Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Januar 2010 |
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Sektion 6.9. |
Touching Society SektionsleiterInnen | Section Chairs:Arno Böhler und Katja Mayer (Universität Wien, Österreich) |
„Pimp my wisdom!“
Philosophischer Wissenstransfer zu und mit Jugendlichen
Peter Kaiser (Wien) [BIO]
Email: peterkaiser@aon.at
Im österreichischen Schulsystem ist der Philosophieunterricht erst in den 8. Klassen der AHS vorgesehen. Philosophisches Interesse erwacht allerdings schon viel früher, jenseits institutionalisierter Rahmenbedingungen. Und mancherorts wird bereits das Philosophieren mit Kindern erfolgreich praktiziert. Wie ist es aber, sich mit interessierten Jugendlichen aufs Philosophieren einzulassen?
Ich hatte im Sommersemester 2007 in der Tat das Vergnügen, einen Philosophiekurs für Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Klassen der Sir-Karl-Popper-Schule am Wiedner Gymnasium als Freifach unterrichten zu können.(1)
Wenn „Wählen ab 16“ eine berechtigte gesellschaftspolitische Forderung ist, dann sicherlich auch das „Philosophieren unter 16“. Dem wurde mit der Ermöglichung des Freifaches Zeit und Raum gegeben.
Vielleicht lässt sich diese kleine aber signifikante Ausweitung des Philosophieunterrichts auch vorsichtig als eine Umsetzung von Forderungen nach einer „Politik der Muße“ verstehen. Ich möchte deshalb Aspekte aufgreifen, die beim Philosophieren mit Jugendlichen eine wichtige Rolle gespielt haben; um danach ein paar skizzenhafte Überlegungen zur Philosophie als Advokatin einer „Politik der Muße“ zur Sprache bringen.
Zur Muße muss man sich die Zeit nehmen, wenn nicht sogar stehlen! Es verlangt einem strenges Kalkulieren und diszipliniertes Planen ab. Dies scheinen uns, wenn man so will, eben „die Musen“ abzuverlangen, um in ihr Recht gesetzt zu werden; d.h. um einer Eintragung im dicht gefüllten Terminkalender für würdig befunden zu werden.
Der konkrete Fall: Die Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler, sich am Nachmittag, von ca. 15.30 bis 17.30 Uhr, nach einem vollen Schultag noch zwei Stunden lang mit teils schwierigen philosophischen und für sie auch ganz neuen Fragestellungen und Texten auseinander zu setzen. Es war wohl alles andere als selbstverständlich, unter diesen Rahmenbedingungen auf ein dermaßen großes Interesse, eine sehr rege Diskussionsbereitschaft und wohl überlegtes Fragen zu stoßen.
Bevor ich auf den Unterricht etwas näher eingehe, möchte ich mir an dieser Stelle noch eine Bemerkung zum Titel des Vortrags erlauben. Was darin, in Anlehnung an eine Sendung auf MTV (Pimp my ride), mitschwingt, erscheint zunächst widersinnig zu sein. Denn wäre es nicht ein eklatanter Widerspruch, so etwas wie Weisheit oder Einsicht aufmotzen zu wollen? Aufmotzen um zu protzen? Nein, das würde punktuell in Bezug auf bestimmte Wissensinhalte funktionieren, im Sinne von Fragen und Feststellungen der Art: „Weißt du von wann bis wann Sokrates lebte?“, „Dir ist doch klar, dass ‚Die Armen werden ärmer, die Reichen werden reicher!’ ein Schlagwort von Marx ist, und kein Songtitel der Toten Hosen“ usw. – also eher im Sinne von: „Pimp my knowledge!“
Aber wozu und wofür? Für eine besserwisserische Fassade? Oder um zumindest – in Analogie zu dem alten philosophischen Imperativ vom stärkeren Argument, das gegen das Argument des Stärkeren gelten solle – den cooleren Spruch dem Spruch des bzw. der Coolen entgegenschleudern zu können? Ich denke nicht.
