TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Januar 2010

Sektion 6.9. Touching Society
SektionsleiterInnen | Section Chairs:Arno Böhler und Katja Mayer (Universität Wien, Österreich)

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Politik der Poesie

Elisabeth Schäfer  (Wien) [BIO]

Email: elisabeth.schaefer@chello.at

 

„Kinder, bin ohne Worte,
Doch spreche ich, sobald ihr mich fragt,
denn eine nimmermüde Stimme
will mir nicht aus dem Sinn:“(1)

Sappho (Fragmente)

 

I. Körper/ Werden/ Denken – ein Ausblick

Denken Körper und: Wie werden sie?

Wie werden Körper. Und werden Körper: wie sie sind – auch wahrgenommen von einem Denken – oder rühren Körper, Körper wie sie sind; Körper, die geworden sind, die im Werden sind – sind sie nicht immer schon und noch im Werden – rühren also: Körper: an eine Zone instabilen Sinns, zersetzten Wissens, sich entziehender Sprache.

Aber da ist immer Sprache, immer noch Sprache, wo Körper sind. Und da sind immer noch Körper, wo Sprache ist. Also auch Denken.

Wird dieses Denken schon gedacht? Das Denken der Körper. Und wird es gesagt und geschrieben. Und wie sähe das aus?

Die Körper sind nicht einfach da und vollendet und perfekt. Und ein „Perfekt“ sind sie auch nicht. In den Körpern wird ein Zug zur Welt wirksam und wirklich. Und die Welt wirkt ebenso wirksam und wirklich und mächtig. In diesem Zug und in diesem Sinn ist die Frage des Werdens der Körper eine politische Frage und eine Frage nach der Hervorbringung, der poiesis (griechisch, zu poiein: „machen“).

Ein poetisches Denken käme dem Werden der Körper nahe. Und in diesem Text möchte ich mich in den Zug der Körper begeben – mich den Körpern annähern. Ich könnte in diesem Text eine Reisende sein; eine im Zug, eine Schreibende. Eine, die auch Gastfreundschaft beanspruchen muss, ist eine Reisende. Eine Reisende ist zu Gast, und sie ist Gast/Gästin– hier wie dort, fort, da – im Olymp und in der ärmsten DichterInnenstube.

Wohin geht die Reise: in eine Fremde? Oder mitten hinein ins vertraute Herz der Existenz. Aber welches Herz wäre vertraut.

Geht es in eine Kolonie auswärts, eine Enklave oder ein Exil. Oder ist eine Reise selbst Medium für das, was ist und wie es geworden ist und wird, was es ist.

Auf meiner Reise möchte ich mehrere Wege gehen. Ein Gefährte wird der Forschungsreisende aus Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ von 1914 sein, aber unsere Wege werden sich bald trennen. Nicht nur, weil er am Ende der Erzählung ein Boot besteigt und niemanden mitnimmt, also grundsätzlich eine weitere Begleitung ablehnt...

Jean-Luc Nancy, der sich in der Kafka` schen Erzählung gar nicht wiederfindet, wird ein weiterer Gefährte sein. Der gewaltigen und ebenso tätigen „Körperpresse“ (Nancy) – vergleichbar mit der Maschinerie der „Körperzeichnung“ in Kafkas „Strafkolonie“ – zu unterlaufen ist das philosophische und politische Projekt des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy.  Ausgehend von dem Vorhaben, nicht über den Körper zu schreiben, sondern die Körper selbst schreiben, entschreiben zu lassen, kann es ein Denken der Körper selbst geben. Die Körper, die sich in seinem Werk „Corpus“ entschreiben, entgehen der „Strafkolonie“ Kafkas, und mit der Philosophie Nancys gelingt es Gesellschaft als eine Gemeinschaft der Körper um / zu denken.

