TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 7.11. Dokumentarfilme und -ausstellungen als kreatives Handwerk des Wissens
Sektionsleiterin | Section Chair: Antoaneta Tcholakova (Wien)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Dokumentarfilme und -ausstellungen
als kreatives Handwerk des Wissens

Antoaneta Tcholakova (Bulgarisches Forschungsinstitut in Österreich, Wien)

Email: a.tcholakova@utanet.at

 

In den letzten Jahren kann man einen Dokumentarfilm-Boom beobachten. Auf allen Fernsehkanälen laufen fast jeden Tag Dokumentationen – einige sind künstlerisch und journalistisch hochwertig, andere - einfach Doku-Soaps. Filme wie „Fahrenheit 9/11“ und „Bowling for Columbine“ von Michael Moore wurden zu Publikumserfolgen. Auch wenn man das Programm der Wiener Museen anschaut, wird man gleich merken, dass Dokumentarausstellungen längst ein Teil des kulturellen Lebens geworden sind. Es taucht immer wieder die Frage auf, wie weit diese Filme und Ausstellung wissenschaftlich vorbereitet sind und ob sie wirklich die Wahrheit widerspiegeln. Eine Diskussion mit Fachleuten aus den Archiven – Iliana Paskova, Bulgaisches Zentrales Staatsarchiv, Ljubomir Stratiev, Bulgarisches Nationales Filmarchiv und Alexander Hecht vom ORF Archiv, sowie auch aus der Wissenschaft und der Praxis – Svetoslav Ovcharov, Bulgarische Theater und Filmakademie, Barbara Wurm, und Oksana Sarkisova, Kulturwissenschftlerinnen, Peter Zawrel, Österreichisches Filmfonds, über diese Frage und auch über die Frage, wie die Dokumentationen, die die bildenden Künste mit dem Wissen verbinden und in einer zugänglichen Weise auf ein breiteres Publikum wirken, wird inhaltlich die Konferenz  „Wissenschaft, Kreativität und Transformation von Gesellschaften“ bereichern.

Als Historikerin sind die Dokumente für mich das wichtigste Basis für jede wissenschaftliche Forschung. Als Leiterin des Bulgarischen Forschungsinstituts in Österreich, wo jedes Jahr in Kooperation mit dem Bulgarischen Staatsarchiv Dokumentarausstellungen über verschiedene Themen aus der bulgarischen Geschichte veranstaltet werden, versuche ich der historischen Wahrheit immer treu zu bleiben. In der Praxis bleiben aber einige wichtigen Funktionen der Dokumentationen immer aktuell und diskutabel:

 

Der Dokumentarfilm

Das Wichtigste bei einem Dokumentarfilm ist das Dokument. Ein historischer Augenblick, eine Alltagsaufnahme, ein Landschaftsbild oder ein Gespräch. Im Gegensatz zu einer Inszenierung im Theater oder im Spielfilm soll das Dokument ein möglichst authentisches Abbild der Wirklichkeit sein, aber das alleine ergibt noch keinen eigenständigen Dokumentarfilm. Aus diesem Grunde zählen Dokumente und ihre nicht inhaltlich motivierte Aneinanderreihung (Wochenschauen, Nachrichten o.a.) gemeinhin nicht zu den Dokumentarfilmen.

Ein gelungener Dokumentarfilm ist das Resultat der Verbindung zwischen Kunst und Dokumenten, die mehr oder weniger subjektiv, suggestiv oder rein wissenschaftlich bewertet werden.

Kann ein Dokumentarfilm die Wirklichkeit abbilden, Wahrheit vermitteln, oder hat man bereits durch die Entscheidung, in einem bestimmten Moment auf den Auslöser der Kamera zu drücken, manipuliert? Wie nah ist ein Dokumentarfilm an der Wirklichkeit? Wie sehr spürt man die Filmemacher? Wie „benutzbar“ ist das Medium Dokumentarfilm für Propaganda und Agitation? Dass die Authentizität einen unerreichbaren Idealfall darstellt, war den meisten Filmemachern bereits frühzeitig klar. Die Diskussion darüber, ob ein Dokument die Wirklichkeit adäquat abbilden kann oder gar soll, führten noch in den 20er Jahren des 20. Jhs. die bedeutendsten Regisseure aller Zeiten Sergej Eisenstein und Dziga Wertow.

