Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Juni 2010 |
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Sektion 7.2. |
Zeit, Verlauf und Bestimmung Sektionsleiter | Section Chair: Arnold Groh (TU Berlin, Deutschland) |
Deutsch | English
Sektionsbericht 7.2.
Zeit, Verlauf und Bestimmung
Arnold Groh (TU Berlin) [BIO]
Email: arnold.groh@tu-berlin.de
Die Sitzung der Sektion fand am Sonntag, den 9. Dezember 2007 statt. Ziel der Sektionsarbeit war es, den Aspekt der Zeit in bezug auf die Prozeßhaftigkeit des Wissens, der Kreativität und der Transformationen von Gesellschaften aus jeweils disziplinenspezifischen Perspektiven herauszuarbeiten.
In seiner Einführung in das Thema hob der Sektionsleiter die grundsätzliche Zeitgebundenheit des Seins hervor, wobei er die Zeitkategorisierung in der Wahrnehmung mit der Augustinischen Dreiteilung verknüpfte und auf das Problem der Nichtexistenz hinwies, das sich aus dem Nicht-mehr-Sein der Vergangenheit, dem Noch-nicht-Sein der Zukunft und der Gegenwart ergibt, die auf der Zeitachse einen Punkt ohne Durchmesser darstellt. Während wir innerhalb unseres Aktionsradius Dinge hinsichtlich ihrer Position auf den Raumachsen manipulieren können, werden wir mit gegebener Geschwindigkeit über die Zeitachse bewegt – hieraus ergibt sich bereits ein Gottesbeweis im klassischen Sinne. Zugleich verweist der Umstand, eine Metaebene einnehmen und über die Zeit kommunizieren zu können, auf die Kognition, auf den menschlichen Geist als in gewisser Weise zeitungebundene Instanz.
Für den verhinderten Astrophysiker Erwin Sedlmayr (Technische Universität Berlin, Deutschland) war dankenswerterweise sein Kollege Hans-Eckhart Gumlich eingesprungen, um über Zeit in der Physik zu referieren. In diesem Beitrag wurden in historisch-chronologischer Weise die unterschiedlichen Konzeptbildungen von Newton über Einstein zu Heisenberg dargelegt. Die gegenwärtige Physik geht von einem Beginn der Zeit aus und konstatiert einen „Zeitpfeil“, eine nicht erklärbare Gerichtetheit der Zeit. Hinsichtlich der vorgegebenen Naturgesetze ist eine Nähe der Theoretischen und Astrophysik zu theologischen Perspektiven evident; Gott ist der Programmierer der Gesetzmäßigkeiten, des Raumes, der Zeit.
Die Überleitung zu dem Beitrag Manger’s Last Songs von Madeleine Cohen (Hampshire College, USA) ergab sich aus dem Titel der letzten, 1967 von Itzik Manger publizierten jiddischen Gedichtsammlung, Stern in Stoib, Stern(e) im Staub. Die Position in der Zeit ist ein zentrales Motiv dieser Gedichte, thematisiert in konkreter Anwendung – wenngleich in eher surrealer Umsetzung – auf die Ereignisse der Shoah und in Kontrastierung zu seinem ersten Gedichtband Stern oifn Dach, Stern(e) auf dem Dach, den der Dichter 1929 veröffentlicht hatte. Unter Rückgriff auf Mangers eigene theoretische Ausführungen, Erklärungen und Kommentare analysierte die Referentin anhand von Gedichtbeispielen Funktionen der verwendeten Symbolik.
Einen anderen Blickwinkel auf Texte, nämlich die Frage nach den Vorgängen in den Lesern bei der Rezeption von Beschreibungen zeitlicher Zusammenhänge, lieferte Stephanie Kelter (Technische Universität Berlin, Deutschland) mit ihrem Vortrag Kognitionspsychologische Befunde zur mentalen Repräsentation von Geschehen. Indem der Mensch zwischen Erinnerung und Wahrnehmung unterscheiden kann, ergibt sich ein Konzept von der Zeit, die in eine Richtung verläuft. Diese Erkenntnis wiederum läßt sich verlängern in die Antizipation, in die Erwartung des Künftigen. Mentale Prozesse dieser Art sind wesentlicher Bestandteil sowohl der gedanklichen Simulation von Ereignissen, als auch der Planung von Handlungen.
