TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 7.11. Dokumentarfilme und -ausstellungen als kreatives Handwerk des Wissens
Sektionsleiterin | Section Chair: Antoaneta Tcholakova (Wien)

Dokumentation | Documentation | Documentation

Die Dokumentarausstellungen – Spuren der Vergangenheit
und Herausforderung der Gegenwart

Iliana Paskova (Zentrales Staatsarchiv, Sofia)

 

Den Archiven ist seit Jahrtausenden in der staatlichen Verwaltung eine Schlüsselstellung eingeräumt, die von ihrem Wesen und ihren gesellschaftlichen Funktionen prädestiniert ist. Ihre Bedeutung wird durch ihre schon sehr früh geprägte, bis zum heutigen Tage dominierende Rolle bestimmt - den Zentralbehörden des politischen Systems und der Gesellschaft als Ganzes zu dienen und sie zu unterstützen. Seit dem 18. Jahrhundert, d.h. seitdem die Archivurkunden als historische Quelle von der wissenschaftlichen Forschung genutzt werden, genießen die Archive den Ruf öffentlicher staatlicher Institutionen. Sie hüten und überliefern das Archivgut, um der Gesellschaft die notwendige retrospektive Information über die Vergangenheit gewähren zu können, die einen wesentlichen Teil ihres historischen Gedächtnisses darstellt. Heute gehört dieses archivarische Schriftgut zum historischen Kulturerbe  der Welt. Die Aufgabe der Archivare ist es, im Interesse der Gesellschaft und des einzelnen Bürgers, Hüter dieses Schriftgutes zu sein.

Im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern, die ihre archivarische Tradition seit Jahrhunderten pflegen, verfügt das bulgarische Archivwesen über eine recht kurze Entwicklungsgeschichte. Nach der Befreiung Bulgariens vom osmanischen Joch und nach der Wiedererrichtung des Bulgarischen Staates im Jahre 1878 kam es nicht zur Verabschiedung eins speziellen Archivalienschutzgesetzes, trotz der vorliegenden Einzelprojekte und einer Vielzahl an gute Ideen, und es wurden keine öffentliche  „historische“ Archive errichtet. Infolge einer Reihe ungünstiger historischer Ereignisse und Bedingungen wurde die Frage über das systematische Sammeln und Hüten des bulgarischen, nationalen, archivarischen Schriftgutes gesetz- und verwaltungsmäßig erst Anfang der 50. Jahre des XX. Jahrhunderts gelöst.

Nach Beginn der demokratischen Veränderungen in Bulgarien am Anfang der 90. Jahre des XX. Jahrhunderts gewinnen die Bulgarischen Archive immer mehr an Bedeutung als öffentliche Institutionen - eine Rolle, die ihnen in unserer modernen Gesellschaft gebührt. Die Archive leisten ihren Beitrag zur Durchführung der Staatesreform beim Übergang zur Marktwirtschaft und helfen dem Land sich dem demokratischen Wertsystem anzuschließen. Die Stabilität der Gesellschaft wie auch ihre Fähigkeit zur schrittweisen Weiterentwicklung hängen davon ab, inwiefern es ihr gelingt, die historischen Erfahrungen und Schätze von Generation zu Generation zu überliefern. Eine der Möglichkeit zur Überlieferung der historischen Erfahrung gewährt das Archivgut. Der unmittelbare Kontakt mit den Originalurkunden bietet eine nützliche, interessante und nicht sehr bekannte Information, trägt zum Erreichen einer möglichst objektiven Einschätzung der historischen Ereignisse oder historischen Persönlichkeiten bei und spielt eine wichtige Rolle bei der Festigung des nationalen Selbstbewusstseins und bei der Stärkung der bulgarischen Identität.

Es seien in dieser Gedankenfolge drei strategische Richtungen im Verhältnis Archiv – Gesellschaft erwähnt: 1. Die Archive sind offen, d.h. die Benutzung des Archivguts ist allgemein zulässig; 2. Das ständig steigende Interesse und die wachsende Intensität bei der Einsichtsnahme in den Archivunterlagen verpflichtet die archivarischen Institutionen zur systematischen Durchführung einer offenen, gesellschaftsfreundlichen Politik; 3. Die Aufgaben und die Verantwortungen der Archive wachsen in der Informationsgesellschaft von Tag zu Tag.