„Für mich ist es ziemlich egal, mit welchen Mitteln ein Film arbeitet, ob er ein Schauspielerfilm ist mit inszenierten Bildern oder ein Dokumentarfilm. In einem guten Film geht es um die Wahrheit, nicht um die Wirklichkeit.“ - Sergej Eisenstein, 1925.
Wertow meinte das Gegenteil: „ein Dokumentarfilm soll zunächst eine Abbildung der Wirklichkeit sein“.

Und noch Sergej Eisenstein: „Bloßes Abfilmen der Wirklichkeit allein offenbart noch keinesfalls die Wahrheit in der Wirklichkeit……..beim so genannten Dokumentarfilm der Manipulation Tür und Tor geöffnet sind.“

Sein Spielfilm „Oktober“ gilt vielen heute als propagandistischer Dokumentarfilm – obwohl er mit Schauspielern teilweise in Kulissen inszeniert. Eisenstein wollte authentische Bilder liefern, Geschichte nachstellen. Als Regisseur hatte er Erfolg - noch heute werden die Bilder aus diesem Film in vielen ernsthaften Publikationen zur Geschichte der Oktoberrevolution (unwissentlich) als 'Dokumente' verwendet.

Die 'Kreativität' der Filmemacher besteht in der Verwendung von filmischen Mitteln wie Montage, Bildkomposition, Auslassungen, Dramatisierung oder Gliederung.

Man unterscheidet nach der Art der Verwendung der Dokumente die folgenden Gruppen von Dokumentarfilmen: die beschreibenden Dokumentarfilme (die Dokumente sind inhaltlich und dramaturgisch angeordnet), die Agitpropfilme (arbeiten immer noch mit 'konventionellen Dokumenten' - Nachrichtenbilder, Interviews, historische Dokumente, Alltagsszenen etc., mit der eindeutigen Absicht, die Zuschauer aufzuklären oder vom eigenen Standpunkt zu überzeugen) und die Essayfilme (stellen eine Fortentwicklung des rein abbildenden Dokuments und der analysierenden Beschreibung dar, und wollen nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern lassen Bilder im Kopf der Zuschauer entstehen). Ein Essayfilm hat zwar meistens ein Thema und verwendet manchmal 'konventionelle' Dokumente (Filmausschnitte, Gesprächsfetzen, Landschaftsaufnahmen, Fotografien o.a.), aber er hat nicht mehr den themenorientierten Duktus eines Faktenfilms oder einer Beschreibung. Er ist subjektiv und möchte Gedanken und Gefühle visualisieren.

Dokumentationen als Resultat von subjektiv verwendeten Dokumenten oder von neu präsentierten Forschungsergebnissen können sehr oft heiße Diskussionen in der breiten Öffentlichkeit entflammen. Ein solcher Beispiel ist das Doku-Filmessay „Fahrenheit 9/11“, 2004 von Michael Moor, das von Millionen von Zuschauern in Europa und Amerika gesehen wurde. Das Echo nach der Film war unerwartet (oder doch erwartet!) groß, die Meinungen sind stark auseinander gegangen. Einige sahen in ihm einen Film, der viel Information über die Hintergründe des Irak-Krieges und die Bush-Politik lieferte. Für andere war er eine reine Inszenierung, zu großen Teilen Propaganda, Moore wurde oft „Moneyman“ genannt. In den Medien, in Online-Zuschauerbriefe wurden kontroverse Meinungen geäußert, bis heute wird anlässlich des Films über den Unterschied zwischen Dokumentation und Propaganda polemisiert.

 

Dokumentarausstellungen

Viele Museen veranstalten neben ihren Dauerausstellungen auch themenbezogenen Wechselausstellungen in Kooperation mit anderen Museen oder wissenschaftlichen Institutionen, die mit einem Begleitprogramm von Vorträgen, Ausstellungsführungen und Lesungen verbunden sind. Es werden gezielte Rahmenprogramme für Kinder, Jugendliche und Familien entwickelt, die die Erziehungsrolle der Dokumentationen in den Vordergrund stellen. Zu jeder großer Ausstellung werden Kataloge mit Beiträgen von auf dem Gebiet namhaften Wissenschaftlern erstellt.