In einer weiteren Etappe soll diese Gemeinschaft der Körper als eine „Kolonie der Musen“ gedacht werden. Wo die Musen sind, ist ein Zwischen, eine Passage, eine Schickung, eine Botschaft und ein Ankommen und WeitergehenWeitergeben auch. Die „rosenarmigen Töchter des Zeus“ (Sappho), die Musen werden  – mit etwas Glück – meine Reisegefährtinnen am Schluss und Ausgang meines Textes, wo es um die Körper, deren Poesie und Politik gehen wird. Anders als in Kafkas „Strafkolonie“, wo den Körpern das überschrittene Gebot eingeschrieben wird, möchte ich eine „Kolonie der Musenkörper“ entwerfen, in der die Körper Gebote überschreiten, die sie durch ihre Affektivität immer schon überschreiten und auf diese Weise selbst ins Schreiben kommen.

Was ist ein Körper. Ein Körper ist ausgedehnt, und ein Körper, wenn ein Körper etwas tut, ist es sich auszudehnen. Körper dehnen sich aus, sie vervielfältigen sich und haben auch viele Falten. Körper sind offen und öffnen sich. Für ein Ankommen einer Welt, die eine immer fort stehende Welle an der Haut der Körper ist.

Körper sind Haut, überall sind Körper Haut, außen und innen, das macht keinen Unterschied. Der Unterschied, der Ort, der scheidet, der Ort, wo etwas geschieden wird, der Ort der Differenz, des Spannungsgefälles ist nicht beschrieben mit einem inneren und einem äußeren Territorium, um das hier wie dort gekämpft, gewacht werden müsste. Das Spannungsgefälle, die Differenz ist hingegen die Haut selbst, die der Körper ist. Eine Grenze, an der alles angrenzt und von der sich alles abgrenzt und die sich von dort her entgrenzt.

Die Körper ragen ins Unbegrenzte hinaus. „An sich“ lässt sich das Unbegrenzte nicht denken, es lässt sich von den Körpern her denken, an deren Grenze sie sich selbst un-begrenzen, entgrenzen, entäußern usw. ohne sich zu verlieren. Ein Ausdehnen bleibt eine spannende Bewegung.

Körper verschließen sich auch und das nicht nur dort, wo wir sagen: Mund. Aber auch dort. Und auch dort wo wir sagen: Ohr. Oder: Gehör. Auch eine Haut kann sich abwenden. Und der Passage secret, der geheimen Passage von Sinn und Sinnesimpressionen entgehen wollen. Kontrolle ist hier im Spiel. Im Spiel, das sich spielt und spiegelt und fortsetzt in einer unaufhaltsamen Mechanik von Reproduktionen bestimmter Körper und bestimmbarer Körper.

Aber das Unaufhaltsame richtet sich dort ein, wo die Wiederholung ein Zug der Körper ist. Das Unaufhaltsame generiert sich aus dem Zug der Körper. Immer schon. Körper sind immer schon bezogen aufeinander und  gezogen zueinander, zur Welt und zum Sinn.

Die Körper sind im Werden, und sie sind Gewordene. Sie sind in diesem Zug, diesem Wachsen und Wuchern und kraft dessen, werden sie.

Aber gibt es ein Subjekt dieser Kraftanwendung? Sollte es eines geben? Und wie versteht sich dieses Subjekt, das Subjekt eines Körpers wird oder Subjekt vieler Körper?

Und geschieht die Anwendung der Kraft, die im Werden, im Zug der Körper wohnt, nicht immer schon da, wo Körper kontrolliert, gemacht, produziert, gefügt und zueinander gesellt werden: In Gesellschaften, die Körper anordnen, und ihnen anordnen wie, sie fügen, pressen durch Ein- und Ausschlussmechanismen, durch Kanalisierungen von Massen und Prozesse von Vereinzelung? Eine Gesellschaft, die dieses Verfahren einleitet und durchführt und unterschreibt, ist Subjekt einer „Körperpresse“ (Nancy), die sich der Kraft der Körper bedient, um sie sich gefügig zu machen. Sie zu erpressen, darüber, was festgeschrieben ist, wie Körper zu sein haben, sind und werden sollen.

