Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Januar 2010 |
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Sektion 6.9. |
Touching Society SektionsleiterInnen | Section Chairs:Arno Böhler und Katja Mayer (Universität Wien, Österreich) |
Markus Mittmansgruber (Wien) [BIO]
Email: markus.mittmansgruber@gmx.at
Dieser Text trägt den Titel „Räume der Gastlichkeit“. Damit wurde bereits eine Rahmung vorgenommen, und es wurde ein Versprechen gegeben, über eben jene Begriffe, nämlich über den Begriff der „Räume“, über den Begriff der „Gastlichkeit“ und über nichts anderes zu sprechen. Inwiefern dieses Versprechen jedoch unmöglich zu halten sein wird und scheitern muss, da es sich notwendigerweise nie endgültig realisieren kann und daher permanent bittet, aufgeschoben zu werden, wird sich herausstellen.
Bevor die „Gastlichkeit“ selbst zur Sprache kommen kann, ihre Gesetze und ihre Differenzierungen in den Überlegungen von Jacques Derrida, ist es nötig, über die Körper zu sprechen – Körper aufgefasst als eben jene Räume, in und zwischen denen sich Gastlichkeit abspielt.
Nach Gilles Deleuze kann ein Körper „alles mögliche sein, es kann ein Tier sein, ein Klangkörper, es kann eine Seele oder eine Idee sein, es kann ein Textcorpus sein, ein sozialer Körper, ein Kollektiv sein.“(1)
Deleuze versucht, den Begriff „Körper“ grundsätzlich als Beziehungsgeflecht zu denken, als spannungsgeladenes Verhältnis von qualitativ unterschiedlichen Kräften. Er geht davon aus, dass eine Kraft niemals nur in sich selbst ruht, also isoliert im Für-sich-sein verharrt, sondern dass sie sich per se auf eine ihr äußere, differente Kraft beziehen muss. Jedes zufällige In-Beziehung-treten von zwei oder mehreren ungleichen Kräften kann einen Körper erstellen, formieren – eine „Machteinheit“, wie Deleuze meint.(2)
Mit dieser Interpretation übersteigt er die allgemeine, vom cartesischen Begriff der res extensa geprägte Auffassung dessen, was gemeinhin als „Körper“ bezeichnet oder zu definieren versucht wird: Durch den intentionalen Drang und Trieb der Machteinheiten, mit anderen, körperfremden Kräften eine Verbindung einzugehen, von ihnen erregt, affiziert zu werden und auf der anderen Seite diese wiederum zu erregen, sind sie nicht als bloße ausgedehnte Dinge zu betrachten, deren Territorien und Einflußbereiche mit dem geometrisch-mathematischen Raum zusammenfallen, den sie einnehmen. Vielmehr werden die Körper als Öffnungen, als Passagen begriffen, die im Sinne der heideggerschen „Ek-sistenz“ in die Welt hinausstehen(3) – sie werden bei Deleuze zu Kräftefelder, die mit poröser Haut überzogen sind und auf denen Empfänge, Begrüßungen und Verabschiedungen, kurz: Berührungen stattfinden, statthaben.
