Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Februar 2010 |
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Sektion 7.1. | Kreativität und Gedächtniskulturen Sektionsleiter | Section Chair: Isozaki, Kotaro (Meiji Gakuin University/Japan) |
Ein Vergleich des Historikerstreits in den Nachkriegsgesellschaften
Japans und Deutschlands ‐
Fischer-Kontroverse und die Kontroverse um das Buch »Showashi«
Hatsuki Yanagihara (Konan University, Japan) [BIO]
Email: hyana@center.konan-u.ac.jp
I.
Das Thema unserer Sektion lautet „Kreativität und Gedächtniskulturen“. Unser Sektionsleiter schlägt den SektionsteilnehmerInnen folgendes vor:
Verschiedene Gegenstände – inklusive literarischer Werke –, die als Träger kulturellen Gedächtnisses von Interesse sind, sollen in dieser Sektion zur Kontroverse gestellt werden. In der Thematik der Fiktivität bzw. Kreativität des Gedächtnisses hoffen wir auf Ihre Beiträge, sowohl in Form von theoretischen als auch in Form von praktischen Beispielen aus verschiedenen Kulturen.(1)
Auf diesen Vorschlag hin möchte ich mich im folgenden mit einigen Kontroversen über Historiographie, bzw. die Aufgabe der Geschichtswissenschaften in den Nachkriegsgesellschaften Japans und der Bundesrepublik befassen, um den Beitrag aufzuzeigen, den die Historiographie durch diese Kontroversen für die Gedächtniskulturen in beiden Ländern geleistet hat. Dabei handelt es sich hauptsächlich um die Stellungnahme des erkennenden Subjekts (=Historiker, bzw. Schriftstellers und Intellektuellen) sowohl zur Vergangenheit und zur Gegenwart, als auch zur Zukunft. In den Kontroversen, auf die ich im folgenden eingehen will, wurde heftig über die Kontinuität und den Bruch der traditionellen kulturellen Gesamtheit, die Überbleibsel des Bannes des Historismus aus dem 19. Jahrhundert sowie marxistische Geschichtsschreibung gestritten. Die Frage nach der Vergangenheit bezog sich notwendiger- und konsequenterweise auf die Identitätsbildung in der Gegenwart sowie auf Zukunftsmodelle der Gesellschaft. Diese Kontroverse führte allerdings auch zum Paradigmenwechsel der historischen Zunft in Bezug auf die Auswahl der Gegenstände, der Methodologie und nicht zuletzt auch auf die Aufgabe der Geschichtswissenschaften in der Nachkriegszeit selbst und sie hinterließ gleichzeitig eine Problematik der Historiographie, die noch nicht behoben zu sein scheint.
Was die Kontinuität und den Bruch der traditionellen kulturellen Gesamtheit sowie die Überbleibsel des Bannes des Historismus betrifft, würde der folgende Satz von Friedrich Meinecke seine Überzeugung von der Möglichkeit zur Erneuerung des kulturellen Lebens seines Landes durch Anschluss an seine klassische Tradition zeigen. Das war in Japan nicht der Fall und wäre auch unvorstellbar gewesen.
Das Universalste und das Individuellste vermögen sich hier einander zu begatten. Ist das nicht ein hoher Trost für uns in unserer jetzigen tragischen Situation? Wir bedürfen keiner radikalen Umschulung, um wieder als Glied der abendländischen Kulturgemeinschaft wirksam zu werden. Radikal verschwinden muß nur der nazistische Größenwahn mit seiner Un-und Afterkultur. [...]. Der deutsche Geist, so dürfen wir hoffen und glauben, hat noch, nachdem er zu sich selbst zurückgefunden hat, seine besondere und unersetzliche Mission innerhalb der abendländischen Gemeinschaft zu erfüllen. (2)
Meinecke betrachtet den Nationalsozialismus zweifelsohne als Zufall in der deutschen Geschichte. Er lehnt es ab, den Nationalsozialismus Hitlers bloß als eine „aus deutschen Entwicklungskräften abzuleitende Erscheinung“ zu verstehen. Sogar sah er „bestimmte Analogien und Vorstufen (des NS) in den autoritären Systemen der Nachbarländer.“ (3) In Anlehnung an Jakob Burckhard sucht er dann „in den optimistischen Illusionen der Aufklärungszeit und der französischen Revolution den Keim des großen Unheils, des falschen Strebens nach unerreichbarem Menschenglück der Massen, was sich dann in Erwerbssinn, Machtsinn und allgemeines Streben nach Wohlleben umsetzte.“ (4)
Diese Stellungnahme Meineckes zur Hitlerzeit fasst der amerikanische Historiker Georg Iggers, der 1938 in USA emigrierte, wie folgt zusammen:
Die Hitlerzeit wurde politisch ermöglicht durch den allmählichen Verfall der Synthese von Geist und Macht, von Kultur und Staat, von Weltbürgertum und Nationalstaat im 19. Jahrhundert. (5)
Meinecke erwähnt „das heilige Erbe der Goethezeit, das dem deutschen Volk schier wie ein Wunder zugefallen war“und sieht das Hochziel deutscher Kultur
in der Synthese von Geist und Macht, von staatsbildenden und geistbildenden Kräften und damit zugleich von Kultur, Staat und Nation, von Weltbürgertum und Nationalstaat.“(6) Er sucht deshalb bedenkenlos die Möglichkeit zur Erneuerung im Kulturgut vor dem Krieg, vor allem in der Weimarer Klassik.
Lyrik von jener wunderbaren Art, wie sie in Goethe und Mörike gipfelt, wo Seele zu Natur und Natur zur Seele wird, und tiefsinnige Gedankendichtung von der Art der Goetheschen und Schillerschen sind vielleicht das Deutscheste vom Deutschen in unserem gesamten Schrifttum. Wer sich ganz in sie versenkt, wird in allem Unglück unseres Vaterlandes und inmitten der Zerstörung etwas Unzerstörbares, einen deutschen character indelebilis spüren. (7)
Der deutsche Staat ist uns zerschlagen weites deutsches Land geht uns verloren. Fremdherrschafte ist uns für lange Zeit zum Schicksal geworden. [...]. Die Aufgabe ist jedesmal doch wieder neu und individuell. Tiefe Gläubigkeit und bange Sorge zugleich müssen uns bei dem Versuche, sie zu lösen, erfüllen. Blicken wir dann aber auf zu den höchsten Spähren des Ewigen und Göttlichen, so tönt es uns aus ihnen entgegen: „Wir heißen Euch hoffen“. (8)
Meineckes unkritischer Umgang mit der geistigen Tradition seines eigenen Landes wird aber im Vergleich mit Thomas Mann ganz deutlich, der in seinem Vortrag über „Deutschland und die Deutschen“ eine geistesgeschichtliche Untersuchung des deutschen Sonderwegs nach seinem eigenen Anliegen, d.h. aus überwiegend schriftstellerischen Perspektiven gegeben hat. Mann hielt dort neben „Innerlichkeit“ auch „den Hang zur Selbstkritik, der oft bis zum Selbstekel, zur Selbstverfluchung ging“, für „kerndeutsch“. Im Gegensatz zu Meinecke hat sich Mann jedoch zur schicksalshaften Verflechtung des guten und bösen Deutschlands bekannt:
Eines mag diese Geschichte uns zu Gemüte führen:daß es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse, schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung. (9)
In seinem Plädoyer der Nürnberger Prozesse hat Sir Hartley Shaw, der britische Hauptankläger zuerst aus dem Roman „Lotte in Weimar“ zitiert und dann folgende Worte hinterlassen.