Die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944“ ist ein  Beispiel für die vielseitige Rolle, die eine Dokumentarausstellung in der Gesellschaft spielen kann. Die Ausstellung war Bestandteil eines umfangreichen Forschungsprojekts »Angesichts unseres Jahrhunderts. Gewalt und Destruktivität im Zivilisationsprozess« des Hamburger Instituts für Sozialforschung, und kann wirklich als ein kreatives Werkzeug des Wissens betrachtet werden. Das ganze Projekt sollte mit unterschiedlichen Mitteln — zwei Ausstellungen, zahlreichen Vorträgen, Lesungen, Konferenzen, Podiumsdiskussionen und wissenschaftlichen Publikationen einen Blick auf das 20. Jahrhundert als einem Jahrhundert bisher ungekannter Destruktivität bieten.(1)

Als die Ausstellung zum ersten Mal in Hamburg 1995 eröffnet wurde, rechneten die Veranstalter aber nicht damit, dass sie in den nächsten vier Jahren in insgesamt 33 deutschen und österreichischen Städten mit mehr als 800.000 Besuchern zu sehen sein würde.

Im wissenschaftlichen Beirat der Ausstellung saßen Prof. Dr. Hans Mommsen (Beiratsvorsitzender) und eine Reihe von Historikern aus der Universitäten von Frankfurt, Athen, Glasgow, London, Freiburg, Bielefeld, Oldenburg, Max-Plank Institut für Geschichte, Göttingen, Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg. Der Künstler Andre Heller war der Autor des Gestaltungskonzepts. Dieses Team sicherte eine Dokumentarausstellung, die auf den Resultaten der wissenschaftlichen Forschung zusammengestellt wurde und durch der Verwendung von verschiedenen Medien einen starken Druck auf den Besuchern ausübte. Die These der Ausstellung, die Wehrmacht sei an der Planung und Durchführung eines Vernichtungskrieges gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung beteiligt gewesen, gilt in der historischen Forschung inzwischen als nahezu unstrittig. Die Resonanz in der breiten Öffentlichkeit zeigte hingegen, dass das Bild der „sauberen Wehrmacht“ auch 50 Jahre nach Kriegsende in Teilen der deutschen Gesellschaft immer noch verwurzelt war.

Die Ausstellung erreichte aber etwas Wichtiges – eine umfangreiche Diskussion über die Problematik der Rolle der Wehrmacht, die tief die breite deutsche Öffentlichkeit eingriff. Sie bekam während der vierjährigen Laufzeit viel Zustimmung und öffentliche Anerkennung. In allen diesen Jahren aber war die Ausstellung auch von viel Kritik und massiven Protesten begleitet. Spätestens mit ihrer Präsentation in München 1997 war sie zum Politikum geworden. Am 13. März 1997 debattierte der Deutschen Bundestag darüber, sie war Anlass für zahlreiche Landtagsdebatten.

Im Oktober 1999 spitzte sich die Debatte über die Ausstellung erneut zu. Nach den Forschungsergebnissen einiger Historiker sollten mehrere Fotos falsch zugeordnet seien. Auf ihnen seien keine jüdischen Pogromopfer, sondern Ermordete des sowjetischen Geheimdienstes NKWD zu sehen.(2) Die Reaktion auf diese Kritik erreichte in der Öffentlichkeit ein Ausmaß, die zu einem Glaubwürdigkeitsverlust des Instituts und der Gesamtaussage der Ausstellung zu führen drohte. Die Reaktion seitens des Hamburger Instituts für Sozialforschung war so, wie es von einer wissenschaftlichen Institution, dessen Ziel die historische Wahrheit ist, erwartet würde - am 4. November 1999 stellte Jan Philipp Reemtsma, Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die Ausstellung unter ein Moratorium und berief eine Historikerkommission ein, die die Ausstellung überprüfen sollte. Mitglieder der Kommission waren: Prof. Dr. Omer Bartov, Dr. Cornelia Brink, Prof. Dr. Gerhard Hirschfeld, Prof. Dr. Friedrich Kahlenberg, Prof. Dr. Manfred Messerschmidt, Prof. Dr. Reinhard Rürup, Dr. Christian Streit und Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer.

