TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Mai 2010

Sektion 6.9. Touching Society
SektionsleiterInnen | Section Chairs:Arno Böhler und Katja Mayer (Universität Wien, Österreich)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Sektionsbericht 6.9.

Touching Society

Arno Böhler [BIO] und Katja Mayer [BIO] (Universität Wien, Österreich)

Email: arno.boehler@univie.ac.at und katja.mayer@univie.ac.at

 

Gesellschaften können sich verschließen, vom „Rest“ der Welt abschotten und hermetisch werden, indem sie sich isolieren und anderen Gesellschaften gegenüber unempfindlich – untouchable – werden. Wie ist dieser Prozess der affektiven Immunisierung von Gesellschaften - anderen Gesellschaften gegenüber - zu verstehen?

Die Sektion „Touching Society“ unternahm den Versuch, das Phänomen der hermetischen Ab- und Eingrenzung von Gesellschaften philosophisch lesbar zu machen, indem sie Strategien der Öffnung und des Verschlusses von Gesellschaften untersuchte. Die Atmosphäre der Sektionssitzungen war offen, die Diskussionen der Teilnehmer verliefen sehr lebhaft und konstruktiv, so dass die Sektion selbst zu einer Mikropolitik dessen wurde, worüber und wovon in ihr gehandelt wurde.

Arno Böhler (Wien) eröffnete die Konferenzsektion mit einem Vortrag über Die Verbannung des Sinns durch heilige Namen. Im Anschluss an Nietzsches Götzendämmerung insistierte er auf der Behauptung, dass es in der Welt mehr Götzen als Realitäten gebe. Daher sei die Philosophie gefordert, die Götzen ihrer Zeit, die sich hinter „heiligen Namen“ maskiere, als hohle Etiketten zu entlarven und in ihrer Substanzlosigkeit bloß zu stellen.

Schon Nietzsche habe richtig vermutet, dass es ein kardinaler Grundzug kommender Philosophien gewesen sein werde, dass sie die höchsten Werte und Sinnbestimmungen ihres Zeitalters einer kritischen Evaluation unterziehen würden. Eine Art und Weise, unzeitgemäß zu denken, so Böhler weiter, die nicht ungefährlich sei. Werde in einer solchen Dekonstruktion alteingefleischter Wertschätzungen doch die Legitimität unserer tiefsten, ältesten, geglaubtesten, etabliertesten Werte in Frage gestellt. – Die Heiligtümer ihrer Zeit aushorchend, würden sich die AutorInnen solcher Philosophien schließlich selbst in die Gefahr begeben, aus der Polis der herrschenden Mächte ausgeschlossen und in Exile des Sinns verbannt zu werden: in geschlossene Anstalten – Lager, Psychiatrien, Gefängnisse und andere Ghettos – in denen diese MigrantInnen des Sinns versammelt, dem öffentlichen Leben entrissen und von diesem para-sitär abgeschnitten würden, um in ihrer Unart unschädlich gemacht zu werden. Ein Ausschlussverfahren, das seinerseits wiederum nur durch die Anrufung „heiliger Namen“ öffentlich legitimiert werden könne. Krieg, deklariert im Namen von Religionen, im Namen von Demokratie und Menschenrechte. Wollen wir diesen Un-Sinn? “Hier einmal mit dem Hammer Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort jenen berühmten hohlen Ton hören, der von geblähten Eingeweiden redet – welches Entzücken für Einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat,… vor dem gerade Das, was still bleiben möchte, laut werden muss.” (Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung).

