TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 7.8. SeLandscapes in the context of societies / Landschaft im gesellschaftlichen Kontextktionstitel
Sektionsleiter | Section Chair: Helmut Pfanner (Lochau, Vorarlberg)

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Hinterpommern – eine Region zwischen zwei Nationen
in der deutschen und polnischen Nachkriegsliteratur

Joanna Flinik (Pommersche Akademie Slupsk/Polen) [BIO]

Email: jflinik@poczta.onet.pl

 

Hinterpommern ist eine Region, die zahlreichen historischen Prozessen und geographischen Veränderungen unterlag.  Nach 1945 wurde aus dem deutschen Hinterpommern das polnische Pomorze Zachodnie.  Nach langer Zeit der Tabuisierung der jüngsten Geschichte dieser Region wird die regionale Zugehörigkeit Hinterpommerns zu Polen zum Allgemeingut.  Einen entscheidenden Wendepunkt in der Normalisierung der deutsch-polnischen nachbarschaftlichen Beziehungen brachten die Verträge 1972 und endgültig die Anerkennung der Grenze 1990.

Der mentalitätsgeschichtliche Wandel vollzog sich auch in der Literatur beider Nationen, in der die Suche nach regionaler Identität und das Bedürfnis des Beheimatet-Seins ihren Ausdruck fanden.  Die deutsche und die polnische Literatur nach 1945 zeigen, dass das Interesse an der Wahrnehmung dieser regionalen Geschichte groß ist, und sie tragen zur Entstehung eines kulturellen Gedächtnisses bei, denn das deutsche Hinterpommern und das heutige polnische Pomorze sind ein Überschneidungsraum zwischen deutscher und polnischer Kultur und Geschichte. Diese gemeinsame historische Region bietet im Sinne des Schlagwortes „Europa der Regionen“ Möglichkeiten einer gemeinsamen Aufarbeitung historischer Kontroversen. Jürgen Joachimsthaler(1) bemerkt in seinem Aufsatz zur Geschichte der polnischen Germanistik, dass gerade die Regionalforschung besonders nach der Wende an Bedeutung gewinnt.  Historiker(2) und Literaturwissenschaftler(3) begreifen die deutsche Periode der Geschichte ihrer Heimat als Teil der Regionalgeschichte.  Zahlreiche Gesamtdarstellungen für einzelne Städte wie Elbing, Stettin, Stolp werden veröffentlicht.(4) Deutsch-polnische historiographische sowie literaturwissenschaftliche Forschungsprojekte, Kolloquien, Tagungen zum gemeinsamen historischen Erbe werden immer öfter organisiert.  Die Beziehungsgeschichte und Komparatistik liefern bedeutende Ansatzpunkte zur Erforschung der Region und stellten eine wissenschaftlich fundierte Alternative der politischen Diskussion und Abrechnung mit der Vergangenheit beiderseits.

Germanistische Institute in Polen widmen einen großen Teil ihrer Arbeit den deutschen Schriftstellern aus Pommern, Ostpreußen oder Schlesien.  Deutsche Präsenz und Kultur werden mit Interesse erforscht und enttabuisiert.  Der Anteil der deutschen Geschichte der jeweiligen Region wird nicht mehr bestritten, sondern die Spuren der Vergangenheit wiederentdeckt und wie „Depositum“(5) aufbewahrt.

 

Hinterpommern in der deutschen Literatur

Ausgehend von der Definition einer Region von Peter Schmitt-Egner,(6) darf festgehalten werden, dass Hinterpommern in der deutschen Literatur nach 1945 vor allem ein Raum war, der nahe zwischenmenschliche Beziehungen schuf und Geborgenheit gab sowie Paradies der Kindheit darstellte. Roswitha Wisniewski bemerkt, dass der Verlust der pommerschen Heimat dazu beigetragen hat, diese Region „literarisch aus dem Dunkel der Geschichte“(7) zu holen.