Am 15. November 2000 präsentierte die Kommission ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit. Die Ausstellung enthalte »1. sachliche Fehler, 2. Ungenauigkeiten und Flüchtigkeiten bei der Verwendung des Materials und 3. vor allem durch die Art der Präsentation allzu pauschale und suggestive Aussagen«, es seien jedoch »keine Fälschungen im Sinne der leitenden Fragestellungen und Thesen« festzustellen. Die Kommission empfahl »die Ausstellung in einer gründlich überarbeiteten, ggf. auch neu zu gestaltenden Form weiter zu präsentieren«. Zitiert vom Bericht der Kommission: „Die Ausstellung war, wie die öffentlichen Auseinandersetzungen gezeigt haben, sinnvoll und nötig. Sie kann auch in den kommenden Jahren – in einer Fassung, die der Kritik, neueren Forschungsergebnissen und den die Ausstellung begleitenden Diskussionen Rechnung trägt – einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der historisch-politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland leisten.“(3)

Am 23. November 2000 stellte Jan Philipp Reemtsma die Prinzipien der Neukonzeption der zweiten Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941—1944« vor und erklärte, dass die erste Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt werde.

In Wien wurde die neue Fassung der Ausstellung im April-Mai 2002 in Zusammenarbeit des Hamburger Instituts für Sozialforschung mit der Akademie der bildenden Künste Wien präsentiert. Sie wurde von einer Reihe wissenschaftlichen Veranstaltungen begleitet: 13 thematische Rundgänge mit Historikern, eine Diskussion: „Die umkämpfte Gegenwart. Zur geschichtspolitischen Rolle der Wehrmachtausstellung (Doran Rabinovici – Schriftsteller und Historiker, Haidemarie Uhl – ÖAW, Günther Jacob – Publizist, Hamburg); 1 Symposium mit zwei Hauptthemen: 1. Die Rolle der Wehrmacht vor dem Hintergrund des historischen, politischen und militärischen Wandels von Kriegsgeschehen und Kriegspräsentation (Gerhard Bötz – Historiker, Wien; Walter Manoschek – Historiker, Wien; Gernot Albrecht – Brigadier-General, Wien u.a.) und 2. Mediale Konstruktion von Erinnerung als gesellschaftliche Verarbeitung von Krieg – zur Analyse vor allem populärkultureller Darstellungsformen in Film, Photographie, Literatur und TV (Andreas Robnik – Filmwissenschaftler, Wien; Klaus Amann – Literaturwissenschaftler, Klagenfurt u.a.).

Im Begleitprogramm wurden auch spezielle Führungen für Schulklassen „in denen die aktive Teilnahme seitens der SchülerInnen einen wichtigen Bestandteil des Ausstellungsbesuches darstellt“ vorgesehen. Es wurde explizit empfohlen, dass „Jugendliche unter 15 Jahren die Ausstellung nur mit einem pädagogischen Programm besuchen sollten.“(4)

Die Verantwortung der Dokumentationsmacher gegenüber der Gesellschaft war, ist und bleibt sehr groß. Sehr oft stehen diese Schaffende vor der Wahl ihre Arbeit als Propagandamittel oder als ein kreatives Werkzeug des Wissens für die gesellschaftliche Transformation zu nutzen. Das Publikum soll aber kritisch diese kreative Verbindung zwischen Wissen und Kunst beobachten und beurteilen.

 


Anmerkungen:

Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944, Begleitbroschüre zur Ausstellung. Hamburg 2001.
Ibidem, S. 34
Ibidem, S. 36.
Programm der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944. 9.4.-26.5.2002 in Wien.

7.11. Dokumentarfilme und -ausstellungen als kreatives Handwerk des Wissens

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For quotation purposes:
Antoaneta Tcholakova: Dokumentarfilme und -ausstellungen als kreatives Handwerk des Wissens - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/7-11/7-11_tcholakova17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-03-22