Die Archive entgegnen den Herausforderungen der Zeit durch eine aktive Popularisierungstätigkeit als Ganzes und teilweise auch durch Ausstellungen von Urkundensammlungen und den dazugehörigen Katalogen. Die Urkundensammlungsausstellungen sind ein Ausdruck des für die moderne Archivistik typischen Trends zur Ausfolgung zur Einsichtsnahme und zur Nachforschung im historischen Kulturgut und in den Archivurkunden als gesellschaftliches und wissenschaftliches Eigentum. Sie stellen eine reichlich illustrierte Erzählung von großem Informationswert für die Geschichte dar, die bei der Erkennung ihres tiefen Sinnes unvermeidlich zur Überlegungen über unsere Gegenwart führt. Die ausgestellten Archivurkunden sind jener Faktor, der unsere gemeinsame Identität vereint. Die Urkundenausstellungen werden zum Anlass wichtiger Jahrestage, beim Begehen von Jubiläen und bei anderen Ehrungen organisiert; des Weiteren werden nicht sehr bekannte Schriften und Urkunden über gesellschaftswichtigen Themenfelder, wie auch Archivalien aus den Neubeständen  präsentiert. Es sei mir erlaubt hier zu erwähnen, dass dies ein besonderer Moment für jeden Berufsarchivar ist – er mobilisiert alle seine Kenntnisse und kommt im Laufe seiner Tätigkeit zu neuen Erkenntnissen, um an Hand der Urkunden ein objektives historisches Bild wieder herzustellen. Der Archivar setzt aber hier noch keinen Punkt. Er ist nicht nur ein Forscher, sondern noch etwas mehr – er ist ein Entdecker. Er ist vor der Herausforderung gestellt, nach fehlenden Fragmenten zu suchen und unerforschte oder wenig bekannte Dokumente und Urkunden zu neuem Leben zu erwecken.

Die Ausstellungen beeinflussen die sich herausbildende Beziehung der Gesellschaft zu den Zeugnissen der Vergangenheit, zum nationalen Schriftgut und zum öffentlichen kulturhistorischen Wertsystem als Ganzes. Die Urkundenausstellungen sind nicht an dem recht begrenzten Kreis der mit  wissenschaftlichen Nachforschungen direkt engagierten Fachleute adressiert. Die Aktualität und die Bedeutsamkeit der bearbeiteten Themenfelder provozieren ein lebhaftes, reges Interesse bei einem breiten, mannigfaltigen Besucherkreis. In diesem Sinne ließe es sich schlussfolgern, dass die Urkundenausstellungen eine kognitive und erzieherische Rolle spielen. Sie beinhalten nicht unbedingt die für die wissenschaftlichen Werke typischen Analysen und Zusammenfassungen, leisten aber einen unbestrittenen Beitrag zur Rekonstruierung wesentlicher Geschichtsfragmente; sie leisten ihren Beitrag zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft. Die bei der Vorbereitung der einzelnen Ausstellungen  thematisch ausgewählten Urkunden und Dokumente bilden die Grundlage künftiger Veröffentlichungen, es ist nicht selten der Fall, wo sie ernste Diskussionen in wissenschaftlichen Kreisen und in der Gesellschaft provozieren. Die für die Urkundenausstellungen herausgegebenen Kataloge (möglicherweise zweisprachig) sind für die Wissenschaftler wertvolle Meilensteine auf dem Wege der Nachforschung historischer Quellen. Manche der thematisch erkundeten Urkunden und Dokumente bilden später den Kern von zukünftigen Urkundensammelbändern. 

Die bisher dargelegten Gedanken fußen auf die langjährige Erfahrung der Archivare des Zentralen Staatsarchivs, angehäuft bei der Vorbereitung und Gestaltung von Urkundenausstellungen. Ich möchte hier einige der Hauptthemen und der wichtigsten Titel, die in den letzten Jahren in der Ausstellungshalle „Archive“, wie auch in anderen Ausstellungsräumen und Institutionen präsentiert worden sind.

