TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 7.8. SeLandscapes in the context of societies / Landschaft im gesellschaftlichen Kontextktionstitel
Sektionsleiter | Section Chair: Helmut Pfanner (Lochau, Vorarlberg)

Dokumentation | Documentation | Documentation


“Vom Glanz der Elbe”:(1)
Helga Schütz und Dresden

Holly Liu (Alma, Michigan, USA) [BIO]

Email: liu@alma.edu

 

Für die Schriftstellerin Helga Schütz ist die Stadt Dresden, in der sie aufgewachsen ist, “die Sehnsucht von gestern”.(2)  Nicht nur die traumatischen Kindheitserlebnisse durch die Bombennacht am 13. Februar 1945, sondern auch ihre Teilnahme am Aufbau des Sozialismus in der Trümmerlandschaft Dresdens veranlassten Schütz, Dresden wiederholt zur Erinnerungsstätte in ihren Romanen zu machen.  Sowohl in Jette in Dresden (1977)(3) als auch in Vom Glanz der Elbe (1995) bildet Dresden den Schauplatz ihrer literarischen Erinnerung.

In diesem Beitrag soll es um den jüngsten Roman der Autorin gehen: Knietief im Paradies (2005).(4)  Auch diesmal ist die Ich-Erzählung in Dresdens Kriegs- und Nachkriegszeit eingebettet.  Wie Jette, jenes etwa zehnjährige Mädchen, das sich im Wirrwarr der Nachkriegszeit allein und unerzogen durchschlägt, steht auch die halbwüchsige Eli mit 13 Jahren auf eigenen Beinen:  Die ausgebildete Gärtnerin Helga Schütz stellt Eli als Gärtnerei-Lehrling in Dresden vor.  "Aus Menschen, die keine Gärtner werden, wird nichts”, heißt es im Roman.(5)  So erlernt Eli eifrig die Gartenkunst.  Obwohl sie eine künstliche 'Idylle', die ihren Kinderaugen wie das Paradies erscheint, zu schaffen vermag, erkennt sie durch den rauen DDR-Alltag zugleich: “Dekorieren ist täuschen. Wie die Liebe in einem Gedicht.”(6)

Im Mittelpunkt unserer Betrachtung steht Schütz’ Darstellung von Elis Sehnsucht nach einem Menschen, für den sie wichtig ist; von ihrem kindlichen Bemühen um die Verschönerung der Stadt Dresden und nicht zuletzt von der Zerstörung einer Utopie.  Untersucht wird auch die Rolle der Einnerung als Ausgangspunkt der literarischen Aufarbeitung der deutschen Geschichte. 

Helga Schütz, Jahrgang 1937, war wie viele ihre Zeitgenossen ein Kriegskind.  Zum Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte die in Schlesien geborene Autorin am 13. Februar 1945 die Bombardierung Dresdens, “ständig [mit] de[m] Tod im Nacken.”(7)  Für sie “war 1945 ein Sprung vom Tod ins Leben.”(8)  Dieser Einschnitt in Schütz’ Lebenslauf prägt wie kein anderer ihre literarische Betätigung:  In fast allen ihren Werken, vom Erstling Vorgeschichten oder schöne Gegend Probstein (1970) über Jette in Dresden bis hin zu ihrem 2000 veröffentlichten Roman Grenze zum gestrigen Tag, greift die Autorin immer wieder auf dieses frühe Erlebnis zurück.  In einem 1973 mit Joachim Walther geführten Gespräch erläuterte Schütz den “schöpferischen Dauerzustand”(9) ihrer Kindheitserinnerung wie folgt: “Ich hatte die Erinnerung an meine Kindheit und habe während des Schreibens gemerkt, welches Thema ich da mit mir herumtrage: den gewöhnlichen Faschismus.  Dann habe ich angefangen, nach dem zu graben, was zwischen den Erinnerungen steckt.”(10)