Mit dem Wort „statthaben“, das auf eine „Stätte“ verweist, ist auch schon eine Brücke zum beweglichen Begriff der „Gastlichkeit“ geschlagen: Jemand kommt, um Halt, um Rast zu machen, und dieser Jemand ist nicht vom selben Ort – der Ort, von dem er kommt, ist nicht das „Hier“ der Gaststätte. Es ist ein Fremder aus der Fremde, aus einem vielleicht unbekannten „Dort“, der an die Tür klopft. Das Geräusch der Ankunft, das Klopfen ist stets der Beginn einer „Krise“: Das Wort krisis bedeutet bekanntlich im Griechischen „Entscheidung“ oder „entscheidende Wendung“. Die Bewegung der Gastlichkeit vollzieht sich also zuerst im Modus einer grundlegenden Zu-Wendung, eines Sich-wenden-an. So schreibt auch Hans-Dieter Bahr in seinem Buch „Die Befremdlichkeit des Gastes“: „In der Gastlichkeit geht es um die nicht leicht zu verstehende Weise einer Zu-Wendung, die mehr als nur Zuwendung zur anderen Person bedeutet.“(4)
Ein mit seiner Umwelt vertrauter Körper wendet sich einem Unvertrauten zu, einem Un-heimlichen oder Nicht-Heimischen, der dem Ort fremd ist und dem der Ort, an dem er angekommen ist, fremd ist. Diese krisis-Bewegung wird, um mit Jean-Luc Nancy zu sprechen, durch das Exponiertsein der Körper ermöglicht, und sie ist essentiell, wenn ein territorialer Raum (zum Beispiel ein Staat, eine Gesellschaft, ein Haus, ein Zimmer, ein Text, mein Körper, der Körper des oder der anderen, ihre, seine, meine Muttersprache, etc.) zu einer gastlichen Stätte werden soll; sie ist explosiv, extensive Dynamik oder Dynamit, denn die Kraft der Gastlichkeit wendet sich dem Ankömmling intentional zu, was bedeutet, dass sie sich damit gleichzeitig gegen jede Art von Hermetik und Einschließung wendet. Nietzsche ist demnach auch einer der gastlichsten Denker, er ist, wie er von sich selbst sagt, jener Sprengstoff, jenes Dynamit, das nicht von der Nächsten-, sondern von der „Fernsten-Liebe“ spricht: „Rathe ich euch zur Nächstenliebe? Lieber noch rathe ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe!“(5)
Doch ist es möglich, jeden fernsten Fremden, jeden Uneingeladenen willkommen zu heißen, ihm Gastfreundschaft anzubieten? Was, wenn die Kräfte des Gastes nicht zu meinen Kräften passen, wenn sie durch ihre Heterogenität meinen Körper, meine Gaststätte in Unordnung bringen? Kann man einem Gast überhaupt vertrauen? Auf der anderen Seite: Was, wenn ich als Gast um eine Stätte bitte und der Gastgeber sich in weiterer Folge als Verbrecher, als Mörder entpuppen sollte, der mir nach dem Leben trachtet? Vielleicht wird sich ja seine Zuwendung, vielleicht wird sich sein gastliches Stätte-geben als krankmachendes Gift für meine Kräfte-Ordnung herausstellen?
Diese Fragen des protentionalen Verdachtes, geschürt durch ein reaktives „vielleicht“, laufen Gefahr, in xenophobischer Richtung auf ein Ver-denken hinzudriften, auf ein Ver-denken des Un-heimlichen und der un-heimlichen Kräfte. Als ein paranoides Denken, das immer mit dem Schlimmsten rechnet, tendiert es dazu, von vorn herein das Fremde und dessen Ankunft zu scheuen, sich in sich selbst zurück zu ziehen und sich punktuell zu verdichten, ähnlich einem schwarzen Loch. Die Verhärtung der scheinbar definitiv fixierbaren Rollen von Gast und Gastgeber kommt einer erstarrten Ghettoisierung gleich, in der sich beide in ihr subjektives Für-sich-sein einkapseln, um sich gegen jegliche potentielle Gefahr des Zugriffs von vornherein zu immunisieren – eine vor-sichtige Maßnahme der klaustrophilen Abschottung, damit kein möglicher anderer, fremder Körper die Organisation des jeweiligen Körpers destabilisieren kann, was letztlich in eine prophylaktische Kontakt-Verweigerung, in ein frigides Zurückweichen vor dem toucher, vor der Berührung selbst mündet.