In erster Reihe waren es Erinnerungen an die Erlebnisse des Exodus. Tagebücher(8) und Vertreibungsberichte(9) unterschiedlicher literarischer Qualität waren emotionsbeladen und schilderten die Ereignisse oft weitgehend unreflektiert und subjektiv.  Die erste Phase des Pommern-Schrifttums hatte den Charakter einer „Erlebnis- und Bewältigungsliteratur“.(10)

In den 70er Jahren zeichnete sich eine Tendenz in der deutschen Nachkriegsliteratur ab, die Heimat literarisch zu rekonstruieren.  Viele Autoren der Kindheitserinnerungen reisten in dieser Zeit zum ersten Mal wieder in die alte „verlorene“ Heimat.   Die „neue Subjektivität“ beeinflusste die Pommern-Literatur der 70er und 80er Jahre und förderte einen „Authentizitäts-Boom“(11) in Form von autobiographisch gekennzeichneter, an einem bestimmten geographischen Ort orientierter Schreibweise.  Die frührer erlebte Region wurde literarisch wiederentdeckt, was Hubert Orlowski in seinen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen betont: „Die Topographie der faktisch verloren gegangenen Provinzen ist (fast) immer mit den literarisch wieder gewonnenen identisch“.(12)  Charakteristisch ist den Werken der deutliche räumliche Akzent, die Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation in der alten Heimat und Reflexion über gesellschaftlich-politisch-geschichtliche Zusammenhänge.

Die fiktive Prosa über Hinterpommern begreift die Region als ein kompliziertes historisch-geographisch-kulturelles Gebilde.  Den meisten Texten ist die Herkunft des Autors gemeinsam, der als ein aus seiner Heimat Vertriebener, mehr oder weniger geschichtliche Zusammenhänge erkennt und reflektiert, ohne in eine rückwärtsgewandte Nostalgie zu gelangen und verklärende Bilder zu entwerfen.

 

Hinterpommern – eine polnische Heimat

Die jüngste polnische Literatur will ihren Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der jeweiligen Region  leisten.  Olga Tokarczuk, Andrzej Zawada, Stefan Chwin, Pawel Huelle, Artur Daniel Liskowacki, Inga Iwasiow, Karol Maliszewski, Adam Poprawa, Antoni Matuszkiewicz, Kazimierz Brakoniecki sind nur einige Namen, die nach der Transformation und im Zusammenhang mit der Demokratisierung Polens ihren Augenmerk auf die deutsche Vergangenheit eigener Regionen werfen, um die eigene, private Heimat zu ergründen und somit die eigene Identität zu reflektieren.

Die kommunistische Parole von den „wieder gewonnenen Gebieten“, der Piastenmythos bestimmten polnisches Bewusstsein und erzeugten Spannung in der deutsch-polnischen Wahrnehmung der hinterpommerschen Region.  Darüber hinaus bedeutete die Übernahme der ehemaligen deutschen Provinz für die polnische Regierung und die Einzelmenschen eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Herausforderung mit weitgehenden psychologischen Folgen für die Neuansiedler, die, in eine fremde kulturelle Umgebung versetzt, von dem Gefühl der Entwurzelung, vom Verlust der Sicherheit in der vertrauten Umgebung ihrer Heimat begleitet waren.  In der ersten Generation der Zuzügler trafen unterschiedliche Haltungen, Ideologien, Erwartungen und Lebensstile zusammen. Die sich auf dem Gebiet des Pomorze neu konstruierende Gesellschaft war nicht imstande, ihre eigene ortsbezogene Identität zu bilden.  Die dominierende Einstellung basierte auf der semantischen Achse: das Fremde und das Eigene.