Dieser Prozeß muß zu einem Markstein in der Geschichte der Zivilisation werden, indem er nicht nur für diese schuldigen Menschen die Vergeltung bringt, und nicht nur betont, daß Recht schließlich über das Böse triumphiert, sondern auch, daß der einfache Mann auf dieser Welt-ich mache hier keinen Unterschied zwischen Freund und Feind-nunmehr fest entschlossen ist, das Individuum höher zu stellen als den Staat. Dann sollen jene andere Worte von Goethe zur Tat werden, nicht allein, wie wir hoffen, für das deutsche Volk, sondern für die gesamte Menschheit:„So sollten es die Deutschen halten weltempfangend und weltbeschenkend, die Herzen offen jeder fruchtbaren Bewunderung, groß durch Verstand und Liebe, durch Mittlertum und Geist-so sollten sie sein, das ist ihre Bestimmung.“ (10)
Die bittere Tatsache, dass Goethes Worte , die Thomas Mann in seinem Roman zum Ausdruck brachte, von einem britischen Hauptankläger als eine Mahnung an die Deutschen gerichtet wurde, weist einerseits auf den Zivilisationsbruch in der deutschen Geschichte hin, aber auch auf die Möglichkeit der deutschen Kulturgüter, deren weltweit anzuerkennende Allgemeingültigkeit erneut akzeptiert werden könnte. Gleichzeitig bildete allerdings der Stolz auf diese Allgemeingültigkeit des deutschen humanistischen Kulturerbes die Überbleibsel des bei Meinecke anzufindenden Historismus in der historischen Zunft in der direkten Nachkriegszeit, mit der sich Fritz Fischer heftig auseinander setzen sollte.
II.
Fritz Fischer, Fischers Motivation, Grundriss der Fischer-Kontroverse
Fritz Fischer wurde 1908 geboren. Nach dem Studium vor allem der Theologie und der Geschichtswissenschaften wurde er an der Berliner Theologischen Fakultät zum Privatdozent ernannt. Zwei Jahre später promovierte er dann in den Geschichtswissenschafen mit einer Arbeit über den „älteren Bethmann Hollweg und deutschen Protestantismus“. Noch vor dem Kriegsausbruch wurde er dann in die Philosophische Fakultät umhabilitiert. Darauf folgten sieben Jahre Militärdienst und Kriegsgefangenschaft. Über seine Karierre berichtet Konrad H. Jarausch, Professor für European Civilization der University of North Carolina wie folgt: .
Als Assistent von Erich Seeberg war er «zeitweilig ein überzeugter Nationalsozialist»sowie Stipendiat des «Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands», auch seine Frau stand dem Dritten Reich unkritisch gegenüber. Nach Entlassung aus der Gefangenschaft trat er seine schon 1942 bewilligte Stelle als Extraordinarius in Hamburg an und wurde 1948 dort zum Ordinarius ernannt. Nichts deutete in dieser Erfolgskarriere auf eine Infragestellung deutscher Tradiotion hin. Die Ursachen für den Bruch mit den Usancen der Zunft müssen daher mehr im persönlichen Bereich gelegen haben. Die Herausgeber seiner ersten Festschrift machen «das Erlebnis der Katastrophe» des Zweiten Weltkriegs für seine «entschiedene Distanz zum Überkommenen» wie der «preußisch deutschen Staatsidee» verantwortlich. Fischer selbst bot in einem Gespräch mit mir Ende der achtziger Jahre eine präzisere Erklärung an: Er sei während seiner Gefangenschaft mit Hunderten von SS-Leuten zusammengewesen, die sich mit ihren Verbrechen gebrüstet und nur bedauert hätten, nicht noch mehr «Minderwetige» vernichtet zu haben. Aufgrund diese Fehlens von jeglichem Schuldgefühl sei es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen, und seine Zweifel am Sinn des Krieges hätten sich dadurch zur Überzeugung verdichtet, in seinem wissenschaftlichen Wirken alles tun zu müssen, um eine Wiederholung solcher Untaten zu verhindern. Bestärkt durch Gastaufenthalte in den USA und England, fing er danach an, sich zunächst kritisch mit der politischen Rolle des Protestantismus und dann aber auch mit dem Ersten Weltkrieg zu beschäftigen. Die oft als «gesinnungsethisch» bezeichnete Konsequenz, mit der er seine Thesen verfochten hat, könnte in einem solchen «Saulus-Paulus»-Erlebnis ihren Ursprung gehabt haben, weshalb ihn Ritter in Privatbriefen auch als «Konvertiten» abqualifizierte. (11) (Hervorheben v.Verfasser )
Jarausch, der als Student Fischers Vortrag über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges an der Staatsuniversität von Wisconsin in Madison 1964 hörte, versuchte 40 Jahre danach, Fischers biographischen Wandel „in den sich anbahnenden intellektuellen Klimawechsel in der Bundesrepublik nach 1960“ einzubetten.
Zwar stand Adenauer auf dem Zenit seiner Macht, so daß die „Kanzlerdemokratie“ geradezu sprichwörtlich wurde, und auch die SPD, die noch vehement gegen die Wiederbewaffnung gekämpft hatte, machte mit dem Godesberger Programm ihren Frieden mit der Westorientierung der Bundesrepublik. Aber die Vergangenheitspolitik der Verdrängung wurde durch die wiedereinsetzenden NS-Prozesse brüchig, literalische Auseinandersetzungen mit dem Dritten Reich von Autoren wie Böll, Grass, Weiss oder Hochmuth hielten das Thema am Leben, und die Medien skandalisierten das Weiterwirken belasteter Personen wie des Kommentators der Nürnberger Gesetze Hans Globke. [...] Obwohl konservative Autoritäten noch die Macht hatten, kündigte sich Anfang der sechziger Jahre eine Erosion des restaurativen Konsenses an, die die positive Rezeption der kritischen Thesen Fischers begünstigen sollte. (12)
Obschon er in seinem Aufsatz „Deutsche Kriegsziele. Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1914 bis 1918 “(1959) sowie dem Buch „Griff nach der Weltmacht“(1961) den Ersten Weltkrieg behandelte, „bahnte sich eine tiefgreifende Änderung innerhalb der deutschen Historiographie an, die weit über den engeren Gegenstandsbereich hinaus ganz neue Entwicklungen auslösen sollte.“(13) Worin liegt der Grund dafür?