Allerdings: Wenn philosophische Wissensvermittlung bedeuten soll, das Bemühen um Begriffsklärung vermitteln zu wollen – diesen roten Faden abendländischer Philosophiegeschichte immer wieder aufzugreifen und weiter zu knüpfen –, dann tut das immer wieder Not.
Und das scheint mir ein legitimer Ausgangspunkt für gemeinsames Philosophieren zu sein. Sei es mit dem Verweis auf sokratisch-mäeutisches Hinterfragen, sei es in Bezug auf Kant den Versuch zu wagen, sich immer wieder aufs Neue „im Denken zu orientieren“; oder sei es mit Wittgenstein einen scharfen Blick in den „Werzeugkasten unserer Sprache“ zu riskieren. Wittgenstein meinte ja bekanntlich im § 11 seiner Philosophischen Untersuchungen:
Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine Zange, eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nägel und Schrauben. – So verschieden die Funktionen dieser Gegenstände, so verschieden sind die Funktionen der Wörter. (Und es gibt Ähnlichkeiten hier und dort.)
Freilich, was uns verwirrt ist die Gleichförmigkeit ihrer Erscheinung, wenn die Wörter uns gesprochen, oder in der Schrift und im Druck entgegentreten. Denn ihre Verwendung steht nicht so deutlich vor uns. Besonders nicht, wenn wir philosophieren!(2)
Und wenn wir mit Jugendlichen philosophieren, lohnt es sich, Fragen so aufzugreifen, wie sie sich aus ihren Lebensformen (i.S.v. Wittgenstein), aus der Lebenswelt der Jugendlichen ergeben. Ich möchte drei konkrete Beispiele erwähnen – zu den Schlagwörtern Hedonismus, Religionskritik und platonische Liebe.
Erstens zum Hedonismus: Warum nicht aufzeigen, dass sich dieser überstrapazierte Begriff nicht darin erschöpft, was medial inszenierte narzisstische Selbstdarstellungen tagein, tagaus als glückliches Leben repräsentieren und verkaufen wollen; dass es sich dabei nicht ausschließlich um die privilegierte Lust-Domäne von Lifestyle-Ikonen handelt – von Paris Hilton und George Clooney über die Beckhams bis zu den Rappern Snoop Doggy Dog und 50 Cent. Erinnert sei beispielsweise an dessen auf MTV in so genannter Heavy Rotation gelaufenes „Windowshopper“-Video. 50 Cent und seine afroamerikanischen Homeboys machen darin auf der Suche nach den protzigsten Klunkern die blassen Verkäuferinnen und Verkäufer der Nobelgeschäfte in Monte Carlo ganz schön nervös. Ein kleines Augenzwinkern sei trotz der stereotyp überzeichneten Macho-Pimp-Posen erlaubt. Aber wie dem auch sei; eine gänzlich andere Einschätzung der hedone begegnet uns freilich bei Epikur:
Wenn wir also sagen, die Lust sei das Ziel, meinen wir damit nicht die Lüste des Hemmungslosen und jene, die im Genuß bestehen, wie einige die dies nicht kennen und nicht eingestehen oder böswillig auffassen, annehmen, sondern: weder Schmerz im Körper noch Erschütterung in der Seele zu empfinden. Denn nicht Trinkgelage und aneinandergereihte Umzüge, auch nicht das Genießen von Knaben und Frauen, von Fischen und allem übrigen, was eine aufwendige Tafel bietet, erzeugen das lustvolle Leben, sondern ein nüchterner Verstand, der die Gründe für jedes Wählen und Meiden aufspürt und die bloßen Vermutungen vertreibt, von denen aus die häufigste Erschütterung auf die Seelen übergreift.(3)
Furcht vor dem Tode und Angst vor den Göttern zählten erfahrungsgemäß zu den schlimmsten „Erschütterungen der Seele“, von denen uns laut Epikur die Philosophie heilen solle und auch tatsächlich bewahren könne. Eine Ansicht, die natürlich zu einem Thema führen kann, das insbesondere für Jugendliche, die mit überkommen scheinenden Werten brechen wollen oder diese zumindest infrage stellen, von dauerhafter Aktualität und Bedeutsamkeit ist – auch in unserer oftmals beschworenen säkularisierten Gesellschaft: die Religionskritik.
