Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Januar 2010 |
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Sektion 6.9. |
Touching Society SektionsleiterInnen | Section Chairs:Arno Böhler und Katja Mayer (Universität Wien, Österreich) |
Katja Mayer (Wien) [BIO]
Email: katja.mayer@univie.ac.at
"'Das wäre mir das Höchste' - also redet euer verlogner Geist zu sich - 'auf das Leben ohne Begierde zu schaun und nicht, gleich dem Hunde, mit hängender Zunge: Glücklich zu sein im Schauen, mit erstorbenem Willen, ohne Griff und ohne Gier der Selbstsucht - kalt und aschgrau am ganzen Leibe, aber mit trunkenen Mondesaugen! Das wäre mir das Liebste', - also verführt sich selber der Verführte - 'die Erde zu lieben, wie der Mond sie liebt, und nur mit dem Auge alleine ihre Schönheit zu betasten. Und das heiße mir aller Dinge unbefleckte Erkenntnis, dass ich von den Dingen Nichts will: außer dass ich vor ihnen daliegen darf wie ein Spiegel mit hundert Augen.' - Oh, ihr empfindsamen Heuchler, ihr Lüsternen! Euch fehlt die Unschuld in der Begierde: und nun verleumdet ihr drum das Begehren. Wahrlich, nicht als Schaffende, Zeugende, Werdelustige liebt ihr die Erde!" (Nietzsche 1994: 209)
Im Folgenden wird es um Wissenschaftsforschung gehen. Die große Trennung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, den Epistemen und dem Sozialen, welche selbst heute noch in manch wissenschaftstheoretischer Meinung beschworen wird, wird hier allerdings nicht nachgezeichnet. Vielmehr soll anhand eines Beispiels aus der wissenschaftlichen Praxis dargestellt werden, wie sehr die Wissenschaft Kultur, und damit Teil der Gesellschaft ist, sich von ihr inspirieren lässt und ihren Konventionen folgt (und vice versa). Es wird gezeigt, wie WissenschaftlerInnen mit „epistemischen Dingen“ - Dinge, in denen sich Begriffe verkörpern (vgl. Rheinberger 2001) - umgehen, Konzepte unter Körpereinsatz „dingfest“ machen.
Die bereits traditionelle Auseinandersetzung um die Akzeptanz und Plausibilität des wissenschaftlichen Bildes als Argument dient hier als Kontext, doch ohne die wissenschaftliche Bilderwelt zu stürmen, und ihre Bilder generell als schändlich, weil verführerisch abzutun. Verfolgt man die Spur der Performativität des wissenschaftlichen Bildes, kann man über die Bildproduktion und den Bildgebrauch in der wissenschaftlichen Praxis den grundlegenden ästhetischen Habitus des Feldes bezeugen. Nicht nur die Schönheit, sondern auch die argumentative Kraft der Bilder zeigt sich so anti-platonisch den interessierten Schauenden.
Zarathustra liest der Wissenschaft in obigem Zitat gehörig die Leviten, überführt er sie doch der Verführung. Doch liegt diese nicht wie im Schrecken der Ikonoklasten in den manipulierten/manipulierbaren Bildern, sondern in der Utopie der „unbefleckten“ Erkenntnis, der Unberührtheit, der Intentionslosigkeit, welche der aufklärerische Gesichtssinn möglich machen soll. Das Primat des Auges macht die Wissenschaft zur Zuschauerin, ihre aktive Rolle bei der Produktion und Präparation des Schauwerks bleibt unterbelichtet, der Vollzug bleibt verborgen.
Alle Wissenschaft ist voller Bilder, Graphiken und Diagramme, die mehr sind, als bloßer Schmuck, auch wenn der Text wissenschaftstheoretisch mehr Gewicht hat, und ihre reine Sichtbarkeit macht den Kraftakt ihrer Schöpfung nicht transparent. Ist der Umgang mit Bildern wirklich so pragmatisch, wie die Mathematik zu ihrer Erzeugung kompliziert ist? (vgl. Hagner 2005) Vorliegender Text will der Verführung auf die wissenschaftliche Bühne verhelfen, die ihr gebührt und ihr den Schaffensprozess gegenüberstellen, sie mit Hilfe der Zeugung der epistemischen Dinge heimsuchen, mit ihrer angeblichen Berührungsangst konfrontieren.