Aber wo ist das Subjekt „Gesellschaft“ zu suchen, wird es zu finden sein. Haben sie schon einmal eine Gesellschaft gesehen, die gerade in diesem Augenblick am Werk ist, Körper zu pressen? Wo findet ihr gespenstisches Tun statt. Und die Körper – mit ihrer Kraft, bleiben sie nicht letztlich die Fuge, an der die Iteration stattfindet, die Abweichung in der Wiederholung.

Jedes Zeichen, so schreibt Derrida, gesprochenes oder geschriebenes, ist zu verstehen als Schrift „als Schrift, das heißt als Möglichkeit eines Funktionierens, das an einem gewissen Punkt von seinem >>ursprünglichen<< Sagen-Wollen und seiner Zugehörigkeit zu einem sättigbaren und zwingenden Kontext getrennt wurde.“(2) Die Iterabilität ist damit ein notwendiges Moment im Denken der Wiederholung. Alle Zeichen müssen iterierbar sein, sie müssen wiederholbar sein. Das bedeutet zum einen, dass sie immer wieder als die, die sie sind, zu erkennen und von anderen zu unterscheiden sein müssen. Es bedeutet zugleich – durch die Prozedur der Pfropfung, dass sie in der Wiederholung veränderbar sind, „iter ‚nochmals‘, kommt von itara, anders im Sanskrit“(3).

Kein Zeichen ist in einem bestimmten Kontext festzuhalten. Es scheint aus dieser Perspektive unabhängig vom Kontext zu sein. Und ist es auch. Was aber nicht als eine Art Unabhängigkeit zu verstehen ist, die die Zeichen dazu befähigen würde jenseits aller Kontexte ein Eigenleben zu führen, sich miteinander zu verbinden etc. Die gewisse Unabhängigkeit der Zeichen gegenüber einem bestimmten, bestimmbaren Kontext, wendet sich lediglich gegen die Annahme, es gäbe einen auf alle Zeit gesicherten Interpretationsrahmen für ein Zeichen. Die Iterabilität verändert, unterwandert und macht das Zeichen zum Quasi-Parasit, das sie zu wiederholen ermöglicht. Die Schrift gleitet so immer ab. Was in der Schrift strukturelle enthalten ist, ist die Abwesenheit eines gesicherten Signifikats oder einer aktuell bestimmbaren Bedeutungsintention und jeder Intention die der Verschiebung des Sinns eine spezifische Weiche stellen könnte.

Es ist nicht gesichert, wie der Text „ankommt“, den ich geschrieben habe und vielleicht mit meinem Namen versehen habe, den ich signiert habe. Die Wahrheit des Textes, wenn es eine gibt, ist nicht gesichert. Diese produktive Instabilität des Sinns, die Derrida denkt, spricht über das Terrain der Schrift hinaus.

Gibt es eine Poesie der Körper – darf es sie geben. Und gibt es für die Körper in ihrem Drängen nach Werden und Wuchern und Abweichung, nach Vielzahl und Vielgestalt: Räume? Räume in Gesellschaften, Gesellschaftsformen. „Dürfen“ Körper in Gesellschaften wirksam und wirklich, produktiv und poetisch werden, d.h. wuchern, sich ausdehnen etc.?

Meine Frage nach dem Werden der Körper will dem Aspekt ihres Gewordenseins da nachgehen, wo diese Kraft befreit werden kann, zu einem unkontrollierten Wuchern und Werden – nicht abseits, nicht jenseits – aber dort, wo das Denken der Instabilität eine Verheißung des Werdens sein kann. Körper als produktive Stätte von Widerständigkeiten, von schöpferischen Prozessen vorzustellen, bedeutet, dass es jenseits von Ein- und Ausschließungsmechanismen um eine Aufschließung gehen wird.

 

II. Kafka widerstehen und entziffern

Warum widersteht Jean-Luc Nancy Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“? Und warum nennt Kafka selbst diese Erzählung „peinlich“? Pein und Peinlichkeit. Und Macht und Widerstand.

