Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Februar 2010 |
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Sektion 7.2. |
Zeit, Verlauf und Bestimmung Sektionsleiter | Section Chair: Arnold Groh (TU Berlin, Deutschland) |
Antizipation, Segmentierung von Geschehen und Dauerschätzung
Stephanie Kelter (Technische Universität Berlin) [BIO]
Email: kelter@mailbox.tu-berlin.de
1. Einleitung
Durch unsere Wahrnehmung leben wir in der Gegenwart, aber im Geiste leben wir zugleich auch immer ein wenig in der Zukunft. Wenn wir ein Problem durchdenken, wenn wir eine Entscheidung treffen oder wenn wir eine Handlung beginnen – immer bedenken wir dabei die Konsequenzen, die in der Zukunft liegen. Darüberhinaus machen wir im täglichen Leben fortwährend unbewusst Vorhersagen, die uns – wenn wir sie uns bewusst machen – sehr banal erscheinen. Wenn wir eine Flasche hochheben, antizipieren wir das ungefähre Gewicht. Wenn wir sehen, dass jemand ein belegtes Brötchen zum Mund führt und davon abbeißt, erwarten wir, dass er nun kauen und schlucken wird. Wenn wir einen Ball auf das Tor zufliegen sehen, erwarten wir, dass er irgendwo in der Nähe des Tors landen wird und nicht plötzlich abbiegt und nach oben davonfliegt. Im Folgenden soll zunächst die kognitive Grundlage solcher „banaler“ Antizipationen bei Wahrnehmung und Handlung erörtert werden und dann ihre Bedeutung für die Zeitkognition genauer beleuchtet werden.
2. Die kognitive Basis von Antizipation
Antizipation kann auf zweierlei Weise erfolgen. Zum einen kann die Veränderung der Situation eine Regelmäßigkeit aufweisen, die eine Extrapolation erlaubt. Die Regelmäßigkeit mag beispielsweise darin bestehen, dass zwei Lichter abwechselnd aufblitzen, dass sich ein Objekt gleichmäßig auf einem gradlinigen oder gebogenen Pfad fortbewegt oder dass eine abgegrenzte Fläche kontinuierlich schrumpft. Wie zahlreiche Untersuchungen zum sogenannten Representational Momentum gezeigt haben, antizipieren Menschen bei solchen wahrnehmungsmäßig gegebenen Regelmäßigkeiten den Fortgang des Geschehens entsprechend der betreffenden Regelmäßigkeit (vgl. die Übersichten von Schütz-Bosbach & Prinz, 2007, und Thornton & Hubbard, 2002). Zum anderen kann Antizipation auf Erfahrungen basieren. Zwar wiederholt sich ein Geschehen praktisch nie in exakt derselben Form, aber im Laufe des Lebens haben wir den einen oder anderen Geschehensabschnitt in ähnlicher Art schon mehrfach erlebt und somit Wissen darüber erworben, wie ein solcher Geschehensabschnitt typischerweise abläuft. Wir wollen eine solche Wissensstruktur als ein Ereigniskonzept bezeichnen (vgl. event schema bei Zacks, Speer, Swallow, Braver & Reynolds, 2007). Bei der Wahrnehmung eines Geschehens wird automatisch konzeptuelles Wissen aktiviert, und wenn das Wahrgenommene hinreichend gut mit dem Beginn eines Ereignisses, für das ein Konzept erworben wurde, übereinstimmt, kann der Fortgang des Geschehens entsprechend diesem konzeptuellen Wissen antizipiert werden. Wenn wir beispielsweise beobachten, dass jemand ein belegtes Brötchen zum Mund führt und davon abbeißt, dann erwarten aufgrund unseres Ereigniskonzepts ein_Brötchen _essen, dass die Person nun kauen und schlucken wird.