Als Forschungsobjekt dieses objekt-orientierten Aufsatzes (vgl. Latour 2001) dient hier die Visualisierung von sozialen Strukturen, mit Hilfe der Methode der Sozialen Netzwerkanalyse gemessen und ausgewertet. Diese Methode erfreut sich immer größerer Beliebtheit, macht sie es doch möglich mit sozialer Komplexität zu hantieren und Beziehungsgeflechte in Bilder von Netzwerken zu transformieren. Diese Bilder tauchen im netzwerkanalytischen Forschungsprozess häufig auf: als Labor und Werkzeug beim Berechnen und Messen der Daten (die Software visualisiert automatisch), bei Besprechungen, bis hin zur Präsentation der Ergebnisse, deren Argumente und Beweise zum Teil aus diesen Graphiken bestehen. Doch nicht nur im sozialwissenschaftlichen Forschungsprozess sind solche Diagramme zugegen, immer häufiger finden sie sich in Medien und Politik, wenn es etwa darum geht komplexe Zusammenhänge darzustellen, oder Entscheidungen anhand der Evaluation von Strukturen zu treffen.
Berühren(1)
Die Soziale Netzwerkanalyse (SNA) widmet sich der Untersuchung sozialer Netzwerke und damit der Beschreibung sozialer Interaktionen. (Soziale Netzwerke sind Systeme sozialer Interaktionen, welche aber nicht alle einer Zielsetzung, oder einer Systemlogik folgen, sondern komplexe Beziehungen beherbergen.) Als Beschreibungskategorien dienen hierbei Umfang und Dichte des Netzwerkes, Ziele, Funktionen und die Qualität der Beziehungen. Ein wichtiges Instrument der SNA sind graphische Visualisierungen der Netzwerke, welche Geflechte von Punkten und Linien – Knoten und Kanten genannt – zeigen. Solche Diagramme werden immer wichtiger, da die verarbeitbaren Datenmengen inzwischen Komplexitätsgrade erreichen, bei welchen mit sequentiellem Text oder Tabellen speziell in der Explorationsphase nicht mehr hantiert werden kann. Wurden in den 1930er Jahren solche Diagramme noch von Hand gezeichnet, bedient man sich heute mächtiger Computerprogramme um die Daten zu Visualisierungen umzuformen und damit zu messen und zu interpretieren.(2)
Man stelle sich einen Besprechungsraum einer sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitution im Bereich der Sozialen Netzwerkanalyse vor(3). Der Raum ist mit Tischen, Sesseln – angeordnet im Quadrat, so dass eine offene Besprechungssituation entsteht -, einem Projektor, einem Flipchart und einer Bibliothek ausgestattet. An den Wänden hängen einige bunte Diagramme, welche bereits im Forschungs- oder im Wirtschaftskontext Verwendung fanden. Sozialforscher/innen stehen gebeugt um ein Diagramm. Es handelt sich um das Bild eines sozialen Netzwerkes (und damit um ein Bild von einem komplexen Modell sozialer Phänomene), und dient der Analyse sozialer Strukturen. Eben noch war das Bild an die Wand projiziert gewesen, dann hatte man es am Plotter ausgedruckt, damit man sehen konnte, was es zeigt, aber auch, ob es auch wirkt und zur Publikation gelangen kann. Während der Drucker langsam Zeile für Zeile die Visualisierung ausdruckte, begaben sich die Anwesenden inklusive der Beobachterin bereits zur Stelle im Raum, an welcher dann das fertige Bild als „synoptisches Tableau“ (Latour 1996: 203) zu liegen kommen sollte. Gespräche drehten sich um die Datenlage, die Probleme bei der Erhebung, aber auch bereits um die Analyse, deren Teil die gerade zu druckende „stabilisierte Aufnahme“ des Netzwerkes sein soll. Der Institutsleiter adressiert zwischendurch mich, die Beobachterin, und meint lächelnd: „Man glaubt immer, das ist kreativ, was wir da machen. Dabei dreht sich alles nur um das Exportieren und Einfärben von JPGs.“ (FASII-030706)
Endlich ist der Drucker fertig. Ein großes Netzwerk liegt nun am Tisch, die Oberfläche glänzend, die Farben stark, die Knoten und Kanten präzise gemäß den beteiligten Algorithmen zum Graphen aufgespannt. (4)