Sandra Manhartseder (Berlin) beschäftigte sich mit dem Verhältnis von Kunst und Philosophie am Beispiel Heideggers und Hölderlins. Martin Heidegger spricht in seiner Auseinandersetzung mit der Dichtung Friedrich Hölderlins von der wesentlich dichterischen Bestimmung des Daseins. Erst im Hören und Entsprechen des dichterischen Wortes erfährt das Dasein von seinem Aufenthalt, wohnt es dichterisch. Heideggers Betonung der Notwendigkeit eines Gesprächs zwischen Kunst und Philosophie, zwischen Dichten und Denken wird als Antwort auf Platons Ausschluss des Dichters gelesen, wie er in der „Politeia“ vorgeschlagen wird. Während Platon den Dichter enteignet, ist es Heidegger um die denkerische Aneignung des Dichtens zu tun. Im Anschluss an die Darstellung der Hölderlinschen Sonderstellung in und für Heideggers Denkweg wurde ausgehend von Paul de Mans und Avital Ronells Heidegger-Lektüren der Versuch unternommen, ein Gesprächsszenario zwischen Denken und Dichten zu entwerfen, in dem es weder zu einer Exklusion noch zu einer Inklusion des Künstlerischen durch die Philosophie kommt, sondern vielmehr die Frage der Distanz ihre wesentliche Darstellung erhält.

Bernd Bösel (Wien) wählte die paradoxe Form der Anrede in philosophischen Texten zum Thema: „An alle, die es betrifft“ – Aporien der philosophischen Anrede, so lautete der Titel seines Vortrages. Philosophische Texte erzeugen per se eine paradoxe Situation, die mit der Anrede ihrer Leserschaft zu tun hat. Konkret gesagt: die meisten philosophischen Texte sind selbst interessierten Nicht-Philosophen zu abstrakt und unverständlich, sodass sich deren Reichweite allzu oft auf den geschlossenen Regelkreis des akademischen Feldes beschränkt. Bösel nahm das „postalische“ Dreieck zwischen Anspruch, Reichweite und Empfänglichkeit anhand der affektiven Wirkung philosophischer Schrift in den Blick, zielen doch die einschlägigen Texte immer auch darauf, möglichst „alle zu betreffen“?

„’Dürfen’ Körper in Gesellschaften wirksam und wirklich, produktiv und poetisch werden, d.h. wuchern, sich ausdehnen etc.?“ Diese Fragen stellte Elisabeth Schäfer (Wien) im Zuge ihres Vortrages Politik der Poesie in den Raum. Die Kraft poetischen Wucherns wurde dabei in einem Derridaschen Sinne als Akt einer differentiellen Wiederholung gedacht.

Ausgehend von Nancys Konzept, nicht über den Körper zu schreiben, sondern die Körper selbst schreiben, entschreiben zu lassen, stellte Schäfer die Körper als produktive Stätte von Widerständigkeiten vor, die schöpferische Prozesse induzieren. Sie entwarf, anders als in Kafkas Strafkolonie, wo den Körpern das überschrittene Gebot eingeschrieben wird, eine „Kolonie der Musenkörper“, in der die Körper der einschreibenden Kraft des Gesetzes  nicht nur auf eine gewisse Art ent-kommen, sondern dieser Kraft auch etwas ent-gegen-setzen können. Durch ihre Affektivität und durch ihre Widerständigkeit  überschreiten Körper die Kraft des Gesetzes immer schon und kommen selbst ins Schreiben . Schäfers Plädoyer: Orte und Zeiten zu öffnen für eine Politik der poetischen, also widerständigenKörper, bedeutet Muße und Musen ankommen zu lassen in Gesellschaften.

In seinem Vortrag Pimp my wisdom stellte Peter Kaiser (Wien) die Frage nach der Vermittlung von Philosophie an Jugendliche. Von welchen Fragen lassen sich Jugendliche affizieren, welche Fragen berühren sie existenziell? Wenn „Wählen ab 16“ eine berechtigte gesellschaftspolitische Forderung ist, dann sicherlich auch das „Philosophieren unter 16“. Wäre dies nicht eine Umsetzung von Forderungen einer „Politik der Muße und Musen“? Kaiser griff verschiedene Aspekte auf, die beim Philosophieren mit Jugendlichen eine wichtige Rolle gespielt haben, und exemplifizierte anhand der Schlagwörter „Hedonismus“, „Religionskritik“ und „platonische Liebe“, wie sich philosophische Fragestellungen aus der Lebenswelt der Jugendlichen heraus ergeben können. Dabei wurden Aspekte thematisiert, die auch zu Überlegungen führen, die Philosophie als Advokatin einer „Politik der Muße“ zu bedenken.