Wenn zum Beispiel Sartre von der Ankunft des Anderen schreibt, dann meistens aus einem Blickwinkel, bei dem sich die Umgebung, die vertraute Umwelt des einen Subjekts durch den Blick eines anderen, hinzutretenden Für-sich-sein desorientiert, desintegriert und vor dem „Ich“ flieht: „Der Andere, das ist zunächst die permanente Flucht der Dinge auf ein Ziel hin, das ich gleichzeitig in einer gewissen Distanz von mir als Gegenstand erfasse und das mir entgeht, insofern es um sich herum seine eigenen Distanzen entfaltet.“(6)
Hier ist von einer freundschaftlich-gastlichen Zu-wendung wenig zu spüren. Es scheint vielmehr, dass der Andere als bösartiger Parasit in die Welt des Ichs hereinbricht, der okkupierend dem Eigenen, dem Heimischen, dem Heimatlichen Stiche zufügt und so jene „innere Hämorraghie“(7) auslöst, durch die sein Universum, sein Territorium, seine Eigenheit ausblutet. Das Für-sich erlebt sich bei Sartre zwar im Modus eines existenzialen Für-andere-sein – darin liegt jedoch nicht die Aussicht auf eine glückliche Chance, sondern die beständige, paranoide Gefahr, vom Anderen, oder, genauer: vom Blick des Anderen ertappt, beurteilt, fixiert zu werden – der Andere wird bei Sartre zur Hölle des Mit-seins, zum Tod für die transzendenten Möglichkeiten des eigenen Entwurfs und zur Grenze der Freiheit des sich aktiv-reflexiv entwerfenden Subjekts.(8)
In dieser Interpretation wird letzten Endes die Porosität des Körpers und seiner Haut negiert, die Poren schließen sich, jede Öffnung wird, ähnlich wie die weiblichen Körper bei den zahlreichen sexuellen Handlungen in den Texten vom Marquis de Sade, abgedichtet und verstopft. Die Territorien der Körper sichern ihre Grenzen, sie igeln sich in ihrer Furcht vor dem Anderen ein und verweigern die Bewegung einer Zuwendung zur Figur des „Gastes“ selbst.
Denkt man zurück an die Unruhen in den Pariser Vorstädten im Herbst 2005, bei denen unzählige Autos von meist muslimischen Jugendlichen in Brand gesteckt wurden, oder, in jüngster Vergangenheit, an den Fall des Mädchens Arigona, der in seiner Singularität keineswegs einen Einzelfall darstellt, so werden darin Zeichen sichtbar, die auf eben jene Stagnierung eines Körpers, nämlich eines Staatskörpers, in und vor der Frage nach dem „Gast“ und der Gastfreundschaft verweisen: Muss die Zerstörung der Autos, jene Ausdrücke für Mobilität, und muss die Flucht des Mädchens Arigona in ein Versteck nicht als appellierende Petition, als bittender Hilferuf begriffen werden, als Anklage des Vergessens, des Ignorierens und des Unterlassens der ständig notwendigen Arbeit und der unabschließbaren Überarbeitung der mobilen Figur des „Gastes“? Fordert diese Figur nicht per se nach permanenter, mobiler Re-Petition, in Hinblick auf die unabschließbare Zukunft eines „absoluten Gesetzes der Gastfreundschaft“, von dem Jacques Derrida spricht?
In seinem Buch „Von der Gastfreundschaft“ differenziert Derrida die Gesetze der Gastfreundschaft, er spricht von dem „unbedingten“, „absoluten“ und „unmöglichen“ Gesetz, und von den Gesetzen, d.h. den möglichen, historisch verwirklichten und verwirklichbaren Gesetzen der Gastfreundschaft. Beide Arten, beide Modelle oder Gesetzesordnungen bedingen einander, sind voneinander abhängig, sie implizieren einander, und gleichzeitig schließen sie jedoch einander aus, gleichzeitig sind sie, auch und besonders in ihrer zeitlichen, sich zeitigenden Struktur völlig heterogen. Er schreibt: „Doch obgleich es über den Gesetzen der Gastfreundschaft steht, braucht das unbedingte Gesetz der Gastfreundschaft die Gesetze, es erfordert sie. Diese Forderung ist konstitutiv. Das Gesetz wäre nicht wirklich unbedingt, wenn es nicht wirklich, konkret, bestimmt werden müsste, wenn darin nicht sein Sein als ein Sein-müssen bestünde. Es würde Gefahr laufen, abstrakt, utopisch, illusorisch zu sein und sich somit in sein Gegenteil zu verkehren. Um zu sein, was es ist, braucht das Gesetz die Gesetze, die es dennoch negieren, die es jedenfalls bedrohen, bisweilen korrumpieren oder pervertieren. Und die dazu in der Lage sein müssen. [...] Diese beiden Gesetzesordnungen, die Ordnung des Gesetzes und die Ordnung der Gesetze, sind also zugleich widersprüchlich, antinomisch und untrennbar verbunden. Sie implizieren einander und schließen sich gegenseitig aus.“(9)
Bei Derrida geht die Bewegung der krisenhaften Zuwendung nicht nur vom Gastgeber oder vom Besitzer der Gaststätte aus – es ist eher zuerst der Fremde, der xenos, der sich mit einer Frage an diesen wendet: Die Frage nach einer Stätte, nach einer „Bleibe“, die Bitte um Gewährung des Aufenthalts-, des Anwesenheitsrechtes. Diese un-heimliche Frage, dieser Gruß aus dem Mund eines plötzlich, ohne Vorwarnung auftauchenden Unbekannten geschieht für Derrida im Sinne des unerwartbaren, hereinbrechenden „Ereignisses“ und wird gewöhnlich vom überraschten Gastgeber mit einer Gegenfrage beantwortet: Wer ist es, der da zur Unzeit kommt, wer will mein Gast sein, wer wirbt hier um meine Gastfreundschaft?