Zweitens: Bevor man sich beispielsweise auf eine gemeinsame Lektüre von Nietzsches berühmt-berüchtigten Aphorismus vom „Tollen Menschen“ in seiner Fröhlichen Wissenschaft einlässt; um herauszufinden, was sich denn hinter dem noch immer radikal anmutenden, „coolen“ Schlagwort „Gott ist tot“ verbergen mag; kann man auch einen ganz anderen textlichen Einschub machen.
„Religion is hate, religion is fear, religion is war […] I made my choice – 666!“(4)
Dieser Aufzählung der US-amerikanischen Thrash-Metal-Band Slayer, was Religion denn nicht alles Schlimmes sei, folgt die vulgär-satanistische Wahl „666“. Aus einer vielleicht sich selbst zunächst aufklärerisch gebärdenden, polemisierenden „Entlarvung“ des Gegenstandes der Kritik als Gegenteil dessen was er vorgibt zu sein, wird also keine rationale Konsequenz gezogen. Religion sei nicht das Wahre, Gute, Schöne, sondern stünde für Hass, Angst und Krieg. Die Konsequenz daraus? Ein Sprung ins seinerseits Irrationale, symbolisch überfrachtete Okkulte wird propagiert. Das macht sich ästhetisch in der Tradition einer bestimmten Musik- und Jugendkultur zwar ganz gut; philosophisch betrachtet dürfte es bestenfalls für zynisch-skeptischen Individualismus mit misanthropischer Schlagseite reichen. Ein Fall von passivem Nihilismus? Von Nietzsche jedenfalls meilenweit entfernt.
Bleiben wir bei den großen Gefühlen, und wenden uns drittens der so genannten „platonischen Liebe“ zu. Eine spannende Diskussion entfachte das Aufgreifen dieses auch heutzutage oftmals gebrauchten Schlagwortes. Diese platonische Liebe sollte in ihrem ursprünglichen Sinne ja nicht als asketisches, nicht-sinnliches Ideal sui generis missverstanden werden. Vielmehr sei Platons „Stufenweg in der Erkenntnis des Schönen“ zu beachten. Die Stufen, die nicht übersprungen werden wollen; Stufen, die vorrangig die Beziehungen von Männern charakterisieren und zunächst die sinnliche Dimension wesentlich miteinbeziehen, wie Platon „seinen“ Sokrates die An- und Einsichten Diotimas bezüglich des Eros’ erläutern lässt: „Wenn also jemand vermittels der echten Knabenliebe von dort an aufgestiegen jenes Schöne anfängt zu erblicken, der kann beinahe zur Vollendung gelangen.“(5)
„Ihr wisst doch, dass (zumindest bestimmten Formen der) Homosexualität im antiken Griechenland eine ganz andere gesellschaftliche Akzeptanz entgegen gebracht worden ist“, meinte ich. „Ja, schon“, antwortete eine Schülerin; mit dem erstaunten Zusatz „Aber dass darüber auch philosophiert wurde…“
Welch ein erfrischender Anlass, um Passagen aus Platons Symposion zu lesen und bestimmte Erwartungshaltungen infrage zu stellen, die an die Philosophie herangetragen werden; gesellschaftliche Tabuisierungen, für die in der Philosophie (und den Künsten) kein Platz sein sollte.