Aus dieser unermüdlichen Grabungsarbeit entstanden sowohl der Jette- als auch der Paradies-Roman, die sich über eine Zeitspanne von dreißig Jahren erstrecken.  Jette in Dresden (Im Westen: Mädchenrätsel, 1978) ist Helga Schütz’ erstes Werk, in dem man ihren künstlerischen Duktus feststellen kann: ein Werk, in dem sich laut Volker Hammerschmidt die autobiographische Kindheit in der Zeit des Faschismus und die poetologische Konzeption der Autorin am engsten berühren.(11)  Ihr fester Glaube an “ungezogene Kinder”(12) und ihr unerfüllter Kindheitswunsch, erzogen zu werden,(13) haben Schütz dazu bewogen, den Jette- wie den Paradies-Roman aus einer kindlichen Perspektive zu erzählen.  In Jette, einem Buch über kindliche Träume und den Sinn für brutale “Realität und Zweckmäßigkeit”,(14) stellt sie jenes Mädchen dar, das bereits in ihren ersten Geschichten als Zentralfigur erschien, und das sich jetzt, aus “dem verlassenen Dorf” in die “zerschlagene” Großstadt Dresden (Schütz, Jette 7) vertrieben, ihre Zuflucht bei der Großmutter suchend, in den Wirren der Nachkriegsjahre durchschlägt.  Fern dem vertrauten dörflichen Milieu, muss die ehemalige “Einsiedlerin” und “Gedankenleserin” (ebd. 7) Jette in Dresden große Verwirrungen erleiden.  Ihre “nutzlose[n] Tugenden” aus dem Dorf, (ebd.) ihr “berühmte[r] schräge[r] Blick” (ebd. 101), der uns ihr zweifelndes Wesen verrät, und nicht zuletzt ihr Drang, “so bedrückend schön konsequenzlos” (ebd. 228) bestraft zu werden, ermöglichen dem Mädchen, ihre Unschuld auf eine harte Probe zu stellen.  Mit gemischten Gefühlen verfolgt man, wie Jette Grenzen überschreitet und erst in der Todesgefahr den Ernst des Lebens begreift.  Auf diese Weise trifft Jettes “kindliche Naivität auf die Zwänge eines rauhen und grauen Alltags,”(15) den die Autorin durch verhaltene “Farbigkeit” erträglich macht, ohne das Hässliche zu verwischen.(16)  Jettes Geschichte endet mit einer ihrer Lügen, der sie nicht widerstehen kann:  Sie habe bei den Eltern das blaue Meer gesehen (Schütz, Jette 239).  Damit lässt die Autorin zum letzten Mal Jettes Unschuld durchscheinen, die sich vergebens der brutalen Welt der Erwachsenen widersetzt und kaum noch dem Ende einer Kindheit standzuhalten vermag.  “Ahnungsvoll, was Verrat betrifft, gedankenvoll, was das Leben angeht […]” (ebd. 33) schreitet Jette frühreif der ihr aufgezwungenen Erwachsenenwelt entgegen.

Literaturgeschichtlich gesehen entstand Jette in Dresden, wie Christa Wolfs Kindheitsmuster (1976), in einer neuen Literaturepoche der DDR, in der man gerade den Romanen, “die den Faschismus oder den Nationalsozialismus als ein historisches Phänomen beschrieben hatten,” den Rücken kehrte und sich “zum ‘gewöhnlichen Faschismus’” hinwendete, “wo Opfer und Täter in Bauernhäusern, Kirchen und Schulen lebten, wo Wurzeln viel tiefer und in weite Verästelungen reichten, noch lebendig waren und die Grabarbeit längst nicht erledigt war.”(17)  Beide Werke von Schütz und Wolf behandeln im Rahmen der Vergangenheitsbewältigung das Thema der “Trivialität des faschistischen Alltags”(18) wenngleich aus unterschiedlichen Perspektiven:  Während sich Christa Wolf dem Thema nur mit eindringlicher Nachdenklichkeit widmen kann, liegt Schütz’ Stärke darin, “kindliches Denken poetisch einzufangen.”(19)

An diese Überlegungen knüpfen sich die Fragen:  Warum bleibt Jette eine beliebte Figur der Autorin, die wiederholt in ihren Romanen auftritt?  Wie sollte man auf Jettes 'naiven' Umgang reagieren?  Deckt sie nicht mit ihrer Unschuld gerade auf, was Erwachsene verheimlichen wollen?(20)  Symbolisiert die Jette-Figur nicht die Wiedererinnerung an die dunkelste Zeit der deutschen Vergangenheit, die Schütz mit “neugewonnene[r] Lockerheit und spielerische[r] Leichtigkeit”(21) darzustellen vermag?