In seinem 1959 erschienenen Aufsatz stellt Fischer eine grundlegende Frage nach der Historiographie damals.
Eine der jüngsten Darstellungen des Ersten Weltkrieges in einem Handbuch wird durch die These eingeleitet: »Die Geschichte der Jahre 1914 bis 1918 ist so gut durchforscht wie kaum eine andere Epoche. Der Historiker bewegt sich überall auf sicherem Boden.« Eine solche Behauptung ist um so überraschender, als die Archive der Ententenmächte für diese Periode noch nicht geöffnet sind und die deutschen Zentralakten erst seit wenigen Jahren zugänglich und noch keineswegs voll ausgeschöpft sind. Alles, was bisher an Akten veröffentlicht worden ist, gibt nur Ausschnitte und ist von vielen Rücksichten bestimmt gewesen, in Deutschland insbesondere von dem Aspekt der Kriegsschuldfrage und der Lage Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg. (14)
Eine umfassende Darstellung der deutschen Kriegsziele im ersten Weltkrieg aufgrund des gesamten deutschen primären Quellenmaterials fehlt noch. (15)
Gegen den damals verbreiteten Konsens, den Ersten Weltkrieg als Präventivkrieg auszulegen, bezog Fischer auf provokatorische Weise Stellung:
Die damit in erster Linie gemeinten kontinentalen Kriegsziele als Basis der angestrebten Weltmachtstellung bestanden aus dem Aufbau erweiterter direkter und indirekter Einflußmöglichkeiten Deutschlands:von begrenzten unmittelbaren Annexionen(z.B. Lüttich, Longwy-Briey, Luxemburg bzw. Polnischer Grenzstreifen und Kurland, Litauen) reichten sie über »Mitteleuropa«, als zumindest wirtschaftlicher Einheit, und eine Kette von vorgelagerten mehr oder minder von Deutschland abhängigen neu zu schaffenden Pufferstaaten( z.B.Belgien, Polen, Ukraine) bis zur Absteckung wirtschaftspolitischer Einflußspähren(z.B.Rumänien, Türkei, Georgien). (16)
Darüber hinaus versucht Fischer, zu zeigen:„Die deutsche Kriegsziele wurde bis 1917 [...] nicht nur von den Gruppen der Alldeutschen und der dritten OHL unter Ludendorf propagiert, sondern von einer breiten Front vertreten, die von dem alldeutschen Flügel der Konservativen über National-Liberale, Zentrum und Freisinn bis zu dem rechten Flügel der SPD reichte.“ (17)
Die „reale Kontinuität des Irrtums“ (Herzfeld) findet Fischer „gerade in der ständigen Überschätzung der eigenen Kräfte und der Unterschätzung der Kräfte der übrigen Welt durch die meisten Deutschen.“ Die Verkennung der Realitäten reicht tief zurück in die Wilhelminische „Weltpolitik“ „Der eindrucksvollste Zeuge hierfür ist Berthmann Hollweg selbst“, so Fischer, „wenn er Anfang Oktober 1916 vor dem Hauptausschuss des Deutschen Reichstags diese Fehleinschätzung der übrigen Welt als festen Bestandteil der deutschen Politik vor und im Krieg kritisierte“:
Seit Anfang des Krieges sind wir dem Fehler nicht entgangen, die Kraft unserer Feinde zu unterschätzen. Wir haben diesen Fehler aus der Friedenszeit übernommen. Bei der staunenswerten Entwicklung unseres Volkes in den letzten 20 Jahren erlagen weite Schichten der Versuchung, unsere gewiß gewaltigen Kräfte im Verhältnis zu den Kräften der übrigen Welt zu überschätzen. (18)
Mit seinen Thesen traf Fischer „einen sensitiven Punkt des deutschen historischen Bewußtseins, nämlich die Kriegsschuldfrage 1914.“ (19) (Hervorheben v. Verfasser) Wolfgang Mommsen meint, in seinem Aufsatz über „Gegenwärtige Tendenzen in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik“ den entscheidenden Grund dafür in der Verletzung einer „Reihe von Tabus, die die westdeutsche Historikerschaft bislang stillschweigend bestehen, gelassen hatte“, ausfindig gemacht zu haben: (20)
Nicht allein schienen die älteren Bemühungen um eine wissenschaftliche Klärung der sog. „Kriegsschuldfrage“, die innenpolitisch so katastrophale Folgen gehabt hatte, in Scherben zu liegen;mehr noch, die deutsche Politik zumindest seit Bismarck erschien nun vollends als eine Mixtur von Nationalismus, Militarismus und aggresiver äußerer Politik, darüber hinaus aber als direkte Vorgeschichte des Nationalsozialismus. (21) (Hervorheben v. Verf.)
Fischers Kontrahent, Gerhard Ritter, der Doyen der historischen Zunft damals, wollte zeigen, „daß von der Militärpolitik eines Friedrich II. und eines Bismarck keineswegs ein gerader Weg zu Hitler führe.“(Hervorheben v. Verf.). Für Ritter war das Hitlertum in der Geschichte Deutschlands „etwas grundsätzlich Neues“. Mommsen fasste die Grundposition Ritters wie folgt zusammen:
Dort wird der Aufstieg des Nationalsozialismus als eines Sonderfalls eines radikalen Umschlags von demokratischer zu autoritärer Staatsverfassung als Folge des Versuchs gedeutet, „nach Zerbrechen alter historischer Autoritäten die unmittelbare Volksherrschaft vom ‘Aufstand der Massen’her“ zu etablieren, „ohne Aufgliederung dieser Massen durch föderative und korporative Organe oder durch die Tradition alter politischen Eliteschichten.“ (22)
III.
Bevor ich auf die Einzelheiten der Kontroverse eingehe, sollte an dieser Stelle noch kurz an den im KZ Buchenwald ermordeten französischen Soziologe Maurice Halbwachs erinnert werden, der schon vor 80 Jahren auf die Interferenz zwischen dem erinnernden Subjekt und dem umgebenden Gesellschaftsrahmen aufmerksam gemacht hat. Eben diese Interferenz bleibt nämlich nach wie vor der Ursprung eben der Kontroversen in beiden Ländern.