Diese drei Beispiele, die mir sehr lebhaft in Erinnerung geblieben sind, lieferten mir auch wichtige Anregungen für das eigene Weiter-Denken und Überdenken bestimmter philosophischer Themen und Texte; insbesondere von Texten, deren eigene Lektüre an den Beginn des Philosophiestudiums zurück datiert werden muss. Beispielsweise folgende Passage aus Karl Jaspers’ Einführung in die Philosophie:
Was Philosophie sei und was sie wert sei, ist umstritten. Man erwartet von ihr außerordentliche Aufschlüsse oder läßt sie als gegenstandsloses Denken gleichgültig beiseite. Man sieht sie mit Scheu als das bedeutende Bemühen ungewöhnlicher Menschen oder verachtet sie als überflüssiges Grübeln von Träumern. Man hält sie für eine Sache, die jedermann angeht und daher im Grunde einfach und verstehbar sein müsse, oder man hält sie für so schwierig, daß es hoffnungslos sei, sich mit ihr zu beschäftigen. Was unter dem Namen der Philosophie auftritt, liefert in der Tat Beispiele für so entgegengesetzte Beurteilungen.(6)
Das zweite Horn von Jaspers’ Dilemma – „man hält die Philosophie für so schwierig, dass es hoffnungslos sei, sich mit ihr zu beschäftigen“ – war für die Jugendlichen glücklicherweise kein Thema; sehr wohl aber das erste Horn, wonach die Philosopie „jedermann angeht und daher im Grunde einfach und verstehbar sein müsse“. Das „subjektivistische“ Bedenken tauchte immer wieder auf:
Wenn die großen Fragen doch jede und jeden berühren, und jede und jeder darauf nach Antworten ringen muss – hat nicht auch jede und jeder ihre bzw. seine Philosophie? „Das ist doch nur eine – meine – Meinung…“
Damit scheint zugleich zu wenig und zu viel gesagt zu sein. Wie sehr doch diese Meinung anderen Meinungen und Einstellungen ähneln kann! Ja, die historische Dimension mitbedacht, scheint es um die Originalität der Denkinhalte quantitativ nicht sonderlich gut bestellt zu sein.
Entscheidend bleibt aber die eigene Urteilsbildung. In meinen Überlegungen zum Philosophiekurs bin ich immer wieder auf einen Autor zurückgekommen, der „Über die Erziehung der Kinder“ etwas Zeitloses zu sagen vermochte – auf Michel de Montaigne:
[D]as Wichtigste ist, Lust und Liebe zur Sache zu wecken; sonst erzieht man nur gelehrte Esel, und man erreicht nur, daß sie einen Sack voll totes Wissen, das ihnen eingeprügelt ist, mit sich herumtragen; aber man darf das Wissen, wenn es richtig wirken soll, nicht nur in sich anhäufen, es muß ganz unser Eigen werden.(7)
Montaignes praktischer Optimismus will uns zur eigenen Urteilsbildung ermutigen.
[E]in richtiger Gedanke ist auch nicht mehr Platonisch als Montaignisch, da wir beide ihn auf dieselbe Weise ansehen und verstehen. Die Bienen saugen hier und dort an vielen Blüten; aber dann machen sie Honig daraus, der ganz den Bienen eigentümlich ist; […] so soll unser Zögling die Gedanken, die er entleiht, so umgestalten und einschmelzen, daß daraus ein Erzeugnis entsteht, das ganz sein Eigentum ist: ich meine, sein eigenes Urteil.(8)
Montaigne ist auch ein Denker, den wir uns als hervorragenden Advokaten einer Philosophie vorstellen können, die auf die Muße als Grundbedingung ihrer selbst nicht vergessen will. Lässt sich doch Muße gewissermaßen als die temporale notwendige Bedingung für das Philosophieren verstehen. Kein leeres Verrinnen-Lassen der Zeit oder allzu geschäftiges Kalkulieren – sondern „erfüllte Zeit“, die es erlaubt, Gedanken, Überlegungen sorgsam zu entwickeln und abzuwägen. Sei es alleine, sei es in Gesellschaft. Am besten wohl in solch fröhlich-lustvoller Gesellschaft, wie sie uns in Platons Gastmahl vor Augen geführt wird. Dort, wo man noch staunen darf und staunen kann.