Die meisten Ereigniskonzepte werden in der frühen Kindheit erworben. Aber auch danach erwerben wir noch laufend neue Ereigniskonzepte. Wir lernen beispielsweise Geschehensabläufe bei Sportarten, mit denen wir uns zuvor nicht beschäftigt haben (z.B. das Ereignis Segel_setzen oder Pferd_satteln), oder Geschehensabläufe, die sich aufgrund neuer technischer Möglichkeiten ergeben (z.B. etwas_bei_eBay_versteigern). Auch bei Reisen in fremde Länder erwerben wir u.U. neue Ereigniskonzepte, beispielsweise Wissen darüber, wie in dieser Kultur ein Besuch bei Freunden abläuft, wie man etwas auf dem Markt einkauft oder wie sich eine Mahlzeit vollzieht.
Was verändert sich bei dem Erwerb eines Ereigniskonzepts? Betrachten wir als Beispiel das Ereignis Segel_setzen. Wenn man zum ersten Mal an einem Segeltörn teilnimmt, hat man Schwierigkeiten zu erkennen, welche der vielen Geschehenselemente, die gleichzeitig und nacheinander auf der Yacht stattfinden, zum Segel-Setzen gehören. Erst nach und nach lernt man, welche Geschehenselemente dazu gehören und wie deren zeitliche Abfolge ist. Zunächst werden jeweils einige zeitlich benachbarte Teilstücke (z.B. die Handgriffe, die zum Fall-Anschlagen gehören) mental zusammengefasst, und diese Chunks werden dann mit zunehmender Erfahrung ihrerseits wiederum mental miteinander verbunden. Am Ende des Törns wird das komplette Ereignis Segel_setzen als ein zusammenhängendes „zeitliches Objekt“ repräsentiert. Zunehmende Erfahrung mit einem Geschehen – der Erwerb eines Ereigniskonzepts – führt also dazu, dass ein Geschehen nicht mehr als eine Folge von separaten Einzelabschnitten repräsentiert wird, sondern als ein zusammenhängendes Ganzes. Empirische Befunde bestätigen dies. So fanden beispielsweise Boltz, Kupperman und Dunne (1998), dass Probanden die Anzahl von Schritten, aus denen eine Tätigkeit bestand (z.B. Modellauto aus Teilen zusammensetzen), mit zunehmender Routine für immer geringer gehalten wurde.
Selbstverständlich geht bei dem Erwerb eines Ereigniskonzepts das Wissen über die einzelnen Teilschritte nicht verloren. Falls es die Aufgabenstellung verlangt, kann also anstelle eines zusammenhängenden Ereignisses eine Sequenz von Teilereignissen mental repräsentiert werden (z.B. anstelle von Segel_setzen: das_Fall_anschlagen, mit_dem_ Schiff_in_den_Wind_gehen, Vorheißen usw.). Aber wie Vallacher und Wegner (1987) überzeugend dargelegt haben, besteht im Allgemeinen die Tendenz, ein Geschehen auf einer möglichst hohen, integrativen Ebene zu repräsentieren.
3. Antizipation während der Wahrnehmung von Geschehen
In den letzten Jahren wurde in zahlreichen Untersuchungen aufgezeigt, dass Menschen den kontinuierlichen Fluss des Geschehens mental segmentieren, d.h. in aufeinanderfolgende Abschnitte gliedern. Dabei spielt Antizipation eine entscheidende Rolle (vgl. Zacks et al., 2007): Wenn bei einem Geschehen erkannt wird, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um dem Beginn eines bestimmten Ereignisses handelt (z.B. ein_ Brötchen_essen), wird der Fortgang des Geschehens entsprechend dem konzeptuellen Wissen antizipiert und alles Folgende, was dem Antizipierten hinreichend gut entspricht, wird als Fortsetzung des Segments angesehen. Eine Segmentgrenze wird dort wahrgenommen, wo keine weitere Antizipation mehr möglich ist, weil das Ende des Ereignisses erreicht ist (z.B. weil das Brötchen aufgegessen ist) oder weil etwas geschieht, was deutlich von dem Antizipierten abweicht (z.B. das Brötchen wird mit den Fingern in winzige Stücke zerlegt). Je nachdem was dann geschieht (und über welche Ereigniskonzepte der Mensch verfügt), kann kurz danach oder aber erst später der Beginn eines neuen Ereignisses identifiziert und somit eine neue Antizipationsphase eingeleitet werden (d.h. der Beginn eines neuen Segments registriert werden). Bei der Wahrnehmung eines Geschehens wechseln also immer Antizipationsphasen mit Phasen ab, in denen nicht antizipiert werden kann.