Katja Mayer (Wien) lenkte in ihrem Vortrag das Augenmerk auf die Berührung (in) der wissenschaftlichen Praxis. Der erkenntnistheoretisch umstrittene Status von wissenschaftlichen Bildern bot ihr hierfür die nötige Schnittstelle. Sie beschrieb die Produktion von und den Umgang mit Diagrammen als „epistemische Dinge“ und erweiterte den wissenschaftlichen Blick um viele andere Sinne, denn im wissenschaftlichen Vollzug wird zeigend argumentiert, spurensuchend getastet und metaphorisch besprochen. Begriffe verkörpern sich in Diagrammen und umgekehrt. Katja Mayer plädierte für die Auffassung von Körperlichkeit sowohl als Medium, als auch als Maßstab einer wissenschaftlichen Überzeugungskraft. Sie soll als Automatismus gerade nicht ausgeblendet werden, wenn Wissen zur Vermittlung kommt.

Die Politik der Gebärde stand im Zentrum des Vortrages von Patrick Baur (Freiburg). Der Vortrag untersuchte den Zusammenhang von Politik und Gebärde im Blick auf die traditionellen Rhetorisierungsprozesse, die seit der griechischen Antike immer in die Gebärdenkulturen des Westens eingreifen. Im Zentrum stand dabei die Figur des Demosthenes: Der wirkmächtige Rhetor soll seine Gesten vor dem Spiegel eingeübt haben. Baur las das als Urszene einer Rhetorik, die ein Spiegelverhältnis zur politischen Gebärde einnimmt, und interpretierte diese ‚katoptrische Tendenz' in der Politik der Gebärden im Rückgriff auf Lacans Begriff des Spiegelstadiums. Betont wurde dabei vor allem das Moment der Bildlichkeit und der Berührung: Denn ein politischer Gebrauch von Gebärden muss sich fragen lassen, in welchem Maß er nur auf die Erzeugung symbolkräftiger Bildgesten abzielt – und inwiefern auf eine tatsächliche Berührung der Körper, die sich in bildloser Weise als tastender Kontakt zwischen Menschen selbst abspielt.

Markus Mittmansgruber (Wien) befragte die ereignishaften Figuren des „Gastes“ (Hans-Dieter Bahr) und des „Gespensts“ (Derrida): Liegt in ihrer unvorhersehbaren Ankunft, in ihrer kommenden, unmöglich zu anti­zipierenden Berührung und vor allem in ihrem Charakter des potentiellen Wiederkommens und des plötzlichen Wieder-Erscheinens nicht ständig die Chance und die Forderung, unsere etablierten Gesetze der Gastfreundschaft (Derrida) und damit die Poren, Kanäle und Kontaktpunkte unserer Körper (Gast-stätten, Stätten des Grußes und des Abschieds) zu überdenken und zu überarbeiten? Sind sie in ihrem zufälligen Auftreten nicht unerlässlich, um einen immunisierten, hermetisch-monadischen Körper-Organismus – einen Staat, eine Gesellschaft, eine Bevölkerungs­schicht, eine religiöse Gemeinschaft, etc. – vor einer Implosion, vor seinem Kannibalismus zu bewahren?