Man muss also die Vorstellung aufgeben, die Vergangenheit erhielte sich als solche in den individuellen Gedächtnissen, als ob es davon ebenso viele verschiedene Abzüge gäbe, wie es Individuen gibt. Die gesellschaftlich lebenden Menschen gebrauchen Wörter, deren Bedeutung sie verstehen: das ist die Bedingung des kollektiven Denkens. Jedes (verstandene) Wort wird aber von Erinnerungen begleitet. Und es gibt keine Erinnerungen, denen wir nicht Worte entsprechen lassen könnten. Wir kleiden unsere Erinnerungen in Worte, bevor wir sie beschwören;es ist die Sprache und das ganze System der damit verbundenen gesellschaftlichen Konventionen, die uns jederzeit die Rekonstruktion unserer Vergangenheit gestattet. (23)
Halwachs’s These kann man wie folgt zusammenfassen:Das gesellschaftliche Denken ist im wesentlichen ein Gedächtnis, dessen gesamter Inhalt nur aus kollektiven Erinnerungen besteht. Jedoch bleiben nur diejenigen Erinnerungen bzw. bleibt nur das an ihnen erhalten, was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihrem gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann.
Nach Halbwachs also ist die Vergangenheit von Natur aus nicht notwendigerweise eine kulturelle Schöpfung, vielmehr ist sie eine soziale Konstruktion, deren Beschaffenheit sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwarten ergibt. So jedenfalls formuliert auch Jan Assmann die sozial-konstruktivistische Konzeption der Vergangenheit von Halbwachs. (24)
Während der kulturwissenschaftliche Ansatz den Akt des Erinnerns als Wieder-vergegenwärtigung, Re-präsentation oder Re-konstruktion der Vergangenheit betont, möchte ich aber zuerst aus einem anderem Blickwinkel danach fragen, was die Gesellschaft aus ihrem kollektiven Gedächtnis streichen und verdrängen wollte und dazu hinterfragen, was für ein Sinnbedürfnis der jeweiligen Gegenwart dies ermöglichte. Noch dazu interessiert mich das »warum« und vor allem das »wie«?
Überblick über die wichtigen Kontroverse in der Nachkriegszeit Deutschlands und deren Stellenwert in der gegenwärtigen Erinnerungskultur
Die immer in zeitlichen Abständen auftauchende Problematik der „Vergangenheit, die nicht vergeht“ liegt eben in dem Spannungsfeld dieser Interferenz. Der in der gegenwärtigen breiten Gesellschaft der Bundesrepublik anerkannten Konsens, der auf dem Bekenntnis zur Kriegsschuld basiert, ist nicht auf einmal entstanden. Die heftige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit innerhalb der historischen Zunft am Ende der 50er Jahren, wie z.B. die Fischer-Kontroverse sowie die in Japan nur wenige Jahre früher geführte Kontroverse über die in dem Buch „Showa-Ära“ angewandte historisch–materialistische Geschichtsschreibung und deren Geschichtsauffassung wären gute Beispiele dafür, wie man anhand konkreter
Beispielen nachvollziehen kann, was Interferenz zwischen den erkennenden und den erinnernden Subjekten bedeutet. Nicht zu vergessen ist, dass es sich in vielen Nachkriegskontroversen der beiden Länder bemerkenswerterweise oft auch um die Bestimmung der Nation handelte und damit auch um ein politisches Selbstverständnis.
In ihrem Kern [---] war die Fischer-Kontroverse gleichzeitig ein politischer Konflikt um die Stellung der Intellektuellen zur Nation. Dabei ging es nicht nur um den Kampf gegen die sogenannte Kriegsschuldlüge, sondern zugleich auch um die Liberalisierung des geistigen Klimas der bundessrepublikanischen Gegenwart. (25)
So analysiert Konrad H. Jarausch den Stellenwert der Fischer-Kontroverse für die Gegenwart. In seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“ wies Fischer keineswegs dem Deutschen Reich „die Alleinschuld“ zu. Aber die Kontroverse erzeugte politischen Druck auf Fischer selbst. Um die geplante Vortragsreise Fischers im Sommer 1964 zu unterbinden wirkte auch das Auswärtige Amt mit. Dieser Versuch wiederum mündete in einem Skandal wegen des Verstoßes gegen die Meinungsfreiheit. Im Sommer 1964 widersprach Bundeskanzler Ludwig Erhard im Deutschlandsfunk der Fischerschen Kriegsschuldthese, und im Herbst warnte der Bundestagspräsident Eugen Gersenmaier vor dem Verlust des Nationalbewußtseins durch Selbstbezichtigung. (26)
Die Fischer-Kontroverse zeigte somit deutlich die widersprüchliche Interferenz der andersartig erkennenden Subjekte. Das eine Subjekt will die jüngste Vergangenheit als „Betriebsunfall“ aus der nationalen Geschichte verdrängen und vergessen. Das andere, in diesem Fall Fischer, will nicht„in dem reinen Denken und Forschen, sondern in der Katastrophe den entscheidenden Anstoß für eine Revision des Geschichtsbildes in Deutschland, denn die Diktatur und das Verbrechen im Innern, die Gewalt und Maßlosigkeit nach außen warfen die unausweichliche Frage auf, welchen Anteil an dieser Entwicklung das deutsche historische Denken hatte, das allzu sehr geneigt war, dem geschichtlichen Prozess und den führenden Persönlichkeiten verstehend und damit oft verzeihend gegenüberzutreten (Hervorheben v.Verf.), das heißt sich an seinen Gegenstand zu verlieren, statt ihn an einer sittlichen, im Naturrecht( oder im Christentum) begründeten, in gewisser Hinsicht unhistorischen oder überhistorischen Norm zu messen.“ (27)
Bemerkenswerterweise haben Theodor Adorno und das Ehepaar Mitscherlich als Zeitgenossen in ihrer Gesellschafts-und Kulturkritik stets versucht., die Deutschen vor dem Vergessen der Vergangenheit zu warnen und sowohl die Erinnerung wach zu halten als auch die totale Identitätsgleichschaltung zu vermeiden. 1959 hat Adorno in »Was bedeutet:Aufarbeitung der Vergangenheit? «die Zeittendenz scharf kritisiert:
Die Frage »Was bedeutet:Aufarbeitung der Vergangenheit?« muß erläutert werden. Sie geht von einer Formulierung aus, die sich während der letzten Jahre als Schlagwort höchst verdächtig gemacht hat. Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen. ((28)
In diesem Aufsatz betrachtet Adorno die Aufarbeitung der Vergangenheit in erster Linie im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Inneren, des Bewußtseins, d.h. des Subjekts des einzelnen Deutschen, und analysiert dann »die Notwendigkeit der Anpassung« von »autoritätsgebundenen Charakteren« zur »Identifikation mit Bestehendem, Gegebenem, mit Macht als solcher, die das totalitäre Potential schafft. «
Parallel zur Adornos Diagnose der Deutschen von damals kritisiert Fischer traditionelle »nationale Meistererzählung«. Gerhard Ritter, der Antagonist Fischers, richtete aber folgendes Gegenargument an Fischer:
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in diesem Werk sich zum erstenmal die ebenso glänzende wie gefährliche (weil zuletzt doch nur halbwahre) These Ludwig Dehios von dem „Hegemonialkampf“ als Wesen beider Weltkriege in einer großen, aus den Quellen schöpfenden Darstellung ausgewirkt hat. Zugleich wird in ihm ein erster Gipfel erreicht in der politisch-historischen Modeströmung unserer Tage: in der Selbstvedunkelung deutschen Geschichtsbewußtseins, das seit der Katastrophe von 1945 die frühere Selbstvergötterung verdrängt hat und nun immer einseitiger sich durchzusetzen scheint. Nach meiner Überzeugung wird sich das nicht weniger verhängnisvoll auswirken als der Überpatriotismus von ehedem. So vermag ich das Buch nicht ohne tiefe Traurigkeit aus der Hand zu legen: Traurigkeit und Sorge im Blick auf die kommende Generation. (29) (Hervorheben v.Verf)
Im folgenden möchte ich an Beispielen der o.g. Kontroverse sowie der zeitlich darauf folgenden Diskussionen aufklären, warum es in der direkten Nachkriegszeit in Deutschland so schwierig war, die Historiographie von den nationalen Sinnbedürfnissen zu befreien, warum die marxistisch orientierte Historiographie fast um dieselbe Zeit in Japan die Initiative ergreifen konnte und was an ihr kritisiert wurde. Fragenkomlexe, wie »Kontinuität und Bruch der Tradition« und Anspruch auf die »Identitätstiftende Geschichstschreibung« werden anschließend daran erörtert. Auch auf die wesentlichen Unterschiede der »literarisch-narrativen« »Meistererzählungen« sowie der historisch sozialwissenschaftlichen und der marxistischen Geschichtsschreibung gehe ich ein.
IV.
Shôwashi Ronsô (Kontroverse über die Shôwa Ära Japans)
In der Mitte der 50er Jahren fand in Japan der sogenannte Shôwa-shi Ronsô (Kontroverse über die Shôwa Ära Japans) statt. An dieser Kontroverse nahmen nicht nur Historiker, sondern auch Schriftsteller, Publizisten, Politologen, Philosophen und Ökonomen teil. Am intensivsten aber wurde der Streit zwischen dem Publizisten Katsuichiro Kamei und dem marxistischen Historiker Shigeki Toyama geführt. Der Beginn des Streites gingvon der Rezension Kameis über das 1955 veröffentlichte Buch „Showa-shi“(die Shôwa Ära) von Toyama und seinen Gleichgesinnten aus.
Der Publizist Kamei stellte folgende Forderungen an die Geschichtschreibung, bzw. an den Umgang mit der Geschichte überhaupt.
Es gibt zweierlei Motivationen, Geschichte zu lernen. Einerseits möchte man die Quelle seines Lebens im Volkscharakter oder im Strom der Epoche bestätigend ausfindig machen. Die grundlegende Frage ist: Wer sind wir Japaner? Das Verlangen, die Möglichkeit der Wiedergeburts durch gründliche Suche nach der Ursache des eigenen Lebens zu finden, dieses
Verlangen scheint mir wahrscheinlich eine Form der Motivation zum Lernen der Geschichte zu sein. (30)
Diese Aufforderung von Kamei zeigt schon von Beginn an eine zu der
Interpretation Toyamas völlig unterschiedliche Geschichtsauffassung, mit der er in seinem Buch die Ursache des Kriegsausbruchs sucht und diese theoretisch aufklären will. Sein Buch fand damals sofort große Resonanz und es wurde aus zweierlei Gründen in weiten Kreisen der Intellektuellen darüber diskutiert.
Das Vorwort des Verfassers bestätigt das Interesse des Volkes daran , mehr über den Kausalzusammenhang zu erfahren, der zu dem verlorenen Krieg geführt hatte.
In diesem Buch haben wir versucht, aufgrund der Forschungsergebnisse des wissenschaftlichen Vereins eigene Schritte unseres Volkes im Zusammenhang mit der innen-politischen, aussenpolitischen und wirtschaftlichen Bewegung zu erfassen. Unser besonderes Interesse liegt darin, warum wir in den Krieg verwickelt und fortgerissen wurden und warum wir dies nicht verhindern konnten. Wenn man [...] jetzt aufklären kann, wie sich die Bedingung von damals, die die Kraft des Volkes geschlagen hat, von den jetzigen Bedingungen unterscheidet, dann könnte das Engagement für den Frieden und die Demokratie dadurch eine richtige Orientierung erlangen und Selbstvertrauen schöpfen. (31)
Eine von mehreren Kritiken Kameis zielte auf die Art der Darstellung des japanischen Volks ab, denn nur „die Millitärs, Politiker und Unternehmer wurden als diejenigen genannt, die den Krieg mit Gewalt durchsetzen wollten, und auf der anderen Seite die Kommunisten und Liberalen, die sich dem widersetzten; aber das Volk, das zwischen diesen Polen schwankte, findet keine Erwähnung.“ (32)
Damit will Kamei die marxistische Dichotomie und deren stereotype Anwendung auf die Historiographie kritisieren.