Bei einem völlig neuartigen Geschehen kann kaum oder nur über sehr kurze Strecken hinweg antizipiert werden. Wenn hingegen das Geschehen überwiegend aus vertrauten Ereignissen besteht, dann sind die Antizipationsphasen länger, und die Stellen, an denen nicht antizipiert werden kann, sind im Wesentlichen nur noch die Stellen, an denen ein (vertrautes) Ereignis endet und ein neues beginnt. Die Möglichkeit, über einen längeren zeitlichen Abschnitt hinweg antizipieren zu können, ist natürlich im Hinblick auf Handlungsplanung von Vorteil. Es bleibt Zeit, sich auf Zukünftiges einzurichten und gegebenenfalls durch eigenes Tun noch in das Geschehen einzugreifen. Aber es gibt noch einen weiteren Vorteil: Antizipation ist kognitiv entlastend. Während der Zeit, in der der Fortgang des Geschehens antizipiert werden kann, braucht nicht auf jedes Detail dieses Geschehens geachtet zu werden; das Geschehen muss lediglich „überwacht“ werden, um gegebenenfalls Abweichungen vom Antizipierten zu registrieren. Erst an den Stellen, an denen nicht gut antizipiert werden kann, weil das Segment zu Ende ist, muss die Aufmerksamkeit auf das Geschehen gerichtet werden. Bei einem neuartigen Geschehen muss hingegen fortwährend die Aufmerksamkeit auf das Geschehen gerichtet werden. All dies ist uns aus dem Alltagsleben wohlbekannt. Sind wir mit einem Geschehen noch nicht so vertraut, verfolgen wir es aufmerksam, um herauszufinden, „was da eigentlich passiert“. Mit zunehmender Vertrautheit können wir hingegen unsere Aufmerksamkeit zeitweise von dem Geschehen lösen und uns beispielsweise auf ein anderes gleichzeitig stattfindendes Geschehen konzentrieren (z.B. auf die Unterhaltung mit jemandem) oder uns gedanklich mit ganz anderen Dingen beschäftigen (siehe auch Wood, Quinn & Kashy, 2002).
Dass diejenigen Abschnitte eines Geschehens, an denen die Antizipierbarkeit gering ist, besonders aufmerksam verfolgt werden, ist durch neurowissenschaftliche Befunde gut belegt (vgl. die Übersicht bei Kurby & Zacks, 2008). So stellten beispielsweise Zacks et al. (2001) fest, dass kurz vor, während und nach einer antizipierbaren Segmentgrenze die neurale Aktivität in Hirnregionen erhöht ist, die bei der räumlichen Aufmerksamkeitssteuerung und Bewegungswahrnehmung mitwirken (frontale Augenfelder, Area MT). Indirekte Evidenz dafür liefern auch Befunde aus behavioralen Untersuchungen, die zeigen, dass das Geschehen an den Segmentgrenzen besonders gut im Gedächtnis behalten wird (Boltz, 1992; Newtson & Engquist, 1976; Swallow, Zacks & Abrams, 2009) und dass umgekehrt oft nicht mehr erinnert wird, wie ein Geschehenselement innerhalb eines Segments genau aussah, sofern er nur gut zu dem Ereigniskonzept passte (Ferrari, Didierjean, & Marmèche, 2006).
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass bei der Wahrnehmung von Geschehen Antizipation eine wesentliche Rolle spielt. Sie bestimmt, wie das wahrgenommene Geschehen mental segmentiert wird und welche Geschehensabschnitte besonders beachtet werden. Dadurch beeinflusst sie auch, welche Teilstücke eines Geschehens gut und welche weniger gut behalten werden.