Obwohl Schütz die Psyche der Kinder in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch auf scheinbar 'naiver' Erzählebene beschreibt, sind Jette in Dresden und Vorgeschichten oder schöne Gegend Probstein doch keine Kinderbücher.  Die 'naïve' Sicht, die die Autorin dem Vergangenen entgegenhält, erweist sich in Bezug auf ihre Erinnerungsstrategie als sehr zeitgemäß.(22)  In “ganz eigener poetischer Weise”(23) zielt der Roman voller “Vitalität und sprachlicher Originalität”(24) auf eine erwachsene Leserschaft, die den unschuldigen Augen eines “ungezogenen” Mädchens folgen soll, um über die Wurzeln des alltäglichen Faschismus und dessen über das Kriegsende hinausreichende Denk- und Verhaltensmuster zu reflektieren.  Aus diesem Grund dient der Jette-Roman zweifellos als Projektionsfläche für Erwachsene, die bereit sind, “diese Bilder mit Erlebnisfähigkeit und Empfindsamkeit in die eigene Erfahrung einzuordnen.”(25)  Zu der Konzeption ihrer Jette-Figur äußerte sich Helga Schütz so:   

Für meine Jette-Figur ist es ein Glück, daß sie nicht erzogen worden ist, daß sie schutzlos manches erleiden mußte.  Sie hat es in dem Sinne besser gehabt als die anderen, sie konnte sich ihren Raum selber ausfüllen. Das Verhängnis fing für sie an, als sie das Schulderbe auf sich nahm und dies durch Einsicht und Schweigen abtragen wollte.  Das war dann auch das Ende der Kindheit.(26)

Drei Jahrzehnte später bzw. fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall setzt Helga Schütz Jettes “Glück” im Roman Knietief im Paradies fort.  In seiner Zeit-Rezension (17. 03. 2005) hebt Joachim v. Hildebrandt “das Glück in schwierigen Zeiten” in diesem Roman hervor, das uns die Autorin auf ironische Weise an Eli erfahren lässt, indem er bemerkt:  “Helga Schütz erzählt vom Glück im Winkel, nicht sentimental […], sondern brüchig und mit einer Empfindsamkeit […].  Die Vergangenheit wird dabei gegenwärtig und die Gegenwart unangreifbar, nur fassbar in der Summe unzähliger privater Augenblicke.”(27)

Zum historischen Schauplatz dieser privaten Momentaufnahmen macht die Autorin wieder die Stadt Dresden, in der große historische Ereignisse wie der Feuersturm des 13. Februar 1945 und der Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 mit dem Autobiographischen und Phantastischen vermischt sind.  Helga Schütz' eigene Erlebnisse als gelernte Gärtnerin zwischen 1951-1955 in Dresden bilden die Erfahrungswelt der Hauptfigur.  Sie ist die etwas ältere Jette, Eli Reich genannt, deren Namen Raffaela das Standesamt irrtümlich als Raphaela ins Stammbuch eingetragen hat, “also doch wieder wie der Engel” (Schütz, Paradies 30).  Als habe sie durch die Namensgebung an Glück gewonnen, wird das engelsgleiche Mädchen zum “Überlebenswunder” (ebd. 113):  Sie hat nämlich in jener Bombennacht sich knapp vorm Brandtod gerettet.  Der Zufall erspart der Totgeglaubten allerdings körperliche und psychische Verwundungen nicht:  Als “ein menschenähnliches Wesen mit Glatze und verquollenen Augen, Brandmale am Hals, Grind, Bindehautentzündung, Typhus schon überstanden, jetzt Verdacht auf Gelbsucht […]” (Schütz, Paradies 16) wird das achtjährige Kind seinem sächsischen “erziehungsberechtigten” (ebd. 26) Großvater Anton vorgeführt.  Auf die körperliche Genesung folgt jedoch die ungestillte Sehnsucht nach einer unversehrten Kinderwelt, nach dem vertrauten heimatlichen Lindenblütenduft.  Für Eli würde es das Paradies auf Erden bedeuten, kämen der im Kessel von Stalingrad verschollene Vater und die beim Abholen der warmen Federbetten in Schlesien verschwundene Mutter wieder und sorgten für Liebe und Wärme in der Familie.  Ihr Verlangen nach Erziehung, das sie mit Jette gemein hat, bleibt zu ihrer Enttäuschung unerfüllt (ebd. 47):  Ihr Großvater Anton, der Tag und Nacht Anschläge "vereiteln" muss (ebd. 38), ist genau so unfähig wie Jettes Großmutter, seinen Erziehungspflichten nachzukommen.  "Anton guckte von da an im neuen Zeugnis nur noch auf die Zeile am Schluß: versetzt.  Na also, na bitte" (ebd. 24). Außerdem ist ihm nicht bewusst, was Eli, wie Jette damals, in der Schule widerfährt.