Nancy schreibt in „Corpus“: „Aber es geht absolut nicht darum, um die Grenzen zu feilschen und was weiß ich für Fährten aufzuzeigen, die sich auf den Körper einschreiben, oder was für unwahrscheinliche Körper auch immer, die sich durch die Buchstaben winden. Das Schreiben rührt an die Körper entlang der absoluten Grenze, die den Sinn des einen von der Haut und den Nerven des anderen trennt. Nichts geht hindurch, und eben dort berührt es. (Ich hasse die von vorne bis hinten falsche, einfach gestrickte, pompöse Geschichte Kafkas In der Strafkolonie.)“(4)

Was also passiert in Kafkas „falscher, einfach gestrickter und pompöser“ Geschichte von der Strafkolonie. Franz Kafka beschreibt 1914 in seiner Erzählung eine Praxis der Urteilsverkündung und des Vollzuges, bei der das überschrittene Gesetz direkt auf die Körper der GesetzesbrecherInnen geritzt wird. Die Urteile werden zu Inschriften in die Körper und die Körper lesen die Überschreitungen des Gesetzes mit den Wunden auf.

Die Erzählung wird 1919 veröffentlicht und Kafka kommentiert seinen Text in einem Brief an Kurt Wolff (11.10.1916): „Zur Erklärung dieser ... Erzählung füge ich nur hinzu, daß nicht nur sie peinlich ist, daß vielmehr unsere allgemeine und meine besondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist.“(5)

Ein „Forschungsreisender“ bereist eine ferne Insel, auf der die Strafkolonie einer europäischen Großmacht eingerichtet ist. Dort wird er eingeladen einer Exekution beizuwohnen, die mittels eines „eigentümlichen Apparates“ vorgenommen wird, „der tief in die Erde eingebaut(en)“ ist. Er nimmt diese Einladung, wenn es eine Einladung dieser Art geben kann, wie es heißt: „nur aus Höflichkeit an“.

Den Apparat zur Einschreibung des Gesetzes und Tötung der GesetzesbrecherInnen hat ein verstorbener Kommandant erfunden, der „Soldat, Richter, Konstrukteur, Chemiker, Zeichner“ in einer Person und  als Schöpfer der gesamten Anlage gilt. Er ist abwesend anwesend. Ebenso tief der Erde, dem Grund der Kolonie verbunden wie seine Schöpfung: der Apparat. Jetzt bedient ein jüngerer Offizier die Maschine, die aus drei Teilen besteht: Einem „Bett“, auf das die Verurteilten bäuchlings geschnallt werden; dem darüber an vier Stangen befestigten „Zeichner“; und einem schwebenden Nadelsystem, das „Egge“ genannt wird und das „Schreibgerät“ ist, das den Verurteilten das übertretene Gebot auf den Leib schreibt. Keine Stimme, keine Schrift auf einem Papier verkündet den Angeklagten ihr Urteil, sie sind verurteilt es in ihren Körper zu empfangen. Das übertretene Gesetz spricht aus den Wunden der Körper. Die Schuld sei „immer zweifellos“.

Es gibt also auch keine Verteidigungsmöglichkeit und jede Abänderung des Urteiles wird von vorneherein ausgeschlossen. Die Hinrichtung dauert zwölf Stunden und nach circa der Hälfte, beschreibt der junge Offizier dem Forschungsreisenden, ereigne sich ein „Wendepunkt“. Nachdem die Egge das überschrittene Gesetz auf den gesamten Körper der Gefolterten geschrieben habe, beginnen die Opfer den Text zu entziffern. Der eigentliche Text ist sehr kurz und zieht sich als schmales Band um den Körper, aber es genügt der Marter nicht: der restliche Körper wird mit „Verzierungen“ versehen.