Die zweite Generation vermochte es nicht, an der Situation etwas zu ändern.  Sie betrachtete ihre Geburtsorte nicht als eine identitätsstiftende Heimat.  Die polnische Politik war bemüht, materielle und kulturelle Spuren der deutschen Anwesenheit in Hinterpommern zu verdrängen, zu zerstören oder zu verschweigen.  Es war nicht möglich, die Erarbeitung der regionalen Vorgeschichte einzusetzen und zu fordern: „Ihr befindet euch jetzt auf deutschem Boden und habt das Vermögen der Deutschen übernommen; kümmert euch nun darum, pflegt es und achtet es, bewahrt die deutsche Tradition, denn sie ist jetzt ein Teil von euch selbst geworden“.(13)  Es fehlte in der Öffentlichkeit die notwendige Auseinandersetzung und Reflexion dazu.  Die Politik benutzte Wissenschaft, Literatur und Film für die geschickte Begründung und manipulierte auf diese Weise mit der These von uralten polnischen Gebieten, auf welche die polnische Bevölkerung zurückkehrte.  In Bezug auf solche Verdrängungsmechanismen und Nationalisierungsinstrumente der kommunistischen Macht erschien die Aufarbeitung der deutschen Geschichte als störend und war lange Zeit gehemmt, so dass die zwangsumgesiedelte polnische Bevölkerung sich um ihre Integration und nicht um das vorgefundene Erbe kümmerte.

Der Prozess des Regionalbewusstseins und der Sensibilisierung für die Vergangenheit der eigenen Region, des eigenen Heimatortes setzte in späten 80er Jahren ein.(14)  Die Generation junger Menschen wollte sich von Tabus des kommunistischen Regimes befreien und benötigte dazu das stabile Identitätsgefühl.  Infolge der demokratischen Umwälzungen Polens, der Europäisierung vieler Lebensbereiche, konnte der Blick auf die nächste Umgebung erweitert werden.   Informationen über regionale deutsche, deutsch-polnische, deutsch-polnisch-kaschubische Vergangenheit lieferte die Literatur, sowie persönliche Kontakte.

Die heutigen Pomorze-Bewohner schaffen sich eine eigene pommersche Identität.  Sie leben nicht mehr wie ihre Eltern oder Großeltern vom Heimweh nach verlorener Heimat im Osten und lehnen die Haltung der vom Hass besessenen Sieger ab, die alles Deutsche zerstören, sondern suchen nach einem neuen kulturellen Sinn im Dialog mit der deutschen Geschichte der eigenen Region. Dieser Prozess scheint ein langer Weg zu sein, weil die Zerstörung regionalen Charakters Pommerns durch die kommunistische Macht diese Region zu einem „kulturellen Krüppel“ gemacht hat, dem ein Teil der regionalen Geschichte amputiert wurde.  Ein Danziger Schriftsteller Stefan Chwin vertritt der Meinung, dass die pommersche Landschaft ihre identitätsstiftende Rolle und ihr typisch pommersches Gepräge verloren hat, indem er in seinem Presseartikel konstatiert: „In Pommern also nirgendwo“.(15)

Für den Prozess des Selbstverständnisses und Ablehnung der bisherigen Wahrnehmung der Vergangenheit ist der Wunsch nach einer echten Verwurzelung und nach einem Regionalbewusstsein aufgrund historischer Identität bestimmend und maßgebend.  Wie soll man auf dem Gebiet leben, den man nicht kennt?Dieser Frage nachgehend, entwerfen polnische junge Autoren das literarische Bild der gemeinsamen Heimat.  Die polnischen Autoren, im Gegensatz zu den deutschen, haben ihre Bücher erst Ende der 80er und in den 90er Jahren veröffentlicht.  Das wichtigste Thema der Literatur sind die Jahre direkt nach 1945, eine Zeit der enormen Migrationsbewegungen als direkte Folge des Krieges und der Grenzverschiebungen infolge der Konferenzen in Jalta und Potsdam.

 