Ein Name wird verlangt, aber nicht nur ein Name, sondern der Name des Gastes. Ihn will man identifizieren, kategorisieren, fixieren können, er muss sich ausweisen, um nicht ausgewiesen zu werden, um bleiben zu dürfen. Die Finger des Gastgebers schließen sich erst dann grüßend um die Hand des potentiellen Gastes, wenn dessen Fingerabdruck gescannt, aufgelesen, geprüft werden konnte (– wie es momentan, als aktuelles Beispiel, die allgemeine Praxis der amerikanischen Behörden bei der Einreise in die USA ist, der sich jeder Besucher zu unterwerfen hat). Oder allgemeiner: Der Körper des Gastgebers formiert erst nachträglich die vielfältigen Codes seiner Begrüßung, nach der Antwort des Gastes: My name is Markus Mittmansgruber. Der Befehl, der Imperativ zur Bekanntgabe des Namens kommt von den realen, allgemeinen Gesetzen der Gastfreundschaft, von jenen, die Bedingungen stellen. Das Fremde muss in ihnen und durch sie identifizierbar gemacht werden, es muss auf gewisse Art angeeignet und assimiliert werden, damit die ökonomisch festgelegten Rechten und Pflichten beider Parteien geregelt werden, kontrolliert zirkulieren und ihren bürokratischen Lauf nehmen können. Ein Vertrag, ein Pakt wird zwischen Gast und Gastgeber unterzeichnet:(10) Was darf der Gast, was darf er nicht, was muss er tun – und an was muss sich der Gastgeber halten, was ist ihm erlaubt, was ist ihm untersagt?
Im Gegensatz dazu bewegt sich das Gesetz der „unmöglichen“, „unbedingten“ Gastfreundschaft mit einer radikalen Zurückhaltung und mit völliger Anonymität in die Richtung des Anderen. Seine ihm aufgegebene Kraft besteht darin, performativ auf die realen Gesetze der Gastfreundschaft als Appell, als Mahnung zu wirken und gegebenenfalls, auf gesetzlich illegalem Wege, auch mit ihnen zu brechen. Seine Unbedingtheit rührt von der Antwort und von der Verantwortung des Gastgebers her. Dieser müsste sich zurückhalten, und er müsste seine Fragen zurückhalten, die ihm auf der Zunge brennen, wenn er sich dem Fremden zuwendet: Wer sind Sie? Wie heißen Sie?
Die Frage nach dem Namen, die Kontrolle der Bedeutung und des Sinns von Besuch und Aufenthalt dürften nicht gestellt werden, der Gast dürfte sich keinen Einschränkungen, keinen Pflichten gegenüber sehen.(11) Dieses unbedingte und letztlich unmögliche, uneingeschränkte Gesetz der Gastfreundschaft, diese Geste der absoluten Gabe, die für Derrida jenseits einer Ökonomie des Gebens stattfinden und keine Gegen-Gabe, keinen Austausch verlangen würde, hätte die Differenz des Anderen in ihrer Totalität respektiert. So schreibt Derrida: „Denn um zu sein, was sie sein „soll“, darf die Gastfreundschaft weder eine Schuld begleichen noch von einer Pflicht geleitet sein: als freundlich, freiwillig und unentgeltlich „soll“ sie sich nicht dem Gast [dem Eingeladenen oder Besucher] öffnen, auch nicht „pflichtgemäß“ oder, um die Kantische Unterscheidung aufzugreifen, „aus Pflicht“. Dieses unbedingte Gesetz der Gastfreundschaft wäre also, so man dies denken kann, ein Gesetz ohne Imperativ, ohne Befehl und ohne Pflicht. Kurzum: ein Gesetz ohne Gesetz. Ein Appell, der herbeiruft (mande), ohne zu befehlen (commander). Denn wenn ich Gastfreundschaft aus Pflicht übe [und nicht nur der Pflicht gemäß], ist diese Gastfreundschaft-aus-Pflicht keine absolute Gastfreundschaft mehr, wird sie nicht mehr jenseits von Pflicht und Ökonomie freundlich, freiwillig und unentgeltlich gewährt, wird sie nicht mehr dem Anderen geschenkt, ist sie keine Gastfreundschaft mehr, die für die Singularität des Ankömmlings, des unerwarteten Besuchers erfunden wurde.“(12)
Aus der Perspektive des gesetzlosen, appellativen Gesetzes der „absoluten Gastfreundschaft“ müsste der Gast also ein namenloses, anonymes „Gespenst“ bleiben – er müsste in der singulären Differenz seines reinen, sich ereignenden Ankommens für immer unbestimmt, unidentifizierbar und in seiner Anwesenheit abwesend bleiben, um ihn angemessen begrüßen zu können.