Das Entziffern beschreibt der junge Offizier folgendermaßen: „Es geschieht ja weiter nichts, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er. Sie haben gesehen, es ist nicht leicht die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er braucht sechs Stunden zu ihrer Vollendung. Dann aber spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn in die Grube, wo er auf das Blutwasser und die Watte niederklatscht. Dann ist das Gericht zu ende, und wir, ich und der Soldat, verscharren ihn.“(6)

Der Forschungsreisende, dessen „Höflichkeit“ es ihm zwar erlaubte die Einladung zu einer Exekution anzunehmen, erhebt jedoch gegen die „Unmenschlichkeit des Verfahrens“ Einspruch. Der Offizier unterbricht die Exekution und schenkt dem Verurteilten die Freiheit, um sich selbst dem Mechanismus des Apparates anzuvertrauen. Er will sich selbst der Zeichnung durch die Maschine ausliefern, um dem Forschungsreisenden zu zeigen, dass die Maschine „Recht spricht“, Recht hat, das Recht auf ihrer Seite hat und die unzweifelhafte Gewissheit einer Wahrheit. Er will den Mechanismus dieser Rechtssprechung selbst verkörpern und sich den Schriftzug: „Sei gerecht“ auf den Körper schreiben lassen. Jedoch scheitert die Maschine an diesem Unterfangen und zerstört sich selbst im Schreiben dieser Worte und tötet zugleich auch den Offizier.

Das „Perforativ“, das hier zugleich ein Performativ ist: „Sei gerecht“ geht nicht auf, es lässt sich mit diesem Schreibmechanismus weder schreiben noch entziffern. Es ist eine Bedeutung, die mit dieser Ordnung nichts zu tun hat und in ihr nicht verwirklicht werden kann.

Kafkas Analyse eines Machtapparates, der den Körpern das Gesetz, das nicht überschritten werden darf, grausam einschreibt, findet in der Metaphorik seiner Erzählung ein starkes Bild. Das Gesetz und die Macht, die es vertritt und vollzieht, kommt über die Verurteilten, ohne dass sie wissen: Was kommt. Was es heißt. Sie können es nicht hören, sie können das Urteil nicht lesen. Sie müssen es mit ihrem aufgerissenen vom Gesetz gezeichneten Körpern entziffern.

Diese Analyse berührt etwas, was das Kommen der Macht auszeichnet, die immer schon eine auszeichnende gewesen ist. Vor allen Körpern und deren Geburt zeichnet immer schon eine Macht die, die kommen aus. Vor jeder Geburt eines Körpers ist die Macht schon gewesen und hat schon bezeichnet, ausgezeichnet, verzeichnet und geurteilt. Sie strukturiert das Werden der Körper, setzt ihrem Wachsen Grenzen und Linien, zwängt sie in Ordnungen und Muster. Dennoch werden Körper, wenn sie zur Welt kommen: lebendige Körper – bei Kafka kommen Körper zur Welt und zu ihrer Bedeutung, indem sie zum Tode verurteilt werden und an ihrer Verurteilung sterben. Das, was die Körper überschritten haben, haben überschreiten können – philosophisch gesprochen: die Transzendentalität der Körper, ist bei Kafka auch ihr Ende.

Aber wie „tief in der Erde eingebaut“ ist der Mechanismus der Macht, der Apparat, der Körperzeichner? Und woher generiert sich die Kraft der Worte „Sei gerecht“, die diesen Apparat ins Wanken bringen kann?

Vor dem Hintergrund dieser Frage lese ich Jean-Luc Nancys kurze Kritik an Kafkas Erzählung: „Ich hasse die von vorne bis hinten falsche, einfach gestrickte, pompöse Geschichte Kafkas In der Strafkolonie.“(7)

Die Motive der Geschichte sind am Ort der Macht „falsch“, die mit ihren regulierenden Prinzipien nicht ewig in die Erde gesetzt ist. Sie sind „einfach gestrickt“, wo ein Dualismus von Körper und Geist, vergänglichen, gepeinigten Körpern und ewigen und wahren Bedeutungen (Gerechtigkeit) aufrechterhalten wird. Und die Geschichte ist eine „pompöse“ Inszenierung der Unmenschlichkeit, der nichts als die suspekte „Höflichkeit“ eines Forschungsreisenden entgegengesetzt wird, der schließlich – wohin nur? – der Presse der

Körper entfliehen kann, aber allein – warum nur?