Hinterpommern als deutsch-polnischer Begegnungsraum

Hinterpommern als Land der deutsch-polnischen Beziehungen stellt meistens kein direkt thematisiertes und selbständiges Thema in der deutschen Literatur dar.  Im ländlichen Milieu Hinterpommerns sind die polnischen kurz erwähnten Gestalten in den Romanen von Erich Glahn Die Ehen des Elard Sobeck, Eva Maria Sartori Die Rheinhagens und Utta Danella Meine Freundin Ellaine Feldarbeiter oder Knechte.  Von den deutschen stereotypen Meinungen von untüchtigen Polen löst sich die Gestalt der polnischen Großmutter in Irina Korschunows Roman Malenka.  Der Gestalt werden positive, sogar moralische Werte zugeschrieben, die für die Titelheldin eine identitätsstiftende Funktion haben.  In der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges kommen die Polen als Zwangsarbeiter nach Hinterpommern.  Im Zusammenhang mit der Nazi-Ideologie gelten sie als „Untermenschen“.  Der Roman von Günter Frenz Wenn einer von uns zweifeln soll’… verweist auf eine Möglichkeit der deutsch-polnischen Annäherung während des Krieges in der hinterpommerschen Grenzregion Hinterpommerns, indem er „Hamsterkäufe“(16) der deutschen Bevölkerung bei ihren polnischen Nachbarn erwähnt.  Um ein genaues Bild dieser Zeiten bemühen sich unter anderem Ruth Rechenberg in ihrem Roman Stettiner Tagebuch und Erhard Groll im Roman Paninka oder die Wahlverwandschaften.  Das Zusammenleben Deutscher, Polen und Russen thematisiert auch Gerhard Korths Ehe der Märzwind die Spuren verweht.  Die Hauptheldin in Ruth Rechenbergs Roman lebt mit ihrer Familie in Stettin, als 1945 erste Polen dorthin kommen und sich ansiedeln.  Die anfangs misstrauische Haltung gegenüber einem jungen Polen, Feliks, verwandelt sich in eine Freundschaft.  Feliks ist ein sensibler Junge und kommt nach Stettin nach dem Krieg, um dort ein neues Leben zu beginnen.  Im Gegensatz zu Feliks werden andere Polen negativ beschrieben, denn sie klauen und bereichern sich.  Erhard Groll stellt in seinem Roman das dramatische Leben der Deutschen in Stolp zuerst unter den Russen, und dann unter den eingesiedelten Polen.  Es wird zwar in dem Roman bemerkt, dass die angekommenen Polen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, doch der Autor schenkt sein Augenmerk vor allem dem deutschen Leid.  Die Entscheidung vieler Pommern, in der Heimat zu bleiben, als die Front näher rückte oder direkt nach dem Krieg, resultiert vorwiegend daraus, dass sie sich als Pommern mehr ihrer Heimat verbunden fühlten, als dass sie ein gesamtdeutsches nationales Bewusstsein besaßen.  Sie scheuten nicht unter Fremden und Feinden zu leben, in einem fremden Land, das polnisch wurde, weil sie überzeugt waren, dass sie ihr Pommern-Sein erhalten können.  Der Vater der Ich-Erzählerin in R. Rechenbergs Roman beharrt darauf, in seiner Heimatstadt zu bleiben, weil er überzeugt war, dass das Leben seinen normalen Gang nimmt.(17)  Für ihn war Stettin seine Heimat „und damit basta“,(18) obwohl er da lediglich eine bescheidene durch Hunger und Not erschütterte Existenz führen konnte.

Die Öffnung der Grenzen ermöglichte die Begegnung mit polnischen Bewohnern von Pomorze.  In der fiktiven Literatur findet dieses Thema fast kein Interesse.  Nur wenige Pommern-Romane setzen die Handlung der Romane in die Realität des heutigen Pomorze(19) fort.  Die meisten literarischen Gestalten besuchen nur kurz ihren Heimatort.(20)  Dieser Besuch hat jedoch keinen Einfluss auf die Romanhandlung.  Pomorze als ein Raum der deutsch-polnischer Begegnung wird vor allem in der Erinnerungsprosa und Reiseberichten dargestellt.  Zahlreiche Autoren der Erinnerungen konfrontieren literarisch die in der Erinnerung aufbewahrten Bilder von Straßen, Häusern, Menschen mit angetroffener Wirklichkeit.  Für Christian Graf von Krockow ist Pomorze ein neues Phänomen, eine neue Entwicklungsetappe seiner Heimat, er bemerkt aber zugleich, dass sich das Alte mit dem Neuen vermischt.  Sehr oft überlagern jedoch nostalgische Erinnerungen die Wahrnehmung des neuen Pomorze.  Besondere Aufmerksamkeit gilt den Pomorze-Bewohnern, ihren Charaktereigenschaften, Fähigkeiten, Verhaltensnormen und der Religiosität.