In seinem Buch „Auf der Suche nach der verlorenen Nation“ von 1999 bezieht Sebastian Conrad die Behauptung Kameis über die Abwesenheit des Menschen auf die Ubiquität der Strukturkategorien, die den Freiraum des gestaltenden Individuums nicht nur eingeschränkt, sondern gänzlich eliminiert hätten. „Für Kamei“, so Conrad, „ lag hier die zentrale Schwäche der gesamten marxistischen Geschichtsschreibung, und seine Kritik an Showashi war zugleich eine Abrechnung mit dem Paradigma des Historischen Materialismus.“ (33) Kameis Umgang mit der Geschichte ist aber weder sozialwissenschaftlich noch ideologisch oder patriotisch, sondern gewissermaßen ahistorisch, wenn er wie folgt sagt:
Auf der anderen Seite habe ich den Wunsch, einer vorbildlichen Persönlichkeit in der Geschichte zu begegnen, so dass ich durch diese Begegnung allen Grund zur Bildung meiner neuen moralischen Wirbelsäule entdecken könne. [...] Geschichte gehört zwar zur Vergangenheit, aber die vergangene Zeit verschwindet hier. Man muss mit den historischen Persönlichkeiten genauso wie mit den lebenden Menschen umgehen. (34)
Kamei verlangt von den Historikern durch ihre einfühlsame Begegnung mit den verschiedenen Individuen in der Vergangenheit, dass sie(=Historiker) Widersprüche der Individuen als ihre eigene Widersprüche empfinden, und Bereitschaft zeigen, geleiche Erfahrungen zu machen.“, so Kamei, „Das möchte ich Amor fati nennen.“ (35)
Nach Kamei müssen die Historiker genauso gute Stilisten sein, wie die Schriftsteller es sind. Er identifiziert die Geschichtsschreibung mit Darstellung der Menschen und führt seine Kritik an die kommunistische Verfasser des Buchs „Showazeit“ fort: „Dürfen die Historiker den Schreibstil außer acht lassen und sich nur mit der Darstellung der Fakten begnügen? Das ist ein Irrtum. Das betrifft nicht nur die Verfasser dieses Buches - die meisten Historiker des linken Flügels haben den Schreibstil der Bürokraten ausnahmslos geerbt.“ (36)
Gegen diese Kritik von Kamei erwiderte Toyama folgenden Versuch, den Unterschied zwischen der Darstellung von Menschen in den Geschichts-und Sozialwissenschaft und der Darstellung in der Dichtung und der Kunst zu verdeutlichen:„Die Geschichtswissenschaft verpflichtet sich dazu, die historisch-soziale Existenz des Menschen mit der Logik aufzuklären. Dagegen stellt die Dichtung den Menschen als historische soziale Existenz als solche mit der Gestalt dar. Sowohl die Geschichtswissenschaften als auch die Dichtung wollen die Wahrheit der Geschichte=Menschen ermitteln. Es gibt nur ein gemeinsames Ziel. Aber die Dichtung nähert sich dem Ziel, indem sie zum Ausdruck bringt, in welchen individuellen, zufälligen und unersetzbaren Eigentümlichkeiten sich die Menschen und ihr Leben befinden. Demgegenüber will die Geschichtswissenschaft aufklären, dass Menschen als Klasse existieren und dass die Notwendigkeit durch Zufälle durchdringt und sich verwirklicht. Gleichzeitig will sie aber auch individuelle Differenzen implizieren.“ (37)
Diese Antwort Toyamas findet keine Resonanz bei Kamei, welcher daraufhin zu einer Kritik an der historisch-materialistischen Orientierung der kommunistischen Historiker und deren Fortschrittsgedanke ansetzt: „Menschen jeder Epoche, seien sie gut oder böse, leben ihr Leben mit voller Kraft und sterben. Man muss dem gerade ins Auge schauen. Man muss sich in die Zeit versetzen, wo sie lebten und darüber nachdenken, was man in dieser Zeit gemacht hätten. Also muss man am eigenen Leibe erfahren, was sie durchgemacht haben. Könnte die Authentizität des Historiker nicht anhand seines Vermögens, die Geschichte wieder aufleben zu lassen, beurteilt werden?" (38)
Kameis Kritik beziehen sich noch auf andere Exponate des Buchs. Aber in Bezug auf die Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik, „eröffnen sich Parallen zur Kontroverse um die Zeit-und Strukturgeschichte.“ Sebastian Conrad findet „den gemeinsame Nenner“ in „der Frage nach der Vermittlung von Struktur und Erfahrung.“ (39) Nichts anders also, als die Marxismuskritik von Gerhard Ritter oder Werner Conze in der westdeutschen Kontroverse richtete sich die massive Opposition in Japan, die sich an dem Buch als Symbol der marxistischen Historiographie entzündete, in erster Linie gegen den determinierenden Charakter der gesellschaftlichen Strukturen.
Kameis Aufforderung, die verschiedenen Individuen der Vergangenheit einfühlsam im Kontext der Zeitumstände zu sehen, zeigt jedoch auf plausible Weise den Kontrast zu der Einstellung Fischers hinsichtlich des historischen Forschens. Fischer selbst lehnt alle Tendenzhistorie ab, wenn er sagt, „Alles andere, und gerade auch, wenn der Historiker nicht über seinen eigenen Standort reflektierte, würde Tendenzhistorie sein.“ (40) Aber gleichzeitig lehnte er auch die Behauptung ab: „Männer machen die Geschichte.“, denn „dementsprechend würde sich das Ineinander und die Abfolge geschichtlichen Lebens gestalten als die Darstellung des Wirkens von großen Persönlichkeiten, als eine unendliche Kette von Biographien.“ (41) Fischer erkennt zwar den Reiz darin, „sich mit diesen Gestalten zu befassen“, aber gerade weil „die deutsche Geschichtsschreibung mit ihrer Herkunft von Romantik und Protestantismus [...]durch Jahrzehnte eine ihrer Aufgaben in der Biographie gesehen hat, in der liebevollen Nachzeichnungen der Entwicklungsgeschichte großer Persönlichkeiten,“ versuchte er, „die Einseitigkeit und Schwäche dieser Methode nicht zu verkennen.“ (42) (Hervorheven v. Verf.)
Mit Gerhard Ritter der „in Abwehr soziologischer, materialistischer und biologischer Geschichtsinterpretationen an der „individualisierenden“ Methode des «Verstehens»1949 noch grundsätzlich hatte festhalten wollen“ (43), hatte Kamei mit seiner obigen Aufforderung mindestens eine gemeinsame Perspektive.
Fischers Schlussfolgerung lautet dagegen:„Jenseits der banalen Zuordnung von Menschen und Millieu ist es eine erkenntnistheoretische Frage ersten Ranges, ob die Zustände, die objektiven Verhältnisse, die Einrichtungen [....], ob die übergreifenden sozialen Körper und ihr Zueinander und ihre Wandlungen des Historikers erstes Objekt sein müssen oder der Einzelmensch, an dessen Schicksal, Tugend und Laster, Leistung oder Versagen der Historiker sich im Sinne Plutarchs erbauen, an denen er sich als Vorbild orientieren will.“ (44)
Trotz seiner «gesinnungsethisch» bezeichneten Konsequenz versuchte Fischer in seiner Zeit, mit Hilfe interdisziplinärer Ansätze einen
Allgemeingültigkeitsanspruch für Historiographie aufzustellen. Sein umfangreiches Interesse wird an den folgenden Stelle deutlich:
Den handelnden Personen gegenüber sollte der Historiker ebenso Psychologe wie den sozialen Verhältnisse gegenüber Soziologe und den den wirtschaftlichen Tatbeständen und Zusammenhängen gegenüber Wirtschaftswissenschaftlern sein- eine Forderung, der unsere Universitätsbildung leider nur in völlig unzureichenden Maße Rechnung trägt. (45)
Dieser Versuch Fischers hat eine Gemeinsamkeit mit Michio Matsuda, einem anderen Kontrahent von Shigeki Toyama. Matsuda verlangt von Toyama eine Compassion für die Leidenden oder Erwähnung der Schmerzen der Menschen, die sich durch die Showa-Ära durchziehen. Matsuda fordert von Toyama eine pluralistische Annäherung an die historischen Gegenständen.