Sobald der Überbringer des Bildes zur Seite tritt, berühren einige Finger unterschiedlicher Personen das Bild. Da es sich um die erste umfassende Visualisierung eines bestimmten sozialen Netzwerkes handelt, sind alle Anwesenden sehr interessiert. Während der Institutsleiter die Rolle des Zeigenden und Besprechenden übernimmt, folgen einige Finger eigenen Spuren auf der Oberfläche und hinterlassen Tapser auf der glänzenden Oberfläche. Er bleibt auf einer dichten Region im Diagramm mit seinem Finger stehen und meint: „Also wenn ich das sehe, was zeigt mir das? Das ist ein Klüngel. Wo brokern die hinein? Diese Positionierung an der Peripherie kann nicht zufällig sein.“ Ein Mitarbeiter meint: „Hm, also ich weiß nicht, ich habe kein Gefühl für den Datensatz, weil ich ihn nicht erhoben habe, aber...“ und sein Finger bahnt einen neuen Weg am Papier, „aber wenn ihr das anseht, dann kann es doch eigentlich nur von hier ausgehen. Ich meine, die Gruppen sind eindeutig sichtbar, und auch die Keyplayer, aber das sind nicht die Gatekeeper, die sind eher hier, und über die muss man gehen, wenn man rein will.“ Die Augen und Körper der Anwesenden folgen dem Fingerzeig. Eine andere Mitarbeiterin zeigt auf eine andere Stelle und sagt: „Irgendwie ist das nicht übersichtlich. Die Cluster sind zu eng und die wichtigen Institutionen hätte ich lieber links im Bild, damit sie mir gleich in den Blick kommen. Ich glaube übrigens, hier hat sich ein Fehler hinein geschlichen, da ist eine Institution zweimal drauf. Einmal ist sie mit vielen Personen verbunden und total zentral, und einmal ist sie hier unten an der Peripherie. Wie konnte das geschehen?“. Es handelt sich anscheinend um einen Fehler im Datensatz. Der Institutsleiter ergreift nochmals das Wort: „Aber schaut euch noch mal das Zentrum an, das ist blind. Da sind die wichtigen Institutionen. Die sind erstarrt und merken es nicht mal, die Bewegung geht von der Peripherie aus. Das ist immer so.“ Der Institutsleiter holt seinen Finger von dem vor uns liegenden Diagramm und zeigt auf ein Poster eines Netzwerkes, welches an der gegenüberliegenden Wand hängt. „Erinnert ihr euch noch an diese Studie. Da war es doch ähnlich. Seht euch mal die Verteilungen an. Die Cluster sind ähnlich durch einige wenige Mittel verbunden.“ Alle folgen und blicken auf das Referenzbild, welches nun als Modell dient. Immer wieder werden im weiteren Verlauf der Besprechung Fingerzeige unternommen, und es kommt vor, dass andere Finger, auch wenn sie nur aufstützende Funktion haben und dadurch den Weg verstellen, weggeschubst werden.
Das vorliegende Diagramm wird immer wieder in Referenz zu anderen Diagrammen gebracht: zu den im Raum hängenden Bildern aus vergangenen Studien; zu schnell im Excel hochgerechneten und aus dem Computer an die Wand projizierten Verteilungen, welche die Daten auf deren Zufälligkeit testen; oder zu eilig aufs Flipchart gezeichneten modellhaften Strukturen, welche aus der Erinnerung produziert werden. Die Referenten sind transversal geschichtet, die Bilder verweisen nicht nur auf Messdaten und die informatischen Algorithmen, sondern auch auf eine ganze Schar von kontextuellen Daten und Bildern. (vgl. Latour 1996)
Der Zeigefinger (stellvertretend für alle verschiedenen Zeigetypen) ist hier das Mittel im Modus des „explorare“, aber auch des „demonstrare“ (vgl Mersch 2003), und nicht selten wird er zum Tastinstrument, der dem Auge ertasten hilft. Das Bild des Netzwerkes ist Teil einer sozialwissenschaftlichen Experimentalanordnung, die Bewegung im Experimentalsystem ist grundsätzlich eine „tappende“ (siehe dazu: Rheinberger 1992: 26). Der Tastsinn hat auf der Suche nach Evidenz auch oftmals die Aufgabe der Überprüfung: „Wenn man dem Verdacht einer Sinnestäuschung nachgeht, dann muss das Tasten herhalten. Niemand käme darauf, auch diese Prüfinstanz selbst noch zu bezweifeln.“ (Zeuch 2000: 13) Was evident ist, gilt als begriffen. Und einer meiner Interviewpartner beschrieb die Lust am Bild, nicht nur als Gebot des „gefräßigen Auges“ (Mattenklott 1982), welches nicht genug kriegen kann, sondern auch als Wunsch des Ergreifens, des Eingreifens, des Anfassens. (KREII-280907) Eine weitere Interviewpartnerin schilderte mir ihr Eingreifen in die automatisierte Bildherstellung zur manuellen Verbesserung der Lesbarkeit des Bildes, und wie sie dabei auch geschmackvolle Veränderungen an den Farben und Formen vornimmt. (SPII-040507)