Auch wenn es sich niemals in vollem Umfang realisieren lassen wird, so hält doch das Gedächtnis, das erinnernde, ahnende Andenken an das Gesetz den Sinn des Gastes offen und garantiert für die Transporte, für die Zugänge, für die Kanäle zwischen den Körpern und damit für ihre Berührbarkeit. Das Gesetz der Gastfreundschaft, ihre absolute „Unbedingtheit“ wird immer von den Gesetzen der Gastfreundschaft, von ihren realen Ausdrücken (z.B. in Asyl- oder Einwanderungsbestimmungen) pervertiert und bedroht werden, und zwar notwendigerweise: Würden die Gesetze lediglich das Gesetz entfalten, oder würden sie es sozusagen als Idee lediglich repräsentieren und sich ihm kontinuierlich-linear annähern, bis sie es vollenden und 1:1 realisieren, so würde der Ausdruck „Gast“ und seine unerwartbare, unvorhersehbare Ankunft sofort in die Bedeutungslosigkeit versinken und verschwinden, und mit ihm das extensive „Da“ im heideggerschen „Da-sein“ der Körper. Jede Frage nach einem Verschluss, nach einem Abschluss oder nach der Offenheit von Orten, von Stätten, jede Arbeit an der Sensibilität der Körper und ihrer Haut, jeder Diskurs darüber würde im Hinblick auf die zukünftig sowieso stattfindende Realisierung des absoluten telos obsolet werden. Die Menschen und ihre Welt würden deterministisch fest-gestellt sein, und sie würden letztlich nebeneinander aufhören, das nicht antizipierbare „Ereignis“ einer fremden Ankunft ahnend zu erwarten.
Dieser Kollaps der Zukünftigkeit wird jedoch von dem Gesetz der Gastfreundschaft gerade durch seine undialektisierbare Heterogenität zu den Gesetzen und durch den ständig notwendigen Aufschub seiner realen Präsenz verhindert: Sein appellierender Ruf weckt wiederholt die wechselseitige Verantwortung beider Gestalten für-ein-ander, des Gastes und des Gastgebers. Seine Kraft rührt vom ex-tensiven Außer-sich-sein der Körper selbst her, die im Modus einer verantwortlichen, kraftvollen, sich zuwendenden Bezogenheit ihr Selbst transzendieren: Der Ausdruck „Gast“ überschreitet immer schon intentional das Ego, ihn zieht es in die Ferne – in Richtung des Anderen, in Richtung des Gastgebers, der verantwortungsvoll verhindert, dass der „Gast“ mit sich selbst identisch wird. Noch einmal Hans-Dieter Bahr: „Als Gast bezeichnete man vielmehr denjenigen, der schlechthin nicht bei sich selbst ist, ob er nun als Herr der eigenen Person oder nur als dienende Sache galt, als nicht sich selbst veräußerndes Subjekt oder als veräußertes Objekt eines Austausches.“(13)
Umgekehrt ist es der Gastgeber, der in seiner ekstatischen Körperlichkeit von den Kräften des Gastes träumt, von jenen unbekannten, fremden Kräften jenseits seines Erwartungshorizonts, die ihm als „Ereignis“ begegnen werden, die sich teilweise mit den seinen synthetisieren oder auch fragmentarisch seine geordneten Strukturen aufspalten können – aber genau damit, nach Deleuze, sein eigenes Empfindungsvermögen, seine eigene „Affektfähigkeit“(14), sein „Machtpotential“ steigern. Der Gastgeber fühlt, dass es ihn zum Anderen hinzieht, zum Ankommenden, zu dem, der kommt und der zukünftig kommen wird.