Ich habe Glück. Ich glaube, ich bin sogar manchmal glücklich.  Das habe ich niemandem verraten, keinem der schlesischen Verwandten, niemandem der Dresdner, den Lehrerinnen nicht, den Klassenschwestern nicht und schon gar nicht den beiden Großvätern.  Wer glücklich ist, der ist dumm.  Ich bin der Beweis.  Ich habe auf der Hinterbank gesessen.  Das soll nicht umsonst gewesen sein. (Ebd.  23)

Der “unsagbar schmerzliche[n] Einsamkeit”, in die Eli “von deutscher Kriegs- und Nachkriegspolitik gestoßen [wird],” entspringt die "wuchernde Phantasie,”(28) in die Eli ihre Geheimnisse einbettet:

Es herrscht Andrang hinter den Wolken.  Berta, die schlesische Großmutter, scheucht die Gänse in einen Fluß.  Mama bahnt sich einen Weg, wandert mit ihrer Meindl-Gitarre, barfuß, fröhlich, sie lächelt mir zu.  Sie ist dieser Tage zu einem Schönwetterwölkchen geworden.  Ein Huhn flattert kopflos an ihrer Seite, immer noch unterwegs.  Von einer Welt in die andere. […]  Was soll ich [ihr] sagen?  Auf keinen Fall etwas über Antons Techtelmechtel mit Alice, nichts über die Pistole im Kommodenschub und kein Wort über Maxim. (ebd. 40)

Hervorzuheben ist ein wesentliches Merkmal, das den Jette-Roman vom Paradies-Roman unterscheidet.  Es zeigt sich deutlich in Schütz' Wechsel der Nachkriegsthematik nach der Wende.  Während es sich im Jette-Roman um die tastende Selbsterziehung nach der Zeit des alltäglichen Faschismus handelt, geht es im Paradies-Roman um das Heranwachsen der Kriegskinder, um die Selbstüberwindung und -behauptung Elis in den ersten Aufbaujahren der DDR, aber auch um die Dekorierungskunst, die einer Gärtnerin wie Eli zusteht.  "Eli ist wie ich Gärtnerin und hat deshalb eine ganz bestimmte Perspektive auf das Leben.  Aber sie nutzt ihr botanisches Wissen und ihr Handwerk auf eigene listige Eli-Art.”(29)  Darum verbindet nicht nur der Gärtner-Beruf Schütz und Eli, sondern auch der Wiederaufbau Dresdens.  In ihrem Artikel “Once I Lived Near the Wall…”(30) von 1991 erzählte Schütz rückblickend von ihrem Einsatz als Gärtnerin für den Glanz der Elbe:

[…] Jetzt sollte alles anders werden.  Mit 13 Jahren fing ich an zu arbeiten.  Ich war Lehrling in einem Gartenbaubetrieb in Dresden, der verantwortlich war für die Grünanlagen der Stadt.  Ich räumte Trümmer weg.  Mit Spaten und Karre bauten wir Parks und Sportplätze.  Es war eine Knochenarbeit.  Nach acht Stunden war ich jeden Tag total erschöpft.  Jedes Grün, jedes Haus, jedes Schiff auf der Elbe, den wiederaufgebauten barocken Zwinger empfand ich als mir gehörend. (ebd. 25)

Auf diese Aufbaustimmung greift die Autorin im Paradies-Roman auch durch zahlreiche Szenen zurück, in denen wir Leser beobachten, wie z. B. die gestiefelte "Waldfee" Eli, eine schwere Karre voller Blumen schiebend, eifrig von Auftrag zu Auftrag durch die ganze Stadt Dresden läuft, wie sie z. B. die Verschönerung eines Hains zur Erinnerung an die Toten vom 13. Februar aus den Trümmerfeldern heraufbeschwört.  Mit Recht wurde darauf hingewiesen, dass Schütz mit "eine[m] tieferen Blick jenseits von Euphorie und Nostalgie"(31) ihre eigenen Jugendträume in Eli projiziert, indem sie dort im Roman das Motto anklingen lässt:  “Aus Menschen, die keine Gärtner werden, wird nichts” (Schütz, Paradies 47).