Damit besitzt seine Kritik eine Reichweite, die den marxistischen Monismus relativiert. An dieser Stelle sollte die Kritik von Matsuda an Toyama kurz vorgestellt werden:
Wenn einzelne Historiker sich von ihren jeweiligen eigenen menschlichen Existenzen absondern und von irgendeinem fiktiven Standort -sei es von einem idealen Kommunismus oder vom Standort des Kaisers -die Geschichte beschreiben, geht die Haftung an dem Gegenstand verloren. Dann verliert die Geschichtsschreibung die Objektivität. (46)
Es ist ganz interessant zu wissen, dass sich fast gleichzeitig in Deutschland Theodor Schieder mit Probleme konfrontiert sah, wie sie Matsuda beschäftigten.
Der historische Mensch ist also zugleich freier und unfreier, als ihn Hegel gesehen hat: Er will sich selbst und kann sich selbst wollen-das ist seine Freiheit;aber er sieht sich einer „enormen Gebundenheit“ gegenüber, die seinen Willen lähmt, die Wirkung seiner Entscheidungen begrenzt. (47)
„Die anthropologische Vergewisserung der Rolle des Menschen in der unendlichen Menge geschichtlicher Prozesse wurde hinfort zu einem unverzichtbaren Bestandteil historischer Reflexion“ (48), so formuliert Wolfgang Mommsen die bemerkenswerte Revision des klassischen historiographischen Programms durch Schieder noch vor Fischer und setzt fort:
Theodor Schieder selbst entwickelte eine Form von Geschichtsschreibung von hoher Sublimität und bemerkenswerter Universalität des Blickes, die die Bestimmung der elementaren Antriebskräfte und Bedingungsfaktoren geschichtlichen Handelns zur eigentlichen Zielsetzung hatte und genetisch-narrative Darstellung und idealtypische Strukturanalyse miteinander kombinierte. Allerdings warnte Schieder zugleich vor einer allzu weitgehenden Soziologisierung der Geschichte, damit einen pluralistischen Ansatz verteidigend, der seine Einheit nicht in erster Linie aus theoretischen Gesichtspunkten herleitete,sondern aus der schauenden Kraft eines schließlich dennoch historistischen Historikers,der sich aller Strukturanalyse zum Trotz dem Grundsatz verpflichtet fühlte, daß man allen historischen Phänomenen ihr Eigenrecht zu gewähren habe. (49)
Mir scheinen die in den beiden Kontroverse von vor 50 Jahren auftretenden Fragenkomplexe noch heute gar nicht so überholt zu sein. Dieser Kontroverse, besonders der Sicht sowohl von Kamei als auch von Ritter wohnt eine weiterhin aktuelle Problematik inne. Kamei fordert nämlich eine identitätsstiftende Funktion der Geschichtsschreibung. Ritter beklagt Selbstvedunkelung deutschen Geschichtsbewußtseins. Über die Frage nach der Vermittlung von Struktur und Erfahrung hinaus forderte Kamei eine subjektive identitätsstiftende und historisches Einfühlungsvermögen stärkende historische Erziehung des Volks. Dieser Kamei wurde vor dem Krieg als Marxist verhaftet. Nach der Konversion vom Marxismus aber tendierte er dazu, den Sinn des Todes für den Staat ästhetisch zu begründen und während des Krieges den Krieg zu loben. Jargons wie Amor fati oder Selbstverzicht hat er sowohl vor und während des Kriegs, als auch nach dem Krieg verwendet, ohne seine Mitverantwortung gewissenhaft zu bekennen und sogar über die Kontinuität seines ahistorisch-ästhetischen Bewusstsein zu reflektieren. Trotz seiner Mitverantwortung für den Krieg hat er sich selbst auch als Opfer der japanischen Moderne gesehen, weil die Annahme der westlichen Zivilisation seit der Meiji-Ära, welche selbst ein tollkühnes Unternehmen darstellte, nicht zu vermeiden war.
Die Intellektuellen seiner Zeit besaßen, so Kamei, deshalb Attribute eines Opfers dieses tollkühnen Unternehmens welches schließlich zum Krieg führte.Im Fall von Kamei findet man die typische konkrete Diskrepanz zwischen Idee und Lebenswelt in einem Menschen. Bei seiner Abkehr von der marxistischen Stellungnahme in den 1930er Jahren spielte der Buddhisumus eine entscheidende Rolle. Die Anerkennung des radikalen Bösen, der totale Selbstverzicht und das totale Vertrauen auf Amida-Buddha ( Sukhâvati) soll ihn vor dem Verlust der raison d'être gerettet haben.
Der Philosoph Shuichi Kato formuliert diese Tendenzen der japanischen Intellektuellen, insbesondere der japanischen Romantischen Schule (Nihon Roumanha) während des Krieges folgendermaßen:
Das nächste Problem liegt in der Frage, warum eine Diskrepanz zwischen Ideen und Bewusstsein der Lebenshaltung entstanden ist. [...] Der erste Grund dafür ist, wie Maruyama aufgezeigt hat, dass die Ideen aus dem Ausland gekommen sind. Diese Ideen werden nur mit dem Kopf verstanden. Sie sind aber weder ins Alltagsleben eingedrungen, noch stehen sie in Verbindung mit den traditionellen Werten Japans. Deshalb kann man je nach Situation ohne Bedauern darauf verzichten. Der zweite Grund dafür ist, wie Yoshimoto argumentiert, dass dieses Bewusstsein der Lebenshaltung für das soziale Leben in Japan unentbehrlich ist. Dies bedeutet, dass das bei einer Kleingruppe, zu der die Betroffenen gehören, dominantes familiäres Bewusstsein vor den Ideen Vorrang hat. Anders gesagt, erheben sich die aus Ideen stammenden Werte keinesfalls über Bequemlichkeiten, Gewohnheiten und Gefühle im tatsächlichen Leben. Das gilt nicht nur für ethische und ästhetische Werte, sondern sogar auch für die Wahrheit der Wissenschaft. Kurz gesagt, hat die moderne Gesellschaft Japans selbst keine transzendenten Wert-und Wahrheitsbegriffe produziert. (50)
V.