Welch vortrefflicher, welch verschwenderischer Luxus! Geht es denn nicht auch bei der Vermittlung philosophischer Inhalte um die Akkumulation von möglichst viel Wissen in möglichst kurzer Zeit? Wie sollten sich Philosophierende dem temporal-ökonomischen Diktat entziehen können? Hans Dieter Bahr hat in seinem Vortrag über „Die Zeit der Musen“ dieses Bedenken pointiert formuliert:
Kann Philosophie sich überhaupt von solcher findigen Wissbegier absetzen, wie sie heute von den Technokraten der Massengesellschaft vorangetrieben und verwaltet wird? Etwa noch als Hüterin der Weisheit? Kann Staunen noch ein Verständnis des Befremdlichen eröffnen darüber, dass es überhaupt Weisheit geben kann, nämlich ein Maß des Wissens, das Persönlichkeiten bildet, nämlich Menschen, die auf angemessene Weise mit der Befremdlichkeit des Wissens selbst umzugehen vermögen? Sollte Muße, gegen die Bedrängnisse des Alltags und die Leere der ‚Freizeit‘, sollte sie überhaupt noch möglich sein können, dann würde sie freilich mit der ihr eigenen Spannung und Gelassenheit dazu beitragen, das dem Wissen eigene Maß wieder zu finden.(9)
Es kann wohl keine allgemein-verbindlichen Antworten auf die mannigfaltigen Herausforderungen der „Bedrängnisse des Alltags“ geben. Seminare vom Schlage „Zeitmanagement für PhilosophInnen“ sind es sicherlich nicht.
Keineswegs für müßig erachte ich hingegen einen kleinen, wenn auch bloß anekdotischen Blick in die Philosophiegeschichte, die voll ist von Beispielen für Muße als Bedingung des Philosophierens und Muse der PhilosophInnen:
Erinnern können wir uns an Descartes, von dem berichtet wird, dass er, wenn immer es die Umstände erlaubten, sich selten vor Mittag aus dem Bett bewegte; was nicht heißen soll, dass er bloß so lange geschlafen hätte. (Über die materiellen Bedingungen der Muße nachzudenken, wäre eine eigene wichtige Aufgabe – von der griechischen Sklavengesellschaft bis zum heutigen Gesundheits- und Wellnessdiskurs!).
Oder dass er nach Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, als er ins bayrische Heer eingetreten war, während des Winters 1619/1620 tüchtig zu philosophieren begann, wie er zu Beginn des zweiten Teils seines Discours de la Méthode schildert:
Der Winteranfang [hielt mich] in einem Quartier fest, wo ich, da ich keine zerstreuende Unterhaltung fand und mich überdies glücklicherweise keine Sorgen oder Leidenschaften störten, den ganzen Tag allein in einer warmen Stube eingeschlossen blieb und hier all die Muße fand, um mich mit meinen Gedanken zu unterhalten.(10)
Denken wir auch an Kant, dessen aufklärerischer Ratschlag, wonach „nichts eiteler und fruchtloser auf die Dauer sei, als die Vernunft der Jugend eine Zeitlang unter Vormundschaft zu setzen“(11), pädagogisch immer wieder aufs Neue bedenkenswert ist. Kant publizierte in den zehn Jahren vor Erscheinen seiner Kritik der reinen Vernunft nahezu nichts. Zehn Jahre des Schweigens, die freilich erst im Nachhinein als eine der „produktivsten Phasen der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte“ bewertet, „evaluiert“ werden konnten.(12) Zur Schärfung des aufklärerischen Blickes müssen die Augen zuweilen auch geschlossen werden dürfen. Aber nach gängigen Standards und Kriterien wäre das der reine akademische Selbstmord.
Apropos Kant: Dass man sich zum Philosophieren die Zeit regelrecht stehlen muss, dass es unter Umständen strengstes Kalkulieren und größte Disziplin abverlangt, scheint Kants Leben besonders deutlich zu exemplifizieren. Wir sind gut, allzu gut unterrichtet über Kants pedantisch anmutende, ewig gleiche Tagesabläufe. Das zum Klischee verkommene Zerrbild, in Anlehnung an Heinrich Heines beißenden Spott im dritten Buch seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland begegnet uns, sobald wir etwas von Kant zu hören bekommen.(13) Es erschien mir deshalb alles andere als müßig, anhand eines hervorragenden Artikels von Daniel Kehlmann die Schülerinnen und Schüler auf eine etwas andere Sicht der Dinge hinzuweisen.