Ein Schwerpunkt der psychologischen Forschung zu Zeit sind seit jeher Dauerschätzungen. Bei dieser Forschung hat man bisher kaum Notiz von der Forschung zur Antizipation und Segmentierung genommen. Doch meines Erachtens lassen sich die beiden Forschungsbereiche sehr gut miteinander verbinden. Dies soll im Folgenden aufgezeigt werden.
4. Schätzung der Dauer eines Geschehens
Gewöhnlich denkt man nicht an das Verstreichen der Zeit, während man etwas erlebt. Wird man später gefragt, wie lange das Geschehen gedauert hat, hat man keine Antwort parat (sofern man nicht zufällig auf die Uhr geschaut hat). Man versucht dann, aufgrund dessen, was man von dem Geschehen erinnert, die Dauer zu schätzen. In der Psychologie werden solche Schätzungen als retrospektive Dauerschätzungen bezeichnet. Viele Forscher vermuten, dass für retrospektive Dauerschätzungen die Struktur des Geschehens von ausschlaggebender Bedeutung ist. In dem bekanntesten Modell, dem Contextual Change Model von Block (1985, vgl. auch Zakay & Block, 2004), wird angenommen, dass die Dauer eines Geschehens retrospektiv umso länger geschätzt wird je mehr Kontextwechsel erinnert werden. Als Kontextwechsel gelten beispielsweise Wechsel der Aufgabenstellung und der räumlichen Umgebung. Zahlreiche Befunde bestätigen, dass ein Geschehen, bei dem solche Wechsel stattfanden, retrospektiv für länger eingeschätzt wird als ein objektiv gleich lang dauerndes Geschehen, bei dem es solche Wechsel nicht gab (vgl. Block & Zakay, 1997; Zakay & Block, 2004). Kontextwechsel sind typischerweise nicht-gut antizipierbar Stellen in einem Geschehen. Letztere werden, wie zuvor dargelegt, bei der Wahrnehmung eines Geschehens besonders beachtet und deshalb auch besonders gut im Gedächtnis behalten. Es stellt sich also die Frage, ob die entscheidende Variable vielleicht gar nicht die Anzahl von Kontextwechseln ist, sondern vielmehr die Anzahl von nicht-antizipierbaren Stellen im Geschehen. Aufschluss darüber kann ein Vergleich des Effekts von nicht-antizipierbaren Kontextwechseln mit dem Effekt von antizipierbaren Kontextwechseln geben. Die Ergebnisse eines Experiments von Avni-Babad und Ritov (2003) sprechen eindeutig dafür, dass tatsächlich die mangelnde Antizipierbarkeit die entscheidende Variable ist. Die Dauer eines Geschehens mit nicht-antizipierbaren Wechseln wurde retrospektiv als länger eingeschätzt als die Dauer eines Geschehens mit derselben Zahl von Wechseln, die aber antizipierbar waren.
Im Unterschied zum Contextual-Change Modell erlaubt unser Theorieansatz zudem Vorhersagen darüber, wie sich zunehmende Vertrautheit mit einem Geschehen auf die Dauerschätzung auswirkt. Wie in Abschnitt 3 dargelegt wurde, ist anzunehmen, dass mit zunehmender Vertrautheit eines Geschehens die Antizipationsphasen immer länger werden. Die Zahl der nicht-antizipierbaren Stellen wird also geringer, und demnach ist zu erwarten, dass die Dauer des Geschehens zunehmend kürzer geschätzt wird. Empirische Befunde entsprechen dieser Erwartung. So berichteten beispielsweise Boltz et al. (1998), dass Probanden, die eine bestimmte Handlung zum ersten Mal durchführten (z.B. ein Modellauto aus Teilen zusammensetzen), die Dauer der Handlung retrospektiv überschätzten, während Probanden, die diese Handlung mehrfach durchgeführt hatten, die Dauer unterschätzten. Avni-Babad und Ritov (2003) fanden, dass bei einer längeren, zunächst noch unvertrauten Tätigkeit der erste Teil von drei objektiv gleich langen Teilen retrospektiv für am längsten dauernd gehalten wurde und der letzte Teil für am wenigsten lange dauernd. Des Weiteren berichteten diese Forscher, dass Personen, die oft mit dem Flugzeug reisen, die Dauer eine Flugreise retrospektiv kürzer einschätzten als Personen, die selten mit dem Flugzeug reisen. Schließlich bestätigten Forscher auch ein Phänomen, das uns wohl allen bekannt ist, nämlich dass ein Tag, an dem man lediglich seiner gewohnten Arbeit nachgegangen ist, nachträglich viel kürzer erscheint als ein Tag, an dem man eine andere Arbeit als die übliche getan hat.