Polnische Autoren der Nachkriegsgeneration haben es viel schwerer, von seiner Pomorze-Heimat zu schreiben, als die deutschen Pommern.  Sie müssen sich ihre Heimat erst entwerfen, bevor sie sie sich zu eigen machen.  Diese junge, im kommunistischen Polen groß gewordene Schriftstellergeneration konnte nicht aus reichem Repertoire der Erinnerung schöpfen und sich an die Wahrheit ihres eigenen Gedächtnisses zurückrufen.  Deswegen betonen alle, dass für ihr Identitätsgefühl und ihre Bindung an den Geburtsort vor allem leere und verwüstete Friedhöfe, von der kommunistischen Ideologie zerstörte Symbole der deutschen Präsenz, waren.  Das Motiv des Friedhofes mit fremd klingenden Namen und unverständlichen Inschriften bewegte ihre schriftstellerische Phantasie.  Es ist der Ort, wo die Zeit stehen bleibt und man auf die Sprache des Ortes sensibel ist.

Charakteristisch für die polnische Heimat-Prosa ist die Verankerung der literarischen Welt in einem begrenzten Raum, der eigenen Geburtsstadt, des eigenen Hauses.  Das ergibt sich wohl aus der Tatsache, dass die Erfahrungswelt der Heimat nicht im voraus gegeben wurde, sondern immer wieder von neuem rekonstruiert werden müsste.  Bei der literarischen Entdeckung ihrer Heimat versuchen polnische Autoren die schwierige und verworrene Zeit der Ankunft polnischer Neuansiedler in die ehemals deutsche Städte und Häuser literarisch aufzuarbeiten, lassen ihre literarischen Gestalten mit den vorgefunden Gegenständen konfrontieren und fremden Menschen begegnen, die ihnen vor kurzem Feinde waren.  Sieger und Verlierer treffen sich: auf der einen Seite sind es polnische Zwangsumgesiedelte, die sich eine neue Existenz aufbauen wollen und diejenigen, die auf der Suche nach leichter Beute kamen, auf der anderen Seite bewohnen das Land deutsche Grundeigentümer, denen polnische Behörden jedes Recht absprachen.  Eine solche Erzählperspektive wird sowohl im literarischen Werk Artur Daniel Liskowackis als auch im Roman Ewa Kujawskas sichtbar.

Artur Daniel Liskowacki, geboren 1956 in Szczecin,  erzählt in seinem Roman „Sonate für S.“ über das Nachkriegsleben der alten und neuen Bewohnern Stettins. Er ließ sich dabei von Archivmaterial inspirieren.  Ewa Kujawska in seinem Erstling, der 2006 erschienen ist, konzentriert sich dagegen auf die Geschichte einer polnischen und einer deutschen Familie, die das von ihnen bewohnte Haus in einem Kleinstädtchen an der Ostseeküste verbindet.

Artur Daniel Liskowackis literarische Gestalten in seinem Roman Sonate für S.(21) sind „kleine Leute“; deren Lebensgeschichte wird aus losen, unzusammenhängenden Einzelereignissen gezeigt.  Vergangenheit mischt sich mit der Gegenwart.  Deutsche und Polen treffen sich in einem Deutsch-Polnischen Kulturhaus.  Die verwickelten, aufgesplitterten Biographien der literarischen Figuren verbinden sich mit dem komplizierten Schicksal Stettins.  Die Topographie der Stadt spielt eine wichtige Rolle.  Zwar vermischen sich ehemalige deutsche Straßennamen mit den polnischen, doch sie sind für deutsche Bewohner der Stadt eine Orientierungshilfe in der aus den Fugen geratenen Welt.