Die Darstellung des Netzwerkes dient als Planskizze einer weiteren metaphorischen Ebene des Begreifens, wie das Beispiel zeigt. Über das Bild und dessen Besprechung werden in der Beobachtung bestimmte rhetorische Stile und Metaphern auffällig. Das Beispiel ist dominiert von räumlichen Metaphern: Peripherie, Zentrum; disziplinären Metaphern: Brokerage, Cluster, Gatekeeper, Keyplayer, welche wiederum von anderen Bereichen hierher verschoben wurden; und attributiven Metaphern: blind, erstarrt; Des weiteren ist mir des Öfteren die Metapher der Kraft und der Bewegung aufgefallen, welche besonders paradox erscheint, wenn sie an statischen Bildern besprochen wird. Jedoch werden hier wieder die Finger zu Hilfe genommen, welche die Bewegung und Kräfte andeuten. Eine schnelle Hin- und Herbewegung der Finger auf einer Linie soll dieser zum Beispiel Dynamik verleihen. Es wird aber auch auf Knotenpunkte geklopft, als wolle man sie aus ihrer Erstarrtheit aufwecken.
Zusätzlich zur sozialen Dimension dieser Metapher, welche eine lange soziologische Tradition hat, darf auch die technische Dimension nicht übersehen werden. Die Berechnungen von sozialen Netzwerken werden nämlich mit Hilfe der Graphentheorie durchgeführt, welche die Frage der Positionierung der Knoten auf der Fläche nicht beinhalten, welche also keine Anleitung zur visuellen Darstellung geben. Zur Visualisierung sind eigene auf komplexen Verfahren und Annahmen der optischen Effizienz beruhende Methoden der multidimensionalen Skalierung notwendig. So genannte „Spring Embedders“ behandeln die Relationen in einem Netzwerk (also die Kanten) wie physikalische Kräfte. Passende Algorithmen simulieren zwischen den Knoten Federn, die einer bestimmten Kraft gehorchen. So kann man das Layout des Bildes verändern, ohne die formale Beziehungslage abzuwandeln.
Im Laufe des Forschungsprozesses treffen die Mitarbeiter/innen der Institution – wie bereits angesprochen – immer wieder zusammen, um die Bilder von Netzwerken zu besprechen und damit die sozialen Strukturen ihres Forschungsfeldes zu explorieren, zu analysieren und darzustellen. Die Diagramme werden immer wieder verändert, und schlussendlich sind sie in den Augen der Forscher/innen sowohl verständlich, als auch durch Daten und Interpretation abgesichert, sodass sie für die Publikation vorbereitet werden können. Auch hierbei müssen einige Bedingungen erfüllt werden, beispielsweise erlauben viele Verlage keine Farbabbildungen, und wenn doch, dann dürfen die Farbflächen nicht zu groß sein, da sonst die Blätter des Buches Gefahr laufen, aneinander zu kleben.
Die Funktion des Bildes übersteigt in Publikationen die, eines ornamentalen Beiwerkes, einer Illustration, denn es enthält Daten, die so als Text oder Zahlenfolge nicht dargestellt werden können. Wittgenstein (vgl. 1998: 4.1212) meinte zu diesem Verhältnis, was man zeigen könne, könne man nicht sagen. Aber man kann es in unserem Falle berühren und metaphorisch in einen Kontext verschieben, indem man einen Sprachstil wählt, aber auch indem man den eigenen Körper die Dynamik des Standbildes simulieren lässt. Es ist nicht nur die Tendenz des tastenden Körpers, also die Lust zu begreifen, wider aller wissenschaftlicher Keuschheit, sondern auch die Einbettung der ForscherInnen und ihrer Objekte, ihrer Materialien, ihrer Denkstile in einen gemeinsamen Möglichkeitsraum, wodurch solche Berührungen erfahrbar werden.