Gerade dieser permanente Zug der Körper, ihr Ziehen, ihr gastliches Sich-Beziehen auf fremde, äußere Kräfte ist es, was ihren Organismus vor seiner hermetischen Monadisierung, vor seinem Kannibalismus und vor seiner sich selbst zersetzenden Autoimmunisierung bewahrt. Denn im bereitwilligen Treffen auf un-heimliche Kräfte, im nicht-filternden, nicht selektierenden Treffen auf gespenstische Gäste liegt die Chance, sich selbst unheimlich zu werden – um, wie Nietzsche sagt, im „Pathos der Distanz“(15) zum Anderen und zu sich selbst die eigenen Kräfte und mit ihnen die Kräfte des Anderen zu re-aktivieren, d.h. sie different und produktiv zu re-organisieren. Auf diese Weise kann die eigene Kontamination durch den Anderen gast-freundlich bejaht, kann die krisis der fremden Berührung als remarkierender Wendepunkt für den jeweiligen Körper positiv affirmiert werden und statt haben.
Die Begegnung von Gast und Gastgeber lässt sich nicht, wie es vielleicht den Anschein hat, auf das einfache Aufeinandertreffen zweier lebendig-präsenter Körper aus Fleisch und Blut reduzieren. Die Heimsuchung durch den Gast beherbergt immer auch Elemente des Spektralen, des Gespenstischen – anwesende Spuren der Abwesenheit des Vergangenen oder des Zukünftigen, die sich gegenwärtig als „Gespenster“ wiederholen und aktualisieren. Ein Körper, sei es nun ein Staat, eine Gesellschaft, eine Bevölkerungsschicht, eine religiöse Gemeinschaft oder ein wissenschaftlicher Diskurs, hat, wenn er das Gesetz der absoluten Gastfreunschaft ernst nehmen will, nicht nur die Aufgabe, mit gegenwärtigen, lebendigen Gästen in ihrer Singularität und in der Einzigartigkeit ihrer Ankunft umzugehen – mit Ankommenden also, die einmal und nie wieder erscheinen. Er muss besonders auch mit jenen unheimlichen, anachronistischen Gästen rechnen, die sich ihm erneut aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft anbieten – mit wiederkehrenden, spukenden Besuchern also, die man ins Vergessen abgeschoben, für tot erklärt hatte und die bereits zu Grabe getragen wurden.
Wie oft hat man bereits das Ende oder den Tod dieses oder jenes Körpers diagnostiziert: Vom Exitus der Metaphysik war und ist die Rede, vom Ende der Kunst, der Dichtung, vom endgültigen Abschluss der Geschichte, der Religion – ja selbst die Philosophie wurde bereits mehrmals feierlich bestattet. Es stellt sich mit Derrida die Frage, ob diese apokalyptischen Diskurse über das Ende nicht einer Strategie der nekrologischen Aneignung gehorchen – einer Strategie des Tot-sagens von Körpern, die darauf abzielt, jene zu bannen, sie für immer und in alle Ewigkeit zu verabschieden, um auf diesem Wege ihren Sinn zu schließen, um sie als geschlossene, endgültige Ganzheiten zu identifizieren, um sie in ihren Gräbern eingeschlossen und lokalisiert zu wissen und damit ihr reaktualisierendes Wiederauftauchen als „Gespenster“ zu verhindern. Würde das nicht einer Verweigerung und einer Aberkennung des Gastrechtes für „gespenstische“ Erscheinungen gleichkommen, und würde damit nicht einem exorzistischen Ritual Vorschub geleistet werden, das annimmt, die ankommenden Körper auf selektivem Wege ohne weiteres in tote und damit abwesende auf der einen, und in lebendige und damit anwesende Körper auf der anderen Seite einteilen zu können?