Ewa Kujawska schildert in seinem Roman Dom Malgorzaty(22) („Malgorzatas Haus“) die Geschichte eines kleinen deutschen Hauses und das Schicksal der es bewohnenden Familie Hildegards.  In das Haus zieht nach dem Krieg eine polnische Familie Malgorzata ein.  Malgorzatas machen sich keine Gedanken darüber, wo sie sich eine neue Existenz aufbauen wird.  Für sie bedeutet der Verlust ihres Hauses, das während des Bombardements zerstört wurde, den Verlust von allem, was sie bisher geliebt und gepflegt hat.  Dem Unzug steht sie verzweifelt und hoffnungslos gegenüber.  Die deutsche Hausbesitzerin behandelt sie als Feind, und den neuen Wohnort als Feindesland.  Ihre Haltung der Hildegard gegenüber ist für viele zwangsumgesiedelte Polen repräsentativ.  Die polnische Neuansiedlerin Malgorzata, auf ihr völlig fremdes Boden ankommend, litt unter dem Gefühl des Verlustes des Erbes vieler Generationen und war vom schweren Unrecht, das ihnen zugefügt wurde, überzeugt.  Die Menschen, auf die Malgorzata im neuen Haus traf, waren in ihren Augen Deutsche, also Feinde, wie ja auch die ganze Umgebung feindlich war.  Das dort vorgefundene Hab und Gut betrachtete sie als rechtmäßige Entschädigung für das selbst erlittene Unrecht, für den Krieg und das im Osten verbliebene Eigentum.  Die Verwurzelung an dem neuen Wohnort erschwerte ihr die immer noch lebendige Erinnerung an das eigene zerstörte Haus.

Eine Vermittlerrolle zwischen dem Damals und dem Heute, zwischen der Deutschen, Hildegard, und der Polin Malgorzata, wurde dem elfjährigen Sohn Malgorzatas zugeschrieben.  Das Kind in seiner Unschuld betrachtet die deutsche Hausbesitzerin wohlwollend und unvoreingenommen.  Es kann sich nicht mit dem Hass seiner Mutter gegenüber Deutschen identifizieren und ist Hildegard aufgeschlossen und sympathisch.  Vor der endgültigen Entscheidung Hildegards auszureisen leben beide Familien gut ein Jahr zusammen unter einem Dach: bereiten Essen zu, benutzen gleiche Gegenstände.  Alles scheint die beiden Hausbesitzerinnen zu trennen: Herkunft, Geschichte, Sprache, Sehnsüchte.  Das Ende des Krieges bedeutet für  Hildegard das Ende ihrer kleinen Welt, für Malgorzata ist es erst der Anfang einer neuen Etappe im Leben.  Das Haus bedeutet Hildegard alles, was sie hatte und womit sie sich identifizieren konnte.  Es wurde von ihrem Mann gebaut, und dort hat Hildegard ihre zwei Söhne großgezogen.  Das Haus beherbergt alle Träume und Freuden Hildegards, erinnert sie an gute Zeiten.  Für Malgorzata bildet das Haus lediglich eine bescheidene Unterkunft nach dem Krieg und kann den Vergleichen mit dem von ihr geschaffenen Mythos ihres während des Krieges zerstörten Hauses nicht standhalten.  In diesem kleinen Haus treffen zwei Frauen und zwei Welten aufeinander.  Das gemeinsame Leben in einem Haus zeigt jedoch, dass gerade das Trennende eine Brücke werden kann: zu einem anderen Menschen.  In dieser Hinsicht hat das Haus eine anthropologische Funktion: es ist der Ort, wo Toleranz gegenüber dem Fremden entsteht, wo man den anderen Menschen mit allen seinen Träumen und Schwächen akzeptiert.