 

III. Körper widerstehen

Der Körper im Nancy`schen Denken ist „das Offene“. Für Nancy bricht der Körper auf, wo er immer schon den Sinn unterbricht. Das ist etwas anderes als Kafka beschreibt, indem er die Körper beschreiben lässt, sie durchlöchern lässt und am Sinn letztlich sterben lässt. Nirgendwo ist der Sinn eher als im Körper, würde Nancy sagen. Jedoch ohne dass der Körper deshalb „Träger des Sinns“ wäre, „signifikant“ wäre, bedeutend/bedeutet, gezeichnet etc. Es geht also hier nicht um die Momente der Perforation, das Durchstoßen einer Haut mit einer Egge, um eine Schrift der Körper zu beschreiben. Die Schrift der Körper findet immer in einer Bewegung aus den Körpern heraus statt, in der Explikation der Körper, ihrer Expansion, ihrer Extension.

 „Eine Rede vom Körper“ – so schreibt Nancy – „muss immer eine Rede >>ex corpore<< sein“. Wenn von etwas die Rede ist, tritt etwas aus, es wird etwas geäußert. In einer Äußerung tritt etwas aus, aus einem bisherigen, vorläufigen Rahmen. Es tritt in ein Offenes. Offen ist, wo es herkommt, wo und wie es ankommt, weitergeht. Das bedeutet auch, wenn etwas geäußert wird, tritt es gleichzeitig schon aus sich selbst heraus.

Es gibt nicht einen Körper. Ein Körper ist niemals allein. Es sind immer die Körper. Und die Körper sind an ihren Grenzen, die wahrnehmbar sind, eben nicht zu ende. Auch wahrnehmbar nicht zu ende. Im Begrenzen der Körper öffnet die Haut die Körper, entgrenzt die Körper zu ihrer Peripherie. Die Körper sind ausgedehnt. Und sie sind immer außen. Die Haut ist die Ausdehnung der Körper, ihre Entgrenzung an ihrer Grenze. Hier geht etwas aus, der Körper aus sich, hier dehnt sich etwas, expandiert. Die Haut ist der Ort eines Expansion: Strahlung, oder auch Ausstrahlung, Austritt: „Exit“ und Aussage: Explikation.

Nancy schreibt: „Es geschieht vielleicht nicht direkt in der Schrift, falls diese ein >>Innen<< hat. Aber am Rand, an der Grenze, an der Spitze, am äußersten Rand der Schrift geschieht nur das. Der Schrift widerfährt also nie etwas anderes, falls ihr überhaupt etwas widerfährt, als zu berühren.“(8) so beschreibt Nancy den „äußersten Rand“, an dem und von wo aus: die Schrift immer berühren muss. „Genauer: den Körper (oder vielmehr diesen und jenen einzelnen Körper) mit dem Unkörperlichen >>des Sinns<< zu berühren.“(9)

Wenn aber das Unkörperliche einen Körper, die Körper berühren kann, kann es nicht ungebrochen, geschlossen, zur Gänze ein Unkörperliches sein. So auch das Körperliche. Beide sind unterbrochen: voneinander. Das eröffnet eine Spannung. Vom Sinn zum Sinn spannt sich etwas auf, das Unterbrechung und Pore zugleich ist. Eine Schwelle. An der Berührungen statt-haben. Mit Unterbrechung und Spannung bezeichne ich die Struktur, die Form, die Beschaffenheit, auch die „Schrift“ im weitesten, ausgedehntesten Sinne, wie Sinn und Sinn sich zusammenfügen, artikulieren. (Artikulation = Zusammenfügung). Diese Artikulation kann in Kafkas Erzählung nicht statthaben. Hier sind die Körper Oberflächen, die nicht entgegenstehen, durchlöcherbar von der Unerbittlichkeit des Gesetzes. Allein das Wort „sei gerecht“ vermag es den „tief in die Erde eingebauten Apparat“ zu erschüttern. Aber wo ist „allein“ ein Wort? Wo kann „allein“ ein Wort sein? Ohne Antwort, ohne einen entgegenkommenden Sinn, Anderen – ohne das Denken der Weltoffenheit.