In einer Zeit, als der Hilfe der Ärzte nicht zu trauen war und mehr Menschen an den Folgen medizinischer Behandlung starben als an der behandelten Krankheit, entwickelte Kant sein eigenes ärztliches Reglement: früh aufstehen, geregelter Tagesablauf, keine Ausflüge, keine Anstrengung, kein Schwitzen, keinerlei Zugluft. Es ist leicht, darüber zu spotten; wer allerdings plötzlich mit schwacher Gesundheit in einer Welt ohne Medizin und Hygiene leben müsste, würde es differenzierter sehen.(14)
Kant aufgrund seiner nicht ganz freiwillig gewählten Lebensführung als a-musischen Menschen einstufen zu wollen, der die Muße gewissermaßen als „Paradeaufklärer“ systematisch wegrationalisierte, dürfte sich als grobe Fehleinschätzung erweisen.
Der Typus des amusischen Rationalisierers Robespierre’schen Zuschnitts (Heine nannte diesen ja in einem Atemzug mit Kant) begegnet uns dagegen eindrucksvoll in Shakespeares Julius Cäsar; wenn dieser seinen gefährlichsten Widersacher benennt:
Der Cassius dort hat einen hohlen Blick; Er denkt zuviel: die Leute sind gefährlich. […]
Er liest viel; Er ist ein großer Prüfer und durchschaut das Tun der Menschen ganz; er liebt kein Spiel wie du, Antonius; hört nicht Musik; Er lächelt selten […].(15)
Bedenken wir v.a. auch Nietzsche. In ihm finden wir einen der stärksten Advokaten einer Philosophie, die auf die Muße als Grundbedingung ihrer selbst nicht vergessen will. Was Nietzsche der Philologie zugute hält, will er auch der Philosophie nicht vorenthalten – kreative Langsamkeit. In der Vorrede zu seiner Morgenröte bemerkt er so trefflich:
Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehen, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden –, als eine Goldschmiedekunst und –kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzuthun hat und Nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht. Gerade damit ist sie aber heute nöthiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mitten in einem Zeitalter der „Arbeit“, will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit Allem gleich „fertig werden“ will, auch mit jedem alten und neuen Buche: – sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen…(16)
Geschrieben im Herbst 1886, haben diese Worte gute 121 Jahre später wohl nichts an Aktualität eingebüßt. Rücksichtig und vorsichtig will es Nietzsche haben. Im Sinne dieser beiden Dimensionen der Zeit müssen wir versuchen, die Gegenwart zu verstehen und zu meistern.
Wenn wir auf Nietzsche zu sprechen kommen, ist Vorsicht allerdings in folgendem Sinne geboten: Einem Personenkult, der Muße vielleicht mit asketischem Grüblertum verwechselt, soll hier keineswegs das Wort geredet werden. Das wäre Nietzsche zuwider, und man sollte dies weder ihm noch anderen Denkerinnen und Denkern antun. Wir müssen die philosophischen Müßiggänger bei aller Genialität nicht zu solitären Ikonen hochstilisieren.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Egon Friedell bezeichnete beispielsweise in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit Descartes als den „wahren Sonnenkönig“, „obschon sein Leben unter den grauen Nebeln Hollands still und einsam dahinfloß“. Und er spricht von der
Erkenntnis, daß das Bleibende und Fortwirkende, das im wahren Sinne Historische immer von einigen wenigen Personen getan worden ist, die ihrer Zeit als unwesentliche und überflüssige, ja schädliche Grübler erschienen und die uns in demselben Lichte erscheinen würden, wenn sie heute lebten: von einigen Phantasten und Sonderlingen, deren Wirkungssphäre sich völlig abseits von dem befand, was ihre Zeitgenossen für beachtenswert und zentral hielten.(17)