Abschließend sei angemerkt, dass im Rahmen unseres theoretischen Ansatzes noch eine gänzlich andere Erklärung für die Befunde zu retrospektiven Dauerschätzungen möglich ist. Es ist denkbar, dass Menschen tatsächlich die Dauer jedes Segments, das sie noch erinnern, zu schätzen versuchen (z.B. auf Basis ihres konzeptuellen Ereigniswissens) und dann diese Einzelschätzungen addieren, um auf eine Schätzung der Gesamtdauer zu kommen. Da die subjektive Dauer von Geschehen eine negativ beschleunigte Funktion der objektiven Dauer ist (Eisler, 1976; Hemmes, Brown, & Kladopoulos, 2004; siehe auch die Annahme von Rammsayer & Ulrich, 2001, zur Zeitpuls-Frequenz), führt diese Strategie tendenziell dazu, dass ein Geschehen, das objektiv die Dauer D hat, für umso länger geschätzt wird, je mehr Segmente es beinhaltet (vorausgesetzt, die Segmente sind jeweils etwa gleich groß; wenn die Segmente unterschiedlich groß sind, kommt es auf die spezielle Verteilung der Segmentdauern an). In ähnlicher Weise lassen sich Befunde zur Schätzung der Länge eines Weges deuten, die zeigen, dass ein Weg, der durch Landmarken in viele Segmente unterteilt ist, für länger gehalten wird als ein Weg, der in wenige Segmente unterteilt ist (Jansen-Osmann & Berendt, 2005; Sadalla & Magel, 1980).
Auch wenn wir gewöhnlich während eines Geschehens nicht an das Verstreichen der Zeit denken, so kommt dies doch hin und wieder vor. In der Psychologie hat man zahlreiche Untersuchungen durchgeführt, in denen man den Probanden vor einem Geschehen mitteilte, dass sie nach dem Geschehen dessen Dauer schätzen sollten. Solche Dauerschätzungen werden als prospektive Dauerschätzungen bezeichnet. Es ist plausibel anzunehmen, dass die Probanden bei einer solchen Aufgabenstellung schon während des Geschehens ihr Augenmerk auf das Verstreichen der Zeit richten und dann nachfolgend bei ihrer Dauerschätzung auf diese während des Geschehens gesammelte zeitbezogene Information zurückgreifen. Natürlich können die Probanden während des Geschehens ihre Aufmerksamkeit nur insoweit auf das Verstreichen der Zeit richten, als das Geschehen selbst nicht ihre volle Aufmerksamkeit beansprucht. Diese Überlegungen entsprechen den Kernannahmen des Attentional Gate Model (Block & Zakay, 1996), das heute das anerkannteste Modell für prospektive Dauerschätzungen ist. Nach diesem Modell werden intern fortwährend regelmäßig Zeitpulse generiert, die aber nur während der Zeit, während der die Aufmerksamkeit auf das Verstreichen der Zeit gerichtet wird, mental registriert und aufaddiert werden. Wenn also während des Geschehens über weite Strecken hinweg die Aufmerksamkeit nicht auf die Zeit, sondern auf das Geschehen selbst oder andere kognitive Tätigkeiten gerichtet werden muss, so ist die Zahl der aufaddierten Zeitpulse am Ende geringer als wenn während des Geschehens die Aufmerksamkeit sich überwiegend auf das Verstreichen der Zeit richten konnte. Entsprechend wird im ersten Fall die Dauer des Geschehens kürzer geschätzt als im zweiten Fall. Zahlreiche Befunde bestätigen dieses Modell (für Übersichten vgl. Block & Zakay, 1997, und Zakay & Block, 2004). Unser Theorieansatz ist gut mit