Nach der Fischer-Kontroverse aber erzeugen fast in zyklischen Abständen ausbrechende Diskussionen über die Vergangenheit ein großes öffentliches Interesse in der bundesdeutschen Gesellschaft, das weit über intellektuelle Kreise und Fachleute hinausgeht. So.z.B. die Kontroverse über die Ausstellung der Kriegsverbrechen der Wehrmacht hat d die Pros und Kontras in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf emotinalste und teilweise agrresivste Weise interferieren lassen.
„Mein Vater war kein Verbrecher“, mit diesem Ruf appellierte die Opposition gegen die Ausstellung. Durch diese Ausstellung fühlten sich die Opponenten innerlich verletzt, weil die familiären Erinnerungen und das Gedenken an die Verstorbenen durch den Hinweis auf die Kollektivschuld der Vergangenheit so gestört wurden. Die Ausstellung beabsichtigte zwar keinesfalls zu zeigen, dass alle Soldaten der Wehrmacht in die Verbrechen verstrickt waren, aber sie erregte Aufsehen wegen ihrer Intention, den geltenden Mythos der sauberen Wehrmacht zu entlarven.
Aber viele der Betroffenen wollten das Eindringen der angedeuteten Kollektivschuld in die familiäre Sphäre des Gedenkens verhindern und den Versuch abwehren, die Verstrickung der Wehrmachtssoldaten in die Kollektivschuld mehr oder weniger im sozialen Gedächtnis zu verankern.
Auch in Japan wird häufig der Erhalt der Ehre der im Krieg gefallenen und im Yasukuni Schrein verehrten Soldaten evoziert, wenn von den Nachbarländern in Richtung unserer Regierung Kritik an den Besuchen der japanischen Ministerpräsidenten jener Stätte geübt wird, in welcher unter anderem auch die Seelen der damals zum Tode verurteilten Kriegsverbrecher der Kategorie A eingeschreint sind.
Die Rechtfertigung solcher Erinnerungsstätten kann jetzt nicht mehr nur anhand nationaler Sinnbedürfnisse erfolgen, denn die Legtimation braucht nun eine bilaterale bzw. multilaterae Anerkennung, um dem Rechnung zu tragen, was die Gedächtniskulturen der Nachbarländer nicht vergessen und verdrängen wollen. Diese Verwicklung der erinnernden Subjekte in die multilaterale Konstellation ist kennzeichnend für die Gegenwart. Dies wurde aber nicht selten als Identitätskrise empfunden, in der das traditionelle nationale Bewußtsein gelegentlich wieder hervortrat.
Schlussbemerkungen
Die von den 50er Jahren bis in die Gegenwart andauernde, kontinuierliche, fast in zyklischen Abständen ausbrechenden Diskussion über die Legitimität der Suche nach der verlorenen Identität sowie die Rehabilitierung der Tradition vor dem Krieg brachten sowohl in Japan, als auch in der Bundesrepublik Deutschland oft heftige Auseinandersetzungen darüber hervor, welches kulturelle Gedächtnis von Nöten ist und wie dieses Gedächtnis am besten eingeprägt, bewahrt, und offiziell anerkannt werden sollte, weil die Identität der erinnernden Gruppe schließlich durch den Bezug auf die Vergangenheit fundiert wird. Diese Diskussion setzt sich allerdings gerade im Wandlungsprozess vom kommunikativen Gedenken zum kulturellen Gedenken der Vergangenheit fort. Unabhängig von der Art der Kriegsverbrechen der beiden Länder ging es und geht es dabei um die Funktion und die Aufgabe der Geschichtswissenschaften sowie die Darstellungen der jüngsten Vergangenheit durch dieses Fach, welches entscheidenden Einfluss auf die Identitätsbildung einer Nation und die Bestimmung der Nachkriegsverantwortung üben sollten.
Wenn man aber jetzt an die hier erwähnten Kontroversen in den 50er und 60er Jahren zurückblickt, kann man wohl mit Recht sagen, dass sich das geistige Klima in den beiden Ländern danach trotz der Gemeinsamkeiten der Gegenstände der Kontroversen ganz anders entwickelt hat.
An der Fischer-Kontroverse nahmen auch Fachleute aus Übersee teil, an der japanischen nicht. In beiden Kontroversen wurden selbstkritische Ansätze der Historiographie gezeigt. Aber während die selbstkritischen Ansätze in der Bundesrepublik kontinuierlich von den Schülern Fischers und den jüngeren Generationen nachprüfend und ergänzend erweitert wurden, gab es keine produktive Nachentwicklung des Paradigmenwechsels in Japan. Die seit den 70er Jahren allmählich etablierte politische Kultur in der Bundesrepublik, die auf einer „posttraditionellen Identität“(Habermas) und auf Engagement basiert, sich kritisch mit politischen und gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzt und aktiv am politischen Leben teilnimmt, kann man sich ohne Paradigmenwechsel der bundesdeutschen Historiographie und der Geschichtsdidaktik schwer vorstellen.
Kenich Mishima, einer der namhaften Germanisten Japans, stellt die geistige Situation Japans um 2000 wie folgt dar: „Der von der Mehrheit unterstützte Staat ist gegenüber der kritischen Öffentlichkeit immun. Zwischen ihr und der Politik findet so gut wie kaum ein Austausch statt. Hier sehe ich die größte Schwierigkeit;denn durch internationalen Druck allein kann man die Menschen bei uns nicht zur Einsicht bringen. Ohne sie aber ist kein angemessener Umgang mit der Vergangenheit möglich.“ (51)
Bei der Pressekonferenz am 15.August 2006 nahm der Generalsekretär des Kabinetts, Shinzo Abe auf die Frage der Journalisten nach der Kriegsverantwortung der im Yasukuni-Schrein verehrten Kriegsverbrecher wie folgt Stellung:„Darüber entscheiden die Historiker.“ Wegen dieser oftmals von den Politikern Japans wiederholten Indifferenz gegenüber historischen Erkenntnissen brachen fast in zyklischen Abständen Diskussionen mit seinen Nachbarländern über die Vergangenheit aus. Der niederländische Politologe Karl von Volfren kritisiert diesen Standpunkt der Politiker mit den Worten:„Sie wollen die Geschichte nicht in die Hand nehmen.“ (52)
Anmerkungen:
7.1. Sektionstitel
Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections
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