Das Verhältnis Archiv-Staatlichkeit ist das Thema einer Reihe von Urkundenausstellungen und Publikationen – Kataloge, Jubiläumsalmanache und Urkundensammelbände. Das Programm wurde im Jahre 1999 gestartet - das Jubiläumsjahr der modernen bulgarischen staatlichen Institutionen- anlässlich des 120. Jahrestags ihrer Gründung. An Hand der archivarischen Urkunden konnte man die Entwicklung des Bulgarischen Parlaments, des Ministerrates, der Bulgarischen Nationalbank  u.a. mitverfolgen. Zum ersten Mal haben die bulgarischen Besucher die Möglichkeit gehabt, im  selben Saal die Originalschriften aller bulgarischen Verfassungen zu besichtigen – von der in Veliko Tărnovo unterzeichneten Verfassung des Fürstentums Bulgarien (1879) (bekannt unter dem Namen Tărnovaer Verfassung) bis zur momentan gültigen Verfassung (1991). Zum ersten Mal öffnete das Haus der bulgarischen Regierung seine Türen für die Besucher der im Gebäude exponierten Ausstellung. Nach dem Vorbild der Regierung  richteten auch die einzelnen Ministerien in Zusammenarbeit mit den Bulgarischen Archiven ihr Augenmerk auf ihre eigene institutionelle Geschichte. Ein Jahr später, im Jahre 2000, feierte auch der Bulgarische Rechnungshof das 120-jährige Jubiläum seiner Gründung und organisierte anlässlich des Treffens der Präsidenten der Europäischen Rechnungshöfe eine Dokumentenausstellung samt Katalog. Die Organisatoren bekamen seitens der Teilnehmer höchste Anerkennung für den von ihnen ausgearbeiteten Dokumentensammelband. Die validierte thematische Briefmarke mit dem Ersttagsstempel des Briefumschlags hat heute einen hohen philatelistischen Wert.

Das unter aktiver Beteiligung der bulgarischen Archive beschrittene Themenfeld der „Bulgarischen Staatlichkeit“ und die inzwischen zu einem Trend gewordenen „Tage der offenen Türen“ der staatlichen Verwaltungsinstitutionen werden auch in den kommenden Jahren fortgesetzt. Mehrere Male gewährt die bulgarische Volksversammlung den Bürgern freien Zugang ins Parlamentsgebäude, der sehr geschickt mit kognitiven und patriotischen Initiativen kombiniert wird – mit der Präsentation von Urkundenausstellungen gewidmet der staatlichen Entwicklung Bulgariens (2004), dem Bulgarischen Exarchat (2005) u.a.

Im Saal „Archive“ konnte die bulgarische Öffentlichkeit im Jahre 1998 zum ersten Mal die Originalen der internationalen Verträge besichtigen, die das Schicksal des modernen Bulgarischen Staates prägten. Ein weiterer Aspekt der internationalen Beziehungen des Landes wurde im Jahre 2000 in der Dokumentarausstellung zum Thema „Bulgarien in den internationalen Organisationen im XX. Jahrhundert“ präsentiert. Das große Interesse seitens der bulgarischen Öffentlichkeit und die unbestrittene Signifikanz des Themas veranlassten die Organisatoren vom Zentralen Staatsarchiv mit der Unterstützung des Bulgarischen Forschungsinstituts in Wien, der Botschaft der Republik Bulgarien in Österreich und der Ständigen Vertretung Bulgariens in den Internationalen Organisationen in Wien in den Jahren 2001 und 2002 zwei Ausstellungen in den Räumen vom „Haus Wittgenstein“ zu organisieren.

Das Thema über die diplomatischen Beziehungen Bulgariens würde ich als den zweiten Leitfaden in unserer Popularisierungstätigkeit hervorheben. Es seien hier auch einige bedeutende Ereignisse genannt: die Urkundenausstellung „100 Jahre bulgarisch-amerikanische diplomatische Beziehungen“ mit zweisprachigem Katalog und CD (2003) ist auf Poster beschickt. Sie fand in Sofia, in der Kongressbibliothek in Washington und in mehreren bulgarischen und amerikanischen Städten statt. Momentan befindet sie sich als ständige Exposition im neuen Gebäude der amerikanischen Botschaft in Sofia. Sie wird interessanterweise periodisch bereichert.

Wichtige Ereignisse in den bilateralen Beziehungen zwischen Bulgarien und Frankreich wurden reichlich mit archivarischen Urkunden in der gleichnamigen Urkundenausstellung belegt, die im Jahre 2004 in den Räumen des Luxemburgischen Schlosses in Paris eröffnet  wurde.