Denn gerade die fernen Kräfte, welche aus der Fremde vom un-heimlichen Anderen herkommen, lassen die trennenden Grenzen und metaphysischen Dualismen durchlässig werden, allen voran jene, die das Innen dem Außen der Körper und ihre Präsenz der Absenz entgegensetzen. „Man weiß nicht, was der Körper alles vermag...“, hat Spinoza geschrieben. Es wird zu fragen sein, inwieweit jeder Körper, jeder Diskurs und jeder Diskurs vom Körper lernen muss, sein gastliches Potential im Sinne eines radikalen „Mit-ein-ander-seins“ (Nancy) zu entfalten, um zukünftig mit Besuchern jeder Art (auch und speziell mit den Unheimlichen, den Gespenstern) umgehen zu können.

Ferdinand Auhser (Wien) ging von der Frage nach der Möglichkeit verschlossener Gesellschaften oder hermetischer Gesellschaftsformen aus und zeichnete damit die Konturen eines Problems aus, das seit Platon den metaphysischen Diskurs bestimmt und den Begriff der Form an sich umkreist.  Die Vorstellung selbstgenügsamer Abgeschlossenheit tritt erstmals in der Ideenlehre ins Zentrum der geisteswissenschaftlichen Diskussion: als der Anspruch einer vorverfügten Regulation aller Kontakte und Bewegungen, als ursprüngliche Bedingung der Möglichkeit individueller Existenzen und gegenseitiger Bezüge, wodurch jeder Prozess einer Transformation notwendig in die Geschlossenheit der transzendenten Voraussetzungen eingeschrieben bleibt.

Ziel war es, anhand einer Interpretation der aristotelischen Lehre über das Wesen des eídos und der sich daraus entwickelnden Dualität von dynamis und enérgeia – gegen die platonisch-kantische Dogmatik – einen Formbegriff zu generieren, der sich wesentlich als Information, als permanent in Formation begriffene Erscheinung bestimmt, die nicht in Abhängigkeit von einer transzendenten Realität, sondern in einem dynamischen Bezugsfeld existiert und agiert, interpretiert und interpretiert wird, wirkt und damit Wirklichkeit als die Sphäre eines pluralistischen Interpretationskontextes charakterisiert. Für Aristoteles ist die erscheinende Form ousia – erste Substanz als das Wesentliche des Geschehens – und als Form immer in den Prozess von dynamis und enérgeia eingeschrieben, in eine Relation, in der immer Kräfte auf Kräfte wirken, einander deuten und bewegen, und jede Form, ob biologisch, chemisch oder sozial, kann nur als diese ständige Bewegung, als Information und Transformation, existieren. Auf diesem Weg wurde im Anschluss an Aristoteles und die Diskussion des Formgedankens der Bezug zu Nietzsches Kräftetheorie und dem darin weiterentwickelten ästhetischen Gedanken, der Nietzsches Werk durchgängig bestimmt, hergestellt, um die Notwendigkeit des permanenten Aufbruchs, der permanenten Transformation organischer Strukturen aus anderer Perspektive erneut aufzuzeigen und zu bekräftigen.

Resümee: Dass dieser Modus eines gastfreundlichen Mit-ein-ander-seins statthaben, eine reale Stätte finden kann und nicht nur leere, bedeutungslose, unwirksame Allegorie bleibt, hat sich in der Sektion Touching Society auf der INST-Konferenz herausgestellt. So unterschiedlich, speziell und singulär die einzelnen Vorträge in ihrem Stil, in ihren Begrifflichkeiten und Referenzen auch waren – sie bildeten mobile Schichten, flechtenhafte Teppiche, mit-ein-ander verwobene Kraftfelder, die sich wechselseitig – im Sinne des Sektionsnamens – berührten und auf denen fruchtbare, kritische Diskussionen geführt werden konnten.

Siehe FWF Projekt: Materialität und Zeitlichkeit performativer Sprechakte: http://www.univie.ac.at/performanz


6.9. Touching Society

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS
 Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Arno Böhler und Katja Mayer: Sektionsbericht 6.9.Touching Society - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/6-9/6-9_sektionsbericht17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-05-27