Nietzsche wohl durch den Kopf gegangen und in den Magen gefahren, als sich jenes große Tabu in ihm meldete, das eigentlich still hätte bleiben sollen: das große Tabu unserer „heiligen Namen“. „Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt: das ist mein ‚böser Blick’ für diese Welt, das ist auch mein ‚böses Ohr’… Hier einmal mit dem Hammer Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort jenen berühmten hohlen Ton hören, der von geblähten Eingeweiden redet, – welches Entzücken für Einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat, – für mich alten Psychologen und Rattenfänger, vor dem gerade Das, was still bleiben möchte, laut werden muss…“(30)

Durch ein Ohr zuviel,(31) das hinter den uns bekannten organischen Ohren liegt, hat sich in Nietzsches Gehör eine immer tiefer sitzende Unsitte eingebürgert, die gerade das erlauscht, was sich zu hören am wenigsten schickt: das unerhörte Tabu, das unsere heiligen Namen umgibt! Hier kein Ohr zu haben, hier taub zu sein, das schien ihm gerade der kategorische Imperativ aller bisherigen Moral gewesen zu sein. Wo die Allermeisten taub, still und stumm gewesen waren, an diesem verschwiegenen Ort erheischt Nietzsches pathologische Gehör nun gerade eine Wahrheit, die ihn zunächst einmal in Furcht und Zittern versetzt: Dass die „Wahrheit“ von den Menschen bisher als „Lüge“ und die „Lüge“ der Menschen umgekehrt als „Wahrheit“ ausgegeben wurde. Denn mit dieser Offenbarung wusste er die Schlagkraft „der wahren Lüge“ von Jahrtausenden mit einem Schlage gegen sich gerichtet. Die ganze Allmacht und unbedingte Autorität aller „heiligen Namen“ musste sich nun, mit dialektischer Notwendigkeit, gegen ihn selbst wenden: ihre Wucht, ihre Flüche, ihre ganze Rhetorik und performative Kraft. Während das sedimentierte Archiv unserer heiligen Namen von der Menschheit bisher also gerade als Ort der Stille, des Gebets und des ewigen Friedens verehrt worden ist, endet hier gerade Nietzsches eigener Seelenfriede. „Mit Alledem bin ich nothwenig auch der Mensch des Verhängnisses. Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden […] alle Machtgebilde der alten Gesellschaft […] in die Luft gesprengt – [denn A.B.] sie ruhen allesamt auf der Lüge.“(32) 


Fußnoten:

1 Zitiert nach der Kritischen Studienausgabe (KSA), Sämtliche Werke, (Hg.) von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, DTV-Walter de Gruyter, München Berlin NewYork 1980.
2 KSA 5, 249.
3 Zur Singularität des Angerufenwerdens siehe (Hg.) GRENZ-film, The Call. DVD-Buch Interviews mit Avital Ronell, Passagen Verlag, Wien 2005.
4 Eine sprachphilosophische Deutung passiver Synthesen als sedimentierter Bedeutsamkeit finden wir vor allem bei Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin Verlag, Berlin 1998 und Arno Böhler, Singularitäten. Vom zu-reichenden Grund der Zeit, Passagen Verlag, Wien 2005.
5 Zur Eidetik passiver Synthesen siehe Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, Husserliana Band XI, Martinus Nijhoff, Den Haag 1966.
6 Zum alltäglichen Vollzugscharakter der Sprache als aktuellem Zitat altehrwürdiger Traditionen siehe Jacques Derrida, Limited Inc., Passagen Verlag, Wien 2001.
7 Zu Nietzsches Experimentalphilosophie siehe Volker Gerhardt, „Experimental-Philosophie“, in: Volker Gerhardt, Pathos und Distanz, Reclam Verlag, Stuttgart 1988, 163-188. 
8 Zum „testing“ als Grundaxiom der Gegenwartskultur vgl. Avital Ronell, „The Test Drive“, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Deconstruction is/in America, New York University Press, New York 1995, 200-222.
9 KSA 6, 365.
10 KSA 5, 249.
11 Siehe, KSA 5, 250.
12 KSA 6, 68.
13 „Das Resultat ist nur darum dasselbe, was der Anfang, weil der Anfang Zweck ist; – oder das Wirkliche ist nur darum dasselbe, was sein Begriff, weil das Unmittelbare als Zweck das Selbst oder die reine Wirklichkeit in ihm selbst hat.“ G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 26. Werke Band 3, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main  1986.
14 „Als Befehle oder Kennworte bezeichnen wir nicht eine spezielle Kategorie von expliziten Aussagen (zum Beispiel im Imperativ), sondern die Beziehung jedes Wortes oder jeder Aussage zu impliziten Voraussetzungen, das heißt zu Sprechakten, die sich in der Aussage vollenden und sich nur in ihr vollenden Können. Befehle beziehen sich auf… alle Handlungen, die durch eine ‚gesellschaftliche Verpflichtung’ mit Aussagen verbunden sind.“ Gilles Deleuze/Felix Guattari, Tausend Plateaus, 111. Merve Verlag, Berlin 1992.
15 Diese Entdeckung, dass in jeder Ethik eine Auslegung der Hierarchie unserer Affekte am Werk ist, teilt Nietzsches Deutung der Genealogie moralischer Wertschätzungen mit Schopenhauers Philosophie, Freuds Psychoanalyse sowie mit Derridas Dekonstruktion unserer Empfindsamkeit. Vgl. dazu Jacques Derrida, Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits, 16ff. Brinkmann & Bose, Berlin 1987.
16 „XII. Willkommen in der Wüste des Realen“, 147. In: Slavoj Zizek, Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002.
17  KSA 4, 40.
18 KSA 4, 404.
19 Zur Dekonstruktion des Pleasure Principles (PP) siehe vor allem Jacques Derrida, Die Postkarte, 46-61.
20 KSA 5, 389.
21 KSA 5, 389.
22 KSA 6, 94.
23 KSA 6, 93.
24 Zum Terminus Hantologie vgl. Jacques Derrida, Marx ` Gespenster, 27ff. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1995.
25 KSA 6, 93.
26 KSA 6, 93.
27 KSA 6, 92.
28 KSA 5, 253
29 KSA 4, 404.
30 KSA 6, 57f.
31 Zu diesem mirakulösen Ohr von Nietzsche vgl. Jacques Derrida, „Otobiographien – Die Lehre Nietzsches und die Politik des Eigennamens“, in: Jacques Derrida/Friedrich Kittler, Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht, Merve Verlag, Berlin 2000, 9-63.
32 KSA 6, 366.


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For quotation purposes:
Arno Böhler: Götzen-Dämmerung: Von der Verbannung des Sinns durch heilige Name -l In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/6-9/6-9_boehler.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-01-27