Berührt Werden
Ist der Umgang mit den Bildern tatsächlich so pragmatisch, wie ihre mathematische Erzeugung komplex ist? (vgl. Hagner 2003) Die Antwort umfasst sowohl ein Ja, als auch ein Nein. Denn auch wenn heute in den Publikationen der Netzwerkforscherinnen einer Reflexion der Bilderzeugung kein Platz eingeräumt wird, so hantieren sie mit den Bildern in einer höchst begierigen Weise, wie wir gesehen haben. Die „gefräßigen Augen“ und die Lust am Begreifen übersteigen einen rein funktionalistischen Umgang mit dem Forschungsobjekt. Es geht so weit, dass die Bilder nicht nur effizienter lesbar werden sollen, sondern auch in ihrer Erscheinung stilvoller werden. Die Methode der Netzwerkanalyse verschränkt sich heute immer weiter mit der Disziplin der Informationsvisualisierung. Großzügige Rechenkapazitäten erlauben neue ästhetisch-künstlerische Herangehensweisen und stellen Millionen Farben, hohe Auflösungen und kurze Berechnungszeiten bereit. Einer zeitgemäßen, stilvollen Anpassung der Visualisierungen sind heute weniger Grenzen gesetzt, als noch vor 10 Jahren. Solche Darstellungen von Komplexität, wie man sie in der Medienkunst häufig findet, spielen mit unterschiedlichen Genres, von futuristischen militärischen Überwachungsmonitoren bis zu mikroskopisch-zarten organischen Spuren in chemischen Lösungen, sind wiederum von wissenschaftlich-technischen Darstellungsweisen informiert und wirken auch auf die sozialwissenschaftliche Diagrammgestaltung ein.
Solche Gestaltungen verweisen auf die „symbolischen Ökonomien“ (vgl. Felt 2007), welche den Handel mit Zukunftsszenarien prägen und neue Zukunftsentwürfe und damit verbundene Versprechungen hervorbringen. Die Netzwerkvisualisierungen sind einerseits leicht erkennbar und anschlussfähig, verfügen aber über ausreichende Offenheit, um das Neue denkbar zu machen. Die Bilder von Netzwerken konstituieren sich so zwischen der Einbildungskraft und der Materialität und werden so zu erwartungsvollen Medien.
Eine solche kontextuelle ästhetische In-Formation entspricht in der hier angewandten Metaphorik dem „Berührt-Werden“. Die Dimension der Berührung von der Seite des aktiven „Fühlens“ wurde hier bereits vorgeführt, nun folgt die Betrachtung des „Sich-Berühren-Lassens“, der „Ergriffenheit“: Das Glanzpapier, der Laserpointer, oder die Computertastatur sind die Oberflächen der sozialen Netzwerke, welche hier geschaffen wurden, und tragen die direkten Berührungspunkte. Sie sind die Medien für weitere Dimensionen der Wahrnehmung, welche sich bewusst oder unbewusst erregen lässt. Sie sind aber auch Zwischenstationen eines Gestaltungsprozesses, welcher sich im fertigen Bild entzieht. Und sie sind Ausdruck von Normierungen und Ausstattungen, wie etwa der Praxis des wissenschaftlichen Experiments und seinen begrenzten Ressourcen. Diese Praktiken werden in der Ausbildung erlernt, und danach umso weniger hinterfragbar, je routinierter sie angewendet werden.