Die Art und Weise, wie sich neue polnische Bewohner die ihnen kulturell und geographisch fremde Landschaft zu eigen machte, war unterschiedlich.  In den Werken der polnischen Autoren dominiert einerseits das Gefühl des schmerzlichen Verlustes und der Fremdheit im neuen Ort, Unsicherheit bei der Begegnung mit den vorgefundenen Überresten des deutschen Lebens.  Bei der Darstellung deutscher Gestalten in der polnischen Literatur dominiert die Perspektive der Resignation, der Ausbeutung, des Ausgesetzt-Seins.  Das Ende der Qualen bietet ihnen nur das Verlassen des Hauses (von der Ausreise sprechen diejenigen, die es freiwillig tun, von der Aussiedlung diejenigen, die nicht auf ihre Heimat verzichten wollten).  Man kann behaupten, dass der moralische und soziale Sinn der Zwangsmigrationen und Vertreibung aus der heutigen Perspektive anders bewertet wird.  Dieser Perspektivenwechsel ermöglicht die Feststellung, dass kulturelle Unterschiede einen Reichtum bilden und in den deutsch-polnischen Beziehungen nicht mehr ein Störfaktor sind.    Das spiegelt sich in der polnischen jüngsten Literatur wieder.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die deutsche und die polnische Betrachtungsweise der hinterpommerschen Region sich wechselseitig bewirken.  Wie die Geschichte dieser Beziehungen zeigt, sind sie einmal neutral, einmal spannungsgeladen oder positiv.  Man muss auch die Tatsache betonen, dass die wechselseitige Wahrnehmung nicht selten asymmetrisch ist, was Hubert Orlowski(23) in seinen komparativen Ansätzen zur Literaturgeschichte betont.  Er sieht nämlich den größten Unterschied geschichtlicher Erfahrungen in der deutschen und polnischen Literatur in der Tatsache, dass, während das Kriegsende mit seinen Folgen für die vertriebenen Deutschen eine Zäsur bildete, für die Polen der Kriegsbeginn einen tiefen Einschnitt im Leben bedeutete.

Die Erfahrung der Vertreibung hat die Einstellung der vertriebenen Deutschen zu ihrer im Osten verlorenen Heimat lange Zeit traumatisiert.  Jetzt engagieren sich vielein Zusammenarbeit mit ihren Herkunftsorten.  Lokale Museen verdanken ihnen häufig historische Ausstellungen, alte Karten, Reiseführer und Literatur über diese RegionDiese Initiativen sollen dazu beitragen, eine gemeinsame deutsch-polnische Kommunikationsplattform in Hinterpommern zu bilden und die pommersche Identität bei den Bewohnern dieser Region (wieder)herzustellen.

Der polnischen und der deutschen Literatur kommt in dem schwierigen Prozess der deutsch-polnischen Versöhnung die Rolle einer Vermittlerin zwischen gestern und heu zue.  Als Christian Graf von Krockow 1990 für einige Tage nach Stettin kam, um sich mit polnischen Germanistikstudenten zu treffen und seine Heimatstadt kurz zu besuchen, hat er seiner Begleiterin, einem jungen Mädchen aus Stolp, gesagt: „Ihres ist Slupsk. Meines ist Stolp meiner Kindheit.  Es geht darum, das wir wissen sollen, was uns verbindet“.(24)

 

Literaturverzeichnis

 


Anmerkungen:

1 Jürgen Joachimsthaler: Die Zukunft der Vergangenheit. Die Auseinandersetzung der polnischen Germanistik mit den deutschen Spuren in Polen, in: Berichte und Forschungen 8 (2000), S. 7-32.
2 Hans-Jürgen Karp (Hg.): Deutsche Geschichte und Kultur im heutigen Polen. Fragen der Gegenstandsbestimmung und Methodologie (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 2), Marburg/Lahn 1997.  Zbigniew Mazur (Hg.): Wokol niemieckiego dziedzictwa kulturowego na ziemiach zachodnich i polnocnych [Um das deutsche Kulturerbe  in den West- und Nordgebieten]. Ziemie Zachodnie- Studia i Materialy 18, Poznan 1997.
3 Pommern in der Literatur nach 1945. Materialien einer Tagung in Külitz, 11-14.09.2003; Kulice 2003. Pommern – Literatur eines verschwiegenen Landes, hg. von Roswitha Wisniewski. Literarische Landschaften, Bd. 8; Berlin 2007.
4 vgl. Gerard Labuda (Hg.) Historia Pomorza, Poznań 1972-1993.
5 Jan Jozef Lipski: Depositum. Deutsches kulturelles Erbe in Polen. In: Gazeta Wyborcza vom 1.3.1990.
6 Peter Schmitt-Egner: „Regionale“ und „Europäische Identität“. Theoretische, methodische und normative Überlegungen zur Konstitution einer Beziehung. In: Region-Literatur-Kultur: Regionalliteraturforschung heute, hg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Bielefeld 2001, S. 32f.
7 Roswitha Wisniewski: Flucht und Vertreibung in pommerscher Literatur. In: Flucht und Vertreibung in der Nachkriegsliteratur, hg. von Klaus Weigelt, Melle 1986, S. 45.
8 Vgl.Ursula Pless-Damm: Der Weg ins Ungewisse. Tagebuchaufzeichnungen aus Pommern und polen 1945, Bremen [1964], Kurt Mielke: Ein Schicksal von Millionen. Schlawe in Pommern 1945. Erlebnisbericht aus Tagebuchaufzeichnungen, Siegen 1991. Käthe von Norman: Tagebuch aus Pommern 1945/46, München 1962.
9 Vgl. Hans Edgar Jahn: Pommersche Passion; Preetz/Horst. 1964. Klaus Granzow (Hg.): Letzte Tage in Pommern. Tagebücher, Erinnerungen und Dokumente der Vertreibung; München-Wien 1984. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa; hg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, bearbeitet von Theodor Schieder; Bonn 1953-1961, Bd. 1-5.
10 Louis-Ferdinand Helbig: Vertreibung In der Bundesrepublik Deutschland. Versuch einer Bilanz 1945-1985. In: Kulturpolitische Korrespondenz Nr 50 (Sonderdienst: Flucht und Vertreibung). Berlin/Bonn (1985), S. 12.
11 Karl Wagner: Über die literarischen Dörfer. Zur Ästhetik des Einfachen. In: Zeit ohne Manifeste? Zur Literatur der siebziger Jahre in Österreich, hg. von Friedbert Aspetsberger, Hubert Lengauer, Wien 1987, S. 167.
12 Hubert Orlowski: Von der ungleichwertigen Deprivation – „verlorene Heimat“ in der deutschen und in polnischer Literatur nach 1939. In: Heimat und Heimatliteratur in Vergangenheit und Gegenwart, hg. von H.Orlowski, Poznan 1993, S. 120.
13 Zbigniew Mazur: Rozmowy o niemieckim dziedzictwie kulturowym. Raport ze spotkan srodowiskowych na Ziemiach Zachodnich i Polnocnych 1995-1996 [Gespräche über das deutsche kulturelle Erbe. Bericht über Treffen mit Bewohnern der West- und Nordgebiete 1995-1996]. Maszynopis powielony (maschinenschriftlich). Instytut Zachodni. Poznan 1997.
14 Bereits im Jahr 1986 erschien Paweł Huelles Roman „Weiser Dawidek”.
15 Stefan Chwin: In Pommern also nirgendwo, in: Dziennik Baltycki vom 26.05.2006, S. 37.
16 G. Frenz: .Wenn einer von uns zweifeln sollt’…, S. 114: „Bald hatten sie ihre festen Lieferanten, zwei Schwäger, einer Pole, der andere Deutscher“, S. 115
17 vgl. Ruth Rechenberg: Stettiner Tagebuch, Lüneburg 1993, S. 178
18 Rechenberg, op.cit., S. 152
19 Vgl. Christine Brückner: Nirgendwo ist Poenichen, Frankfurt/Main 1985.
20 Vgl. Ruth Rechenberg: Stettiner Tagebuch, Lüneburg 1993. Irina Korschunow: Malenka, Hamburg 1987. Erhard Groll: Paninka oder die Wahlverwandschaften, Leverkusen 1997. Eva Maria Sartori: Die Rheinhangens, Augsburg 1998.
21 Artur Daniel Liskowacki: Sonate für S. Aus dem Polnischen von Joanna Manc; München 2003.
22 Ewa Kujawska: Dom Malgorzaty; Wolowiec 2007.
2323 Hubert Orlowski: Zrozumiec swiat, Wroclw 2003, S. 35f.
24 Barbara Szomborg: Wir sollen wissen, was uns verbindet, in: Dialog (1990)5, S. 18

 


7.8. Landscapes in the context of societies / Landschaft im gesellschaftlichen Kontext

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Joanna Flinik: Hinterpommern – eine Region zwischen zwei Nationen in der deutschen und polnischen Nachkriegsliteratur - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/7-8/7-8_flinik17.htm

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