So erlernt Eli zwar voller Elan die Gartenkunst, muss sich aber diese Frage stellen:  Kann der ausgebildete Gärtner in der DDR tatsächlich alles so mitgestalten, wie es ihm von Berufs wegen zusteht?  Eli wird der romantische Blick auf ein 'feenhaftes' Leben als Gärtnerin erstmals getrübt, als sie erfährt, dass der hochrespektierte Professor Doktor Doktor rer. nat. Heinrich Nüßlein, den die Jugendlichen liebevoll "unseren alten Lateiner" (Schütz, Paradies 43) nennen, abgeholt, inhaftiert und zur Auswanderung in den Westen gezwungen ist, weil er als "altmodischer Mendelist […] [e]in Verführer der Jugend" sei (ebd. 44).  "Wer heute noch an die Mendelschen Gesetze und an Chromosomen beim Vererben von Eigenschaften glaube, der gehöre nicht zu UNS" (ebd.).

Während Eli den Fall Dr. Nüßlein noch passiv, mit Weinen und unsagbarer Sympathie verfolgt hat, handelt sie beim Fall Tobias tatkräftig und greift mutig ein:  Als sie beim Pflanzengießen im Schwurgerichtssaal zufällig Tobias' Verurteilung "als Verbrecher im Sinne des Landfriedensbruchsparagraphen zu mehreren Jahren Jugendstrafe" beigewohnt hat (ebd. 126), beschließt sie, aus ihrer Verantwortung für die Dekoration (ebd. 73) ihre Verantwortung für einen der Hilfe bedürftigen Menschen zu entwickeln.  Trotz ihrer kindlichen Unschuld ist sie klug genug, um das Dekorieren als Tarnung für ihr neues Vorhaben auszunutzen.  Sie getraut sich nicht nur, beim Blumengießen Tobias einen ermutigenden Zettel in die Hand zu drücken, sondern auch während der Gartenarbeit am Marienhof eine eigens gestrickte Mütze an Tobias im Jugendwerkhof zu liefern.  Dazu 'verschreibt' sich Eli dem Plan, mit Hilfe von Maxim, dem Vagabunden/Studenten, Tobias in den Westen zu Dr. Nüßlein hinauszuschmuggeln.  Sie ist vorbereitet, sich notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen.  Die gelungene Rettung von Tobias bringt allerdings Eli das utopische Paradies im Sinne von Blaise Pascal(32) nicht zurück.  Zum Schluss bricht die künstliche Idylle jäh zusammen, da Elis Fleiß beim Aufbau des Sozialismus am 17. Juni 1953 mit Knüppelschlägen und Ohrfeigen belohnt wird.  Desillusioniert, aber auch in einer Art stillem Widerstand, verteilt Eli in der Stadt die Zitronensetzlinge, die sie auf Weisung ihrer Chefs auf einem Trümmerfeld im kalten Dresden hätte pflanzen sollen.

Indem Eli versteht, sich zu "eine[r] leise ratternde[n] Karre, [e]in[em] grüne[m] Fleck, der schnell verfliegt" (Schütz, Paradies 120) zu machen, um das Gleichgewicht zwischen "unsichtbar" und “selbstbewusst bemerkbar” zu halten (Stührmann), bewundert man erneut Schütz’ Stärke, “kindliches Denken poetisch einzufangen.”(33) Die Autorin verleiht Eli nicht nur Jettes Arglosigkeit und Hilfsbereitschaft sondern auch deren kindlichen Trotz und Abenteuerlust, die sich nicht immer als konsequenzenlos erweisen:  Wir Leser erfahren bereits am Romananfang, wie mutig Eli mehrmals schwarz die 'grüne Grenze' überschreitet, um ihren aus Schlesien vertriebenen Großvater im Westen zu besuchen; oder sie stiehlt etwas von dem Mittagessen, für dessen Abholung sie verantwortlich ist, und verschenkt die Portion an Maxim.  An anderer Stelle hantiert sie heimlich mit Antons Pistole und bewaffnet sich später damit, um Tobias aus dem Gefängnis zu befreien.  Oder im Ringen um Aufmerksamkeit und menschliche Nähe steckt sie eine “Zigarrenkiste in den Hosenbund” und täuscht den Chefs ihre “gesegneten Umstände” (Schütz, Paradies 109) vor.  Dadurch schafft Schütz nicht nur Momente des Schmunzelns für den Leser, sondern auch eine Spannung, wie sie im Jette-Roman noch nicht so häufig vorkommt.