Wo der Körper sich äußerst exponiert und zurückzieht, wo er sich öffnet oder besser gesagt: immer schon offen ist, ist die Haut die Stätte, wo sich die Bezogenheit abspielt. An einer Haut kommt immer etwas an und von ihr geht immer etwas aus. Eine Welle, die immer kommt und geht. Eine stehende Welle. Die Explikationen einer Haut sind ihre Schriften, ihre Mündung in den Sinn. Das sprachliche Zeichen tätowiert sich nicht. Und die Körper lassen sich nicht perforieren. Körper sind Stätten des entgegenstehenden und entgegenkommenden Sinns.

 

IV. Musenkörper/Körper sind Musen

Gibt es Körper „In der Strafkolonie“, die von einem Zug zur Welt berührt und in Spannung gehalten sind? Was wollen diese Körper? Die einen sind angeblich aus „Höflichkeit“ da und sehen. Und fliehen allein. Wohin ist unbekannt.

Die anderen haben noch nicht einmal die Wahl, ins Nirgendwo zu verschwinden. Und wieder andere wollen die absolute Maschine selbst verkörpern, eine Tod bringende Maschine. Alle Körper der Kafka`schen Welt sind perforierbar, sie sind oder sie werden durchstoßen – allein, der, der allein ist und bleibt und sein wird: der Forschungsreisende entzieht sich soweit er kann. Aber ist er deshalb widerständig? Wohl kaum. Vielleicht verschwindet er im Loch der Durchlöcherung selbst, wenn es ihn schon nicht durchstößt, durchstößt er es, sieht durch und wird durchgezogen. Für die Körper, ihren Eigensinn und ihr Eigenleben ist in dieser Kolonie kein Platz. Keine Welt ist bereitgestellt, keine Welt ist „aufgestellt“ – für die Körper.

Es ist nichts hergestellt. Dies ist keine Dichtung, keine Poesie der Körper. Könnte es sie geben? Oder dehne ich meine Reise in Richtung unerreichbarer Länder und unmöglicher Welten aus?

Wie könnte die Poesie der Körper sein – angesichts von Macht, die Körper macht? Ist das Gemacht-Werden der Körper ihre äußerste und einzige Weise von Verkörperung? Werden Körper einzig so gemacht? Oder stellen Körper ihrem Gemacht-Werden immer schon etwas entgegen, stellen damit immer schon Anderes mit her, sind schon poetisch?

Wenn Macht, die Körper macht, in sich ein Moment der Ohnmacht trägt, wo sie verwirft, dass sie selbst eine Gewordene ist – und eben nicht zu tief in die Erde eingebaut ist – können wir ihre Apparatur schon dort irritieren, wo diese sich selbst irritiert. Nicht mit einem vom Himmel oder aus dem Reich der unverwundbaren Ideen gegriffenen Satz („Sei gerecht“), nicht mit Worten, die letztlich nur eine Maschine zerstören aber eine Struktur erhalten.

Wenn die Macht als eine Gewordene gedacht werden muss, was ist dann Widerstand – Ist Widerstand nicht die Bewegung des Werdens selbst? Widerstand meldet sich am Nullpunkt der Macht, am blinden Fleck der Macht und benennt das Gewordene der Macht.

„Das Entgegen-Stehen berührt. Dieser Körper, dieser Zug, diese Zone dieses Körpers berührt mich (berührt >>meinen<< Körper).“ schreibt Nancy und: „..das treibt mich um oder nicht, das sticht mir ins Auge oder läßt mich gleichgültig, das erregt mich oder widert mich an. Doch Das wird immer von weiter her gekommen sein als alles andere des Anderen. Das wird im Kommen selbst des Anderen gekommen sein.“(10)

Der entgegenstehende und entgegenkommende Sinn wird immer auch der Sinn sein, der musische Momente schenkt: der die Berührung mit einem anderen Sinn stiftet. Unerwartet, eine uneingeladene Gästin: die Muse kommt immer überraschend. Sie ist überwältigend. Wie die Macht, kommt sie uns da zuvor, wo wir uns zuvorkommen. Sie sucht die ungewisse Stätte des Entstehens auf.  Das poetische Tun.