diesem Modell zu vereinbaren. Danach ist zu erwarten, dass ein Geschehen, bei dem kaum oder nur für kurze Strecken antizipiert werden konnte und demnach wenig Aufmerksamkeit auf das Verstreichen der Zeit gerichtet werden konnte, prospektiv für kürzer dauernd gehalten wird als ein objektiv gleich langes Geschehen, bei dem über weite Strecken hinweg antizipiert werden konnte und somit die Aufmerksamkeit auf das Vergehen der Zeit gerichtet werden konnte. Kurz gesagt, nach dem Theorieansatz ist zu erwarten, dass Vertrautheit und Routine bei prospektiven Schätzungen genau den umgekehrten Effekt wie bei retrospektiven Schätzungen haben: Vertrautheit und Routine sollten dazu führen, dass ein Geschehen als länger dauernd empfunden wird. Ein Experiment von Avni-Babad und Ritov (2003, Experiment 3) bestätigt die gegenläufige Wirkung von Routine auf pro- und retrospektive Schätzungen. Im Übrigen ist uns der Effekt auch aus dem Alltagsleben wohlbekannt. Ein vertrautes Ereignis oder eine Routine-Tätigkeit scheinen sich endlos lange hinzuziehen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Zeit richten und uns nicht ablenken. Bei einem neuartigen Geschehen scheint die Zeit hingegen sehr schnell zu vergehen.
5. Resümee
In den vergangenen Jahren wurde in der Kognitiven Psychologie von zunehmend mehr Forschern hervorgehoben, dass das episodische Gedächtnis, Faktenwissen und konzeptuelles Wissen dazu dienen, zukünftiges Geschehen gedanklich antizipieren zu können (z.B. Barsalou, Breazeal & Smith, 2007; Suddendorf & Corballis, 2007). In dem vorliegenden Aufsatz haben wir uns mit dieser Funktion des konzeptuellen Ereigniswissens beschäftigt. Konzeptuelles Ereigniswissen ist eine Basis für die Antizipation des Fortgangs eines wahrgenommenen Geschehens. Es prägt damit, wie dieses Geschehen wahrgenommen wird. Die Antizipation – oder genauer gesagt: die Antizipierbarkeit – bestimmt unter anderem, wie ein Geschehen bei der Wahrnehmung mental segmentiert wird. Ein Abschnitt des Geschehens, während dessen der Fortgang des Geschehens durchgängig relativ gut antizipierbar ist, wird von dem Wahrnehmenden als ein zusammenhängendes Segment aufgefasst. Während eines solchen Abschnittes richtet sich die Aufmerksamkeit nur beiläufig auf das Geschehen. Geschehensabschnitte, die nicht gut antizipierbar sind, werden aufmerksamer verfolgt und somit tendenziell auch besser im Gedächtnis behalten.
Die Forschung zur Antizipation und Segmentierung bei der Wahrnehmung von Geschehen ist noch relativ jung. Aber wie im letzten Teil des Aufsatzes aufgezeigt wurde, ist schon jetzt zu erkennen, dass ihre Befunde von großem Wert für die Forschung zu Dauerschätzungen sein könnten. Eine Reihe von Untersuchungsergebnissen zu retrospektiven Dauerschätzungen lassen sich mit dem Konzept der Antizipierbarkeit weit besser erklären als mit dem traditionellen Contextual-Change-Modell. Zudem bietet die Forschung zur Antizipation und Segmentierung die Möglichkeit, retrospektive und prospektive Dauerschätzungen in einen gemeinsamen theoretischen Rahmen einzuordnen.
Literatur
7.2. Zeit, Verlauf und Bestimmung
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