Indem diese Austreibung den Tod dieses oder jenes Körpers herbeizitiert, der dessen Bedeutung definitiv festschreiben soll, ignoriert sie das Gesetz der Gastfreundschaft und die notwendige, unabschließbare Wiederholung seines Aufschubs. Sie läuft Gefahr, die Offenheit der Körper, die Offenheit und Unabschließbarkeit ihrer Bedeutung zu missachten, und damit den Einbruch unzeitlicher Kräfte in unsere Gegenwart. Dabei sind es gerade die radikal anderen, wiederkehrenden Energien der abwesend-anwesenden „Gespenster“, die für die Ethik einer Gastfreundschaft eine der größten Herausforderungen darstellen: Diese besteht eben darin, auf den Ruf der „Gespenster“ und auf die Eigensinnigkeit ihres Wieder-Erscheinens gastfreundlich zu antworten, um somit gerade diesen Kräften jene gastfreundliche Stätte anzubieten, der sie begegnen, die sie heimsuchen und berühren können, und die vor allem für sie offen bleibt, hinsichtlich ihres potentiellen Wiederkommens.
Das bisher in diesem Vortrag Gesagte kann als ein zukünftiges Plädoyer gehört werden – für die unbeendbare Arbeit an einer Offenhaltung der Körper und für eine interdiszipinäre, unkalkulierbare Gastfreundschaft, der jeder wissenschaftliche Diskurs un-gesetzlich untersteht und die es zu bewahren gilt. Die dynamischen Kräfte von Begrifflichkeiten, Gedanken und Überlegungen, zum Beispiel aus dem Bereich der Philosophie, bleiben nicht nur gefangen und konserviert auf ihrem territorialen Forschungsfeld, sondern entschreiben als bewegliche, funktionierende Organe in einem ek-sistierenden Diskurskörper automatisch diesen selbst auf andere diskursive Körper hin: Sie wandern, sie überholen sich in ihrer bloßen Funktionalität und sprengen jede Art eines politischen, selektiven Organizismus: Als unheimlich gewordene Gespenster, die durch Wände gehen, die also plötzlich über einen anderen Diskurskörper hereinbrechen, unterlaufen sie den Glauben an die Abschätzbarkeit dessen, der, die oder das da kommen wird, und damit auch jedes diskriminierende Vorhaben, lediglich die guten, die passenden, die angepassten Ankommenden willkommen zu heißen.
Ihre Übertragungen auf die verschiedensten Disziplinen, der Physik, der Medizin, der Medientheorie, der Kunst, der Politik, des Rechts, der Sozialwissenschaft etc. etc., ihre Teleportationen finden statt, finden im Zwischen der Körper eine Stätte, und gerade dieses mediale Zwischen ist es, was sie wiederum umgekehrt in die Lage versetzt, fremde Kräfte zu empfangen – damit diese sich gegenseitig befruchten, damit ihre Kräfte in die stabil und harmonisch scheinende Ordnung des jeweiligen anderen wissenschaftlichen Organismus eindringen und dort als gespenstische Gäste jene produktive, unkontrollierbare Verwirrung stiften, durch die sich erst der Sinn, der Kontext und das Selbst-Verständnis des jeweiligen Körpers zu verschieben beginnt und fragwürdig werden kann: Körper der Durchlässigkeit, Körper als Orte der gastlichen Wiederholung, die sich in jeder Touchierung, in jeder aufreibenden Punktierung transformieren und an Geschwindigkeit zulegen, in Richtung des zukünftigen Versprechens an jenes „Mit-ein-ander-seins“, von dem Jean-Luc Nancy spricht und das an eine Freundschaft zum fremden Gast appelliert. In „singulär plural sein“ heißt es:
„Jetzt geht es darum, nicht mehr
- ausgehend vom Einen oder vom Anderen
- noch von beiden zusammen begriffen, bald das EINE, bald das ANDERE zu denken,
sondern absolut und rückhaltlos ausgehend vom „Mit“ als der Wesenseigenschaft eines Seins, das nichts als Mit-ein-ander ist.“(16)
Vielleicht wird es auch und besonders in Zukunft darum gehen müssen, die Figuren von „Gast“, „Gastgeber“ und „Gespenst“ aus dieser Sphäre des Mit-ein-ander-seins zu denken und in ihr sowohl das Andenken an das Gesetz der absoluten Gastfreundschaft wach zu halten als auch eine wiederholende Analyse der realen Gesetze der Gastfreundschaft zu gewährleisten.
Fußnoten:
6.9. Touching Society
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