Derrida denkt das Ankommen des ganz Anderen als „Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen“: „Der absolute Ankömmling darf nicht als geladener Gast erscheinen, auf dessen Erscheinen ich mich vorbereitet habe und den zu empfangen ich in der Lage bin. Vielmehr ist es jemand, dessen unerwartetes und unvorhersehbares Eintreffen, dessen Heimsuchung – und ich stelle hier die Heimsuchung der Einladung gegenüber – einen derartigen Einbruch bedeutet, dass ich nicht darauf vorbereitet sein kann, ihn zu empfangen.“(11)

Eine Muse ist immer ganz anders als sie bisher gedacht werden konnte. Als sie erwartet werden konnte, als eine Erwartung mit ihr verbunden werden konnte. Wer immer sie sein wird und welches Werden das ihre sein wird, sie wird Subjekt eines Werdens gewesen sein. Die Muse berührt und schenkt im Äußersten der Berührung das Ereignis des Entgegenkommens von Sinn und Sinn. In diesem Sinn können Körper Musen sein. Und das Denken der Musenkörper auch ein politisches Denken, wie Körper Sinn herstellen: poetische Körper sind.

Körper sind im Werden die poetischen Stätten, Gaststätten für die Sinne. Seien es fünf, die Sinne, seien es neun, die Musen. Sie sind die, die immer dazwischen sind und Statt halten, Stätten halten für ein Ankommen und Bewegen – für ein Widerstehen.

Orte und Zeiten zu öffnen für eine Politik der poetischen Körper, bedeutet Muße und Musen ankommen zu lassen in Gesellschaften. Gesellschaften als „Kolonien von Musen“ zu denken. Sappho, die vielleicht zehnte Muse, schreibt in einem ihrer Fragmente: „Kinder, bin ohne Worte / doch spreche ich, sobald ihr mich fragt, / denn eine nimmermüde Stimme / will mir nicht aus dem Sinn:“ – Was sich da im Sinn, in ihrem Sinn, regt und reckt und sich zeigt und spricht, ist eine widerständige Ex peau sition des Werdens, die sich schreibt in einer wachen Schrift, die nimmermüde sein wird, anzukommen.


Fußnoten:

1 Sappho (2006):Untergegangen der Mond. Lieder und Strophen. Ausgewählt und aus dem Griechischen neu übertragen von Michael Schroeder, Düsseldorf (Artemis&Winkler Verlag), S. 67
2 Derrida, Jacques (2004): „Signatur, Ereignis, Kontext“ in derselbe: Die différance. Ausgewählte Texte. hrsg. von Peter Engelmann, Stuttgart (Reclam), S. 89
3 ebenda, S. 80
4 Nancy, Jean-Luc (2003): Corpus, Berlin (Diaphanes Verlag), S. 15<
5 Kindlers Neues Literaturlexikon (1996): Band 9 (hrsg. v. Walter Jens)
6 Kafka, Franz (1964): In der Strafkolonie, in: ders.: Das Urteil, Frankfurt am Main (Fischer Verlag), S. 108
7 Nancy, Jean-Luc (2003): Corpus, Berlin (Diaphanes Verlag), S. 15
8 Nancy, Jean-Luc (2003): Corpus, Berlin (Diaphanes Verlag),, S. 14
9 Nancy, Jean-Luc (2003): Corpus, Berlin (Diaphanes Verlag), S. 14/15
1 Nancy, Jean-Luc (2003): Corpus, Berlin (Diaphanes Verlag), S. 31
11 Derrida, Jacques (2003): Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin (Merve Verlag), S. 33

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For quotation purposes:
Elisabeth Schäfer: Politik der Poesie - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/6-9/6-9_schaefer.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-01-28