Emblematisch ist in dieser Reihenfolge die Urkundenausstellung „Bulgarien – Österreich. 125 Jahre diplomatische Beziehungen“, die im Jahre 2004 im runderneuerten Palais Coburg in Wien eröffnet wurde, wo 1861 Zar  Ferdinand I. Bulgarski geboren wurde – der bulgarische Monarch, der am längsten regiert hat. Die Ausstellung und der zweisprachige Katalog sind mit der Unterstützung der Botschaft der Republik Bulgarien in der Republik Österreich  und des Bulgarischen Forschungsinstituts in Wien veranstaltet worden. Einige Monate später wurde die Ausstellung auf Initiative der Österreichischen Botschaft in Bulgarien auch in Sofia gezeigt.

Im Sinne der kulturellen Traditionen der Stadt Wien möchte ich hier eine interessante, recht unbekannte Tatsache nennen: Im Zentralen Staatsarchiv wird der von Johann Strauß komponierte “Hochzeitsreigen Walzer” verwahrt, der der Hochzeit vom Fürst Ferdinand I. Bulgarski mit der Fürstin Marie Louise Bourbon-Parma im Jahre 1893 gewidmet wurde. Die Uraufführung des Walzers fand am 1. Januar 2000 auf dem festlichen Neujahrskonzert unter der Leitung von Maestro Emil Tabakov statt.

Dokumentenausstellungen, gewidmet berühmten bulgarischen Staatsmänner, Wissenschaftlern, Schriftstellern, Künstlern u.a. ergänzen das historische Bild. Die Verwirklichung ähnlicher Projekte wird ermöglicht und unterstützt durch das ständig wachsende Ansehen der Bulgarischen Archive, was zu Schenkungen und Spendungen führt. Im Jahre 2006 wurde das persönliche Archiv von Zar Ferdinand I. Bulgarski, das bis dahin in dem Hoover-Institut der Stanford Universität in den USA  aufbewahrt wurde, nach Bulgarien zurück gebracht. Dr. Simeon Simov schenkte dem Archiv seine Sammlung von raren Karten, Gravuren und Büchern, die dem Thema „Bulgarien und die bulgarischen Gebiete im Laufe der Jahrhunderte“ (2006) gewidmet ist. Der enorme Wert, die historische Bedeutsamkeit und das rege Interesse der Öffentlichkeit führten zur Präsentation der beidgenannten Schenkungen als Dokumentenausstellungen.

Im April 2007 begangen die archivarischen Institute von Bulgarien und Rumänien den Beitritt beider Staaten zur Europäischen Union mit einem gemeinsamen Projekt – eine Dokumentenausstellung samt dreisprachigem Katalog zum Thema „Die Donau – ein europäischer Fluss“. Die Eröffnung der Ausstellung erfolgte in Berlin zum Zeitpunkt des Vorstandstreffens der Nationalarchivare der Europäischen Union. Die Posterausstellung wurde in Bukarest und in Sofia zur Schau gestellt. Des Weiteren wird sie auch in den bulgarischen und rumänischen Donauanrainerstädten vorgeführt.

Die erfolgreiche Darstellung der unter Beteiligung des Zentralen Staatsarchivs vorbereiteten und verwirklichten Urkundenausstellungen und Druckschriften ist dank der guten Zusammenarbeit der Bulgarischen Archive mit verwandten Kultur- und Forschungsstätten, mit den Erben berühmter Bulgaren und mit Privatsammlern möglich.

Die Urkundenausstellungen veranschaulichen die nationalen Schätze, die Mannigfaltigkeit der einzelnen Völker und ihrer Kulturen. Sie schlagen eine Brücke zwischen den Menschen, die höchst verschieden, aber natürlich auch vereinigt sind durch das Kulturerbe der Welt und durch die Bemühungen um seine Erhaltung und Nutzbarmachung.


7.11. Dokumentarfilme und -ausstellungen als kreatives Handwerk des Wissens

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For quotation purposes:
Iliana Paskova: Die Dokumentarausstellungen – Spuren der Vergangenheit und Herausforderung der Gegenwart - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/7-11/7-11_paskova17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-03-22