Die Gemeinsamkeit des soeben genannten mit dem folgenden Beitrag bestand in dem Rückgriff auf Textbeispiele. Während es im Rahmen europäischer Sprachen schon schwer genug ist, die kognitiven Prozesse zu verstehen, die der Verarbeitung von Plusquamperfekt, Futur II oder gar deren Verschachtelungen im Erzählfluß zugrunde liegen, geben uns – aus europäischer Perspektive – jene Sprachen erst recht Rätsel auf, die ohne das uns vertraute Schema von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auskommen. Hans-Friedemann Richter (Freie Universität Berlin, Deutschland) zeigte in seinem Beitrag Zeit in der althebräischen Sprache anhand des biblischen Hebräisch, wie dies dennoch präzise funktioniert.
Aber wie sieht der persönliche Umgang mit Zeit aus? Will man innerhalb einer bestimmten Frist möglichst viel oder möglichst wenig schaffen? Menschen empfinden offenbar Zeit als unterschiedlich „knapp“, oder aber sie planen in verschiedener Weise, und auch das Erreichen oder Nichterreichen eines Ziels, das man sich gesetzt hat, wird von Person zu Person anders erlebt. Um dieser Frage nachzugehen, haben Florian Klapproth und Yvonne Strack (Technische Universität Berlin, Deutschland) einen Fragebogen konstruiert, den sie in ihrem Beitrag Entwicklung eines Instruments zur Messung der Persönlichkeitsvariablen „Zeitnot“ vorstellten.
Auch in dem daran anschließenden Vortrag ging es um den Umgang mit Zeit. Arnold Groh (Technische Universität Berlin, Deutschland) stellte Eine kulturvergleichende Untersuchung der alltäglichen Zeiteinteilung vor. Es lagen Befragungen in Südostasien und in Westafrika zugrunde, bei denen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen gebeten worden waren, ihren Tagesablauf zu schildern. Es wurden zum einen Faktoren deutlich, die unterschiedliche Grade des Einflusses der Globalisierung widerspiegelten. Zum anderen zeigen sich auch im Vergleich der indigenen Gesellschaften starke Unterschiede insofern, als die postkoloniale Struktur einer Agrargesellschaft weitaus geringere Lebensqualität bietet als die einer Sammler- und Jägerkultur: Während in ersterer der größte Teil des Tages mit anstrengender Feldarbeit verbracht wird, wird in letzterer nur einen kleinen Teil des Tages für den Lebensunterhalt aufgewendet.
In dem abschließenden Vortrag von Reinhard Krüger (Universität Stuttgart, Deutschland) wurde ein Blick zurück in die Geschichte geworfen. Beeindruckend waren die Belege, die der Referent zu dem Verständnis von Unendlichkeit und Kosmos in Spätantike und Mittelalter präsentierte. Demzufolge sind die vermeintlichen Vorstellungen einer Weltscheibe mit Himmelsgewölbe Projektionen, die erst in der Neuzeit auf die vorangegangenen Epochen geworfen wurden. Die Kugelgestalt der Erde und sogar die Entfernung Erde-Sonne waren bereits in der Antike mit erstaunlicher Genauigkeit bekannt. Auch einige der angeblichen Ketzerverbrennungen, die erfolgt sein sollen, weil die betreffende Person „moderne“ Vorstellungen des Kosmos vertrat, gehören offensichtlich in das Reich der Legende.
Gerade die Interdisziplinarität der Betrachtungen lieferte den Sektionsteilnehmern Bereicherungen und Perspektiven, die innerhalb nur eines Faches nicht möglich sind, und gab Anlaß zu fruchtbarem Austausch.
7.2. Zeit, Verlauf und Bestimmung
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