Sicher ist es kein Zufall, dass der Paradies-Roman zum sechzigsten Jahrestag des Kriegsendes bzw. der Zerstörung Dresdens erschienen ist.  Zu diesem Anlass bemerkt der Historiker Norbert Frei, die NS-Vergangenheit sei so präsent wie kein anderer Abschnitt der deutschen Geschichte(34) und “Geschichte wird durch konkrete Beispiele viel besser verständlich als durch eine bloß abstrakte Analyse von Strukturen.”(35)  Helga Schütz’ Darstellung individueller Schicksale in der Nachkriegszeit gehört eben zu den Bemühungen in Deutschland, die “Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu einem Element der kulturellen Identität” zu machen (ebd.).  Helga Schütz begibt sich, wie Anette Stührmann in ihrem Internet-Interview mit der Autorin dokumentiert, “[verantwortungsvoll] in eine Abhängigkeit gegenüber der Geschichte, die erzählt werden will.”  Dazu dient Schütz' Kindheitserinnerung an die Stadt Dresden als eine unerschöpfliche Quelle. 

Im gegenwärtigen Erinnerungsdiskurs, in dem die “gedächtnisversichernde Funktion” in der literarischen Erinnerung verworfen wird,(36) betont der französische Philosoph Gilles Deleuze das Schöpferische der Erinnerung:  “Sich Wiedererinnern ist schaffen.”(37)  Damit kritisiert er eine “rückwärtsgewandte Anbindung des Kunstwerks,” das durch “die retrospektive Fixierung des Lebensstroms in Privaterinnerungen” entsteht.(38)  Im Sinne von Deleuze kann man auch Helga Schütz’ Erinnerungsverfahren im Jette- und im Paradies-Roman diskutieren.  Als sie die Probsteiner und Jette-Geschichten schrieb, wollte sie vor allem aus Erinnerung und Fantasie schreiben und hatte nicht das Bedürfnis, an den Ort der Erinnerung zu fahren.  Sie fürchtete, sich in der Erinnerung durch die Realität stören zu lassen.(39)  Stattdessen, sagte sie, sitze sie “vor einem Blatt Papier, habe nichts im Kopf, [sei] vollkommen leer, und diese Leere füllt sich dann mit Bildern, und auch mit Bildern, die sehr weit zurückliegen, sehr weit in der Kindheit, die Urbilder sind und von dort herkommen.”(40)  Ihrer Verinnerlichung der Erinnerung legte sie damals Goethes klassische Idee zugrunde:

[…], [ich] weiß, daß Goethe das Wort Erinnerung ablehnte.  Auf meinem Zettel steht das Zitat von ihm:  ‘Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes begegnet, muß nicht erst von außen her wieder erinnert, gleichsam erjagt werden.  Es muß sich vielmehr gleich von Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neues besseres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen.’(41)

Hier liegt Goethes verwobenes Inneres auch nicht fern von Deleuzes Schöpferischem.  Weil das Erinnern nur “in Verbindung mit dem Schreiben” für Schütz wichtig ist, fehlt die retrospektive Erzählperspektive in Jette in Dresden.  Es geht darin zwar um die Erinnerung der Autorin während des Schreibprozesses und um die Wiedererinnerung des Lesers beim Lesen, sie wird aber durch die vergangenen Erlebnisse der Autorin geweckt.  Diese Erinnerung entpuppt sich im schöpferischen Schreibprozess nicht mehr als die ursprüngliche, sondern die werdende, die sich als “Wiederkehr des Gleichen”(42) vortäuscht, um mit Deleuze zu sprechen.  So wird “Vergangenes gegenwärtig.”(43)  Deshalb braucht die Autorin keine Vergangenheitsperspektive.  Die Erinnerung der Autorin beim Schreiben bildet die Gegenwart der Handlung, d. h. ein und dieselbe Erzählebene, die keine Vergangenheitsdimension voraussetzt.  Diese Erzählstrategie führt Schütz in ihrem Paradies-Roman weiter.  Dort wie hier wird die Erinnerung des Lesers durch die erzählte Geschichte wach und lebendig.  Der Erinnerung wird durch den mit Bedacht gewählten Erzählort Dresden besondere topographische Bedeutung beigemessen.  Das ortsgebundene Erinnerungsverfahren in beiden Romanen beschränkt sich allerdings auf seine Funktion als Ausgangspunkt des Erzählens, anders als im Roman Vom Glanz der Elbe (1995), in dem die Erinnerungsakte des Protagonisten vor Ort durch äußere Eindrücke hervorgerufen werden.(44)

In diesem Zusammenhang kann der vielsagende jedoch ironisch wirkende Titel Knietief im Paradies einerseits als ein aus heutiger Perspektive wiederholter Abschied von der DDR verstanden werden, dem das einstige Gefühl der Autorin beigemischt ist.  Andererseits symbolisiert er die Strafversetzung Elis in den “Himalaja”, “ein[en] still[en] Ort in einem abgelegenen Winkel des Botanischen Gartens,” “[w]o sie nichts kaputtmachen kann” (Schütz, Paradies 175).  Vielleicht würde der entlegene Ort dennoch ein Paradies für den gefallenen Engel Raphaela/Eli werden, wenn sie ihren stummen Widerstand in Hoffnungen verwandeln könnte.  Der letzte Satz des Romans - “Wenn ich Glück habe, blüht in diesen Tagen der blaue tibetische Mohn” - bringt Elis optimistische Einstellung zum Ausdruck.

In einem Interview mit Federwelt Nr. 69 vom Dezemeber 2005 (Stührmann) erklärte Helga Schütz aufs Neue die Bedeutung der Kindheitserinnerung für ihr Schreiben:

Ich gehe in die Vergangenheit zurück, weil manche Erinnerungen mich nicht loslassen, sie hängen mir an, manche erscheinen mit den Zeiten und den Erfahrungen in anderem Licht.  Sie erhalten andere Farben.  Erschließen mir einen überraschend freien Erzählraum.  Durch die Geschichten, die ich erzähle, erhellt sich vielleicht ein Stück Vergangenheit und Fremde, aber auch ein gegenwärtiges Lebensgefühl.(45)

"Vom Glanz der Elbe" bedeutet nicht nur die Sehnsucht nach einer unvergesslichen Vergangenheit.  Es markiert auch einen neuen Anfang.  Schließlich glänzt uns die einstmals 'stinkende' Elbe heute wiederum entgegen, was dafür sorgt, in einer sich wandelnden Zeit Dresden neu im Geschichtsbuch einzutragen.

 


Anmerkungen:

1 Titel des Romans von Helga Schütz. Vom Glanz der Elbe (Berlin: Aufbau-Verlag, 1995).
2 Vgl. Schütz, Vom Glanz der Elbe 21.
3 Jette in Dresden (Berlin: Aufbau-Verlag, 1990).
4 Knietief im Paradies (Berlin: Aufbau-Verlag, 2005).
5 Vgl. Schütz, Knietief im Paradies  47.
6 Vgl. Schütz, Knietief im Paradies 110.
7 Vgl. Liu, Holly. “‘In einem gewissen Sinne hat der Osten uns lebenstüchtiger gemacht. . .’ Im Gespräch mit Helga Schütz.” Berliner LeseZeichen Apr. 2000. 22.
8 ebd. 22.
9 Zit. in Hammerschmidt, Volker und Andreas Oettel. “Helga Schütz.” Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. 38. Nlg. 1991.
10 Vgl. Joachim Walther, “Helga Schütz. Gespräch.” Meinetwegen Schmetterlinge. (Berlin: Der Morgen, 1973) 104-13 (zit. in Hammerschmidt 4).
11 Vgl. Hammerschmidt 4.
12 Helga Schütz, zit. in Melchert, Monika. “Ich glaube fest an ungezogene Kinder: Gespräch mit der Schriftstellerin Helga Schütz über Erinnerungsarbeit beim Schreiben.” Freitag 8. Feb. 1991.
13 Helga Schütz, zit. in Melcherts Interview.
14 Hannemann, Joachim. “Ein Stück von der Wahrheit.” Neue deutsche Literatur 11. (1978): 150-52. 152.
15 Hannemann 151.
16 Vgl. Hannemann 151.
17 Helga Schütz, zit. in Melcherts Interview.
18 Prill, Meinhard. “Christa Wolf: Kindheitsmuster.” Hauptwerke der deutschen Literatur. Bd.2.  München: Kindler, 1994. 761-62. 761.
19 Hammerschmidt 4. Dazu wird absichtlich ein ausführlicher Vergleich beider Werke von Wolf und Schütz ausgelassen, um den Rahmen dieses Artikels nicht zu sprengen.
20 Vgl. Schmitz-Köster, Dorothee. Trobadora und Kassandra und . . . Weibliches Schreiben in der DDR. Köhl: Pahl-Rugenstein, 1989. 44.
21 Batt, Kurt. zit. in Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 2000. 285.
22 Vgl. Hannemann 151.
23 ebd.
24 Hammerschmidt 3.
25 Hannemann 151.
26 Helga Schütz, zit. in Melcherts Interview.
27 Vgl. Joachim v. Hildebrandt “Das Gärtchen. Helga Schütz erzählt vom kleinen Leben in der DDR.” Die Zeit. 17. März 2005.
28 Vgl. Sabine Brandt. “Botanik an der Zonengrenze. Helga Schütz erzählt von einer Kindheit im Krieg und Nachkrieg.” FAZ 16. Aug. 2005.
29 Vgl. Anette Stührmann “Drei Fragen an ... Helga Schütz (Schriftstellerin und Drehbuchautorin)”. Federwelt Newsletter 69. Dezember 2005.  8. März 2006 <http://www.uschtrin.de/titus_69.html>.
30 “Once I Lived Near the Wall. . .” Gute Nacht, du Schöne--Autorinnen blicken zurück. Hrsg. Anna Mudry. Frankfurt am Main: Luchterhand, 1991. 15-29.
31 Vgl. Anette Stührmann “Drei Fragen an ... Helga Schütz (Schriftstellerin und Drehbuchautorin)”. Federwelt Newsletter 69. Dezember 2005.  8. März 2006 <http://www.uschtrin.de/titus_69.html>.
32 Blaise Pascal 1623-1662, französischer Mathematiker, Physiker, Literat und Philosoph. Helga Schütz zitiert ihn im Paradies-Roman wie folgt: “In einem Garten ging das Paradies verloren. In einem Garten wird es wiedergefunden" (127).
33 Hammerschmidt 4.
34 Hans Ulrich Stoldt und Klaus Wiegrefe. “‘ Gebirge an Schuld’. Spiegel-Gespräch mit dem Historiker Norbert Frei über den Umgang mit der NS-Vergangenheit, die Rolle der Alliierten beim Aufbau der Demokratie und die Deutschen als Opfer.” Spiegel-Special 4. 2005. 46-49. 46.
35 Ebd. 49.
36 Pethes, Nicolas. Mnemographie. Poetik der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin. Tübingen: Max Niemeyer, 1999. 27.
37 Deleuze, Gilles. Proust und die Zeichen, zit. in Pethes 28.
38 Pethes 28.
39 Vgl. Melcherts Interview mit Helga Schütz.
40 Helga Schütz, zit. in Melcherts Interview.
41 ebd.
42 Vgl. Pethes 28-29.
43 Hannemann 152.
44 Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, wird in dieser Arbeit die Rolle der topographischen Begebenheiten als Schütz' neues Erinnerungsverfahren im Roman Vom Glanz der Elbe nicht diskutiert.
45 Vgl. Anette Stührmann “Drei Fragen an ... Helga Schütz (Schriftstellerin und Drehbuchautorin)”. Federwelt Newsletter 69. Dezember 2005. 8. März 2006 <http://www.uschtrin.de/titus_69.html>.

7.8. Landscapes in the context of societies / Landschaft im gesellschaftlichen Kontext

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For quotation purposes:
Holly Liu: “Vom Glanz der Elbe”: Helga