Muße hat nicht notwendigerweise etwas mit Einsamkeit, die in den seltensten Fällen aus freien Stücken gewählt war, zu tun. Das wäre sowohl der Auffassung der Griechen als auch Descartes’ und Kants Auffassungen (der wohl nur ungern auf seine Tischgesellschaften verzichtet hätte) zuwider. Geselligkeit und Einsicht schließen sich ja keineswegs aus. Im Gegenteil; sie können einander äußerst förderlich sein. Sich die Zeit für Möglichkeiten der Einsicht zu nehmen, mag oftmals schwer fallen. Die Einsichten selbst müssen nicht immer so schwierig sein. Daran können wir uns gerne von Montaigne erinnern lassen:
Das deutlichste Anzeichen der Weisheit ist eine immer gleichbleibende Heiterkeit. … Ihr Ziel ist die menschliche Vollkommenheit, und diese thront nicht, wie es gelehrt wird, oben auf einer schroffen, kahlen, unersteigbaren Höhe: diejenigen, die ihr nahe gekommen sind, wissen es besser […]. Die Pedanten wissen es nicht, wie diese höchste Tugend beschaffen ist […] Und weil sie das nicht wissen, haben sie sich ein törichtes Bild von ihr zurechtgemacht, das ihrer geistigen Armut entspricht: sie stellen sie hin als traurig, streitsüchtig, verdrießlich, bedrohlich, intrigant, und sie versetzen sie auf einen einsamen Felsen, wo die Dornen wuchern […].(18)
Es tut „der“ Philosophie gut, wenn sie sich von den „einsamen Felsen“, von den institutionalisierten Elfenbeintürmen herunter und heraus wagt – auf die sprichwörtliche agora. Sei es mittels so genannter „Philosophischer Cafés“, sei es der Weg in die Klassenzimmer, seien es wohl dosierte Beiträge in den verschiedenen Medien. Dabei nicht in geschäftig anbiedernde Sophisterei zu verfallen, ist natürlich eine ständige, dem Zeitkalkül (und freilich auch dem finanziellen, ökonomischen Kalkül) unterworfene Herausforderung. „Und wenn dazu Muße erforderlich ist, dann gewiss nicht als Entspannung, sondern als Spannung in der Weise von Gelassenheit und Ausgelassenheit“, wie Hans-Dieter Bahr konstatieren würde.(19)
Wenden wir uns abschließend nochmals Nietzsche zu: Nietzsche, der bekanntlich Montaigne sehr schätzte, wollte seine Bücher für Menschen bestimmt wissen,
welche noch nicht in die schwindelnde Hast unseres rollenden Zeitalters hineingerissen sind, und noch nicht ein götzendienerisches Vergnügen daran empfinden, wenn sie sich unter seine Räder werfen, für Menschen also, die noch nicht den Werth jedes Dinges nach der Zeitersparniß oder Zeitversäumniß abzuschätzen sich gewöhnt haben. Das heißt – für sehr wenige Menschen. Diese aber „haben noch Zeit“ […].
Ein solcher Mensch hat noch nicht verlernt zu denken, während er liest, er versteht noch das Geheimniß zwischen den Zeilen zu lesen, ja er ist so verschwenderisch geartet, daß er noch gar nicht über das Gelesene nachdenkt – vielleicht lange nachdem er das Buch aus den Händen gelegt hat. Und zwar nicht, um eine Recension oder wieder ein Buch zu schreiben, sondern nur so, um nachzudenken! Leichtsinniger Verschwender! Du bist mein Leser […].(20)
Wie schön beispielsweise, leichten Sinnes – „nur so, um nachzudenken“ – Texte wieder zu lesen, ohne gleich an das Verfassen eines Vortrags denken zu müssen.
In Nietzsches positiver Wendung vom müßigen Menschen, vom „leichtsinnigen (ja leichtfüßigen) Verschwender“ – und in Anlehnung an Jürgen Teipels Doku-Roman und einen Song der deutschen Früh-80er New-Wave-Band DAF – möchte ich deshalb (nicht nur) Jugendlichen zurufen:
„Lass’ dich nur ein auf die Philosophie. Verschwende deine Jugend!“(21)
Fußnoten:
1 Die Sir-Karl-Popper-Schule ist ein als „Schulversuch für Hochbegabte“ geführter Teil des Wiedner Gymnasiums (einer öffentlichen AHS), der mit je einer gymnasialen und einer realgymnasialen Klasse von der 5. bis zur 8. Klasse, d.h. aus insgesamt acht Klassen bestehend, parallel zu den Oberstufenklassen dieser Schule läuft.
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