Die Handhabung der Instrumente, welche den Forschungsalltag bestimmen, also Datenerhebungsmethoden, aber vor allem den Computer und dazugehörige Software, sowie die Interpretation der Ergebnisse erfordern einen Lernprozess, der die instrumentellen Mediatisierungen in einen assoziativen Kontext einbettet. Ähnlich den Studien über Mikroskope und Fernrohre könnte man demnach über das Auflösungsvermögen der Wahrnehmung und das instrumentelle Sensorium diskutieren, denn auch in unserem Beispiel der „sozialen Mikroskopie“ (Moreno 1967) haben wir es mit einer Kultivierung der Wahrnehmung zu tun. Die Software wird zur Lehrerin, schult die ForscherInnen auf die Gleichzeitigkeit von Messen und Darstellen. Der Screen wird zur Rahmenbedingung. Es muss gelernt werden, wie die Daten präpariert werden müssen, damit sie überhaupt in die Software gefüttert werden können. Das schult den Blick auf- und das Gefühl für die Daten, wie wir im Beispiel bereits gehört haben. Und es fördert die Aufmerksamkeit gegenüber aufzuzeigenden Phänomenen. Der Apparat entfernt als Zwischenschaltung ForscherIn und Daten um sie in transformierter Weise wieder zusammenzubringen. Goethe bemängelte einst die ästhetischen Schwächen der instrumentellen Wahrnehmung, da sie der Einheit von Wahrnehmung und Körpergefühl einen Schnitt zufüge, er beanstandete den Verlust des eigenen Sensoriums für die Wirklichkeitswahrnehmung und den Verlust der sinnlichen Fülle. (vgl. Goethe 1999)
Die instrumentelle Entfernung zwischen ForscherIn und Daten, führt aber nicht zu einem Verlust der sinnlichen Fülle, diese wird nur verschoben, erhält andere Referenzen. Genau das sollte das Beispiel auch zeigen. Die Beobachtung des Gebrauchs des „Komplexitätsfernrohrs“ (Nees 2005) Soziale Netzwerkanalyse zeigt analog Gallileis „Discorsi“ (2007) eine „Wissenschaft als Praxis, die ihre Gegenstände nicht empfängt, sondern formt.“ (zitiert nach Krohn 2006: 7) Es ist eine Praxis, in der vielleicht nicht unbedingt ein romantisch-sinnliches Erschaudern zu erwarten ist, in welcher aber trotz apparativer Normierung und Experimentalgesetz (Wiederholbarkeit, Zeugenschaft, Mobilität, Sparsamkeit) sinnlich erfahren wird, wo epistemische Dinge spürbar werden. Die „experimentelle Könnerschaft“ (vgl. Krohn 2006) führt zu einem Gespür für die Daten und lässt Skizzen von statistischen Verteilungen und Netzwerken oftmals noch vor oder neben der apparativen Bemessung entstehen. Das Skizzieren wird zum zeichnenden Denken.
Das Dreieck kehrt in den Netzwerkvisualisierungen immer wieder und ist eine der geläufigsten Formen, welche einen Denkweg vorgeben und unterstützen, oder gar inspirieren. Über Dreiecke kann z.B. über Stabilität Auskunft gegeben werden. Ganze Wirtschaftsberatungskonzepte bauen inzwischen auf der Idee des stabilisierenden Dreiecks auf. Ist das Dreieck eine bekannte Sprach- und Anschauungsform, und daher im Sinne der Anknüpfungsmöglichkeiten sehr reichhaltig, sind es im Gegenzug aber auch ästhetische Brüche mit dem Gewohntem, welche effektiv eingesetzt werden. Als Beispiel sei hier das Konzept der Landkarte gewählt, wo analog den bekannten Karten soziale Netzwerke gezeigt werden(5), nur um aufgrund des bereits geschulten Blickes auf Differenzen zu stoßen. Hier bedient man sich einer bekannten visuellen Kultur und ihres visuellen Wissens, um komplexe soziale Zusammenhänge darzustellen. Nicht nur für eine Präsentation der Ergebnisse, sondern auch im Forschungsprozess selbst, werden solch kulturelle Elementarformen zur Exploration oder Kontrolle der Daten angewendet. Das Forschungsfeld ist somit nicht hermetisch auf eine ideelle Wissenschaft beschränkt, sondern im Gegenteil, es ist mit der Gesellschaft und den gängigen Diskursen, Normen, Werten, Moden und Bildern verschränkt. Und der Körper ist in vollem Einsatz, er sinniert und gestaltet in Fülle.
„Wir brauchen dieses Bild, und das Bild dieses Bildes – meta-phora, Übertragung, Verschiebung -, um diesen stofflosen, per definitionem unkörperlichen Sinn zu vergegenwärtigen, der ganz im Verknüpfen und nicht im Stoff steckt. Doch wie könnte es ein Verknüpfen ohne Stoff geben? Nun: Das Bild ist das Gewebe eines fadenlosen Webens. Der Sinn bedarf des Bildes, um aus seinem Stoffmangel, seiner Unhör- und Unsichtbarkeit herauszutreten. Der Sinn verlangt Klang, Zug, Figur, ohne die er so abstrakt und flüchtig ist, wie die Bewegung einer Nadel durch die Maschen einer Stickerei hindurch. Jederzeit ist die Sinnstickerei davon bedroht, im Zweifel der Umgarnung unterzugehen.“ (Nancy 2006: 114-115)
Rührung
Das ist es auch, was das „epistemische Ding“ (Rheinberger 2001), hier die Netzwerkvisualisierung, noch leisten kann. Ist es einmal soweit gestrickt, dass es eine Hypothese verkörpert, dass es abgetastet und besprochen werden kann, dann liegt seine performance in der Vermittlung. Bei der Ergebnispräsentation steht das Bild vom Netzwerk da wie ein Tableau im Mittelpunkt, beschnitten von seiner Kreation wirkt es, tritt es in Erscheinung. In dem Sprechakt und Zeigeakt der Ergebnispräsentation werden die Spuren der „Nachtwissenschaft“ verwischt und die gereinigte Version der „Tagwissenschaft“ (Jacob 2001) dargeboten. Das dient der Effizienz, und entspricht der sozialen Erwartung an die wissenschaftliche Rationalität. Fleck schreibt dazu 1935: „Gewissheit, Einfachheit, Anschaulichkeit entstehen erst im populären Wissen; den Glauben an sie als Ideal des Wissens holt sich der Fachmann von dort. Darin liegt die allgemeine erkenntnistheoretische Bedeutung populärer Wissenschaft.“ (Fleck 1980: 152)
Hier verschwindet die Grenze zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Die wissenschaftliche Praxis wird berührt von der Norm der Objektivität, welche sie nach der Reinigung vom Prozess auch zur Schau stellt. Diese Öffentlichkeit ist der Adressat der wissenschaftlichen Publikation, welche sich an die Standards halten wird. Das strenge Primat der Objektivität, die Unbefangenheit der Zeugen, die Unvereinbarkeit von Beweis und Absicht (Daston 2003: 31) wackeln angesichts der Auseinandersetzung mit dem Gebrauch der wissenschaftlichen Bilder. Das Ideal, dass „eine Tatsache, um als glaubwürdiger Beweis gelten zu dürfen, von allen Absichten des Menschen unberührt sein müsse“, (Daston 2003: 30) schließt die ästhetische Dimension aus.
Die vorliegende Beobachtung der diagrammatischen Handhabung zeigt jedoch, dass diese Wissenschaft berührt und selbst berührt ist, dass sie in die alltägliche ästhetische Erfahrung eingebettet ist. Die Lust an der Verfertigung von „epistemischen Dingen“, die ich bei verschiedenen Anlässen beobachten konnte, zeugt nicht unbedingt von einer Berührungsangst. Gilt die Unberührtheit als wissenschaftliches Primat bereits in der frühen Moderne (Daston/Park 1998: 14), so wirkt es paradox, dass es wissenschaftstheoretisch unsittlich sein soll, sein Objekt lustvoll abzutasten. Ein Programm zur Herstellung von Netzwerkvisualisierungen (und Messungen) heißt gar „Touchgraph“. Eine Wissenschaft ohne Anfassen scheint unmöglich.
Das (lustvolle) Wechselspiel von Berührung und Berührt-werden lenkt den Blick auf die Sinnlichkeit der Handlungen, aber auch auf die Körperlichkeit als Medium UND Maßstab des Forschungsfeldes. Die als „epistemische Dinge“ bezeichneten Netzwerkvisualisierungen sind Material, sind begreifbar. Erzeugen Bilder in ihrer Sichtbarkeit die Illusion der Durchschaubarkeit, verhelfen sie in ihrer Materialität zur Begrifflichkeit. Nur äußerst trunkene Mondesaugen sehen ein Ideal, in welchem die Wissenschaft von den Dingen nichts will.
Bibliographie:
Interviews und Beobachtungen: Dissertation 2006-2007:
FASII-030706, KREII-280907, SPII-040507
Fußnoten:
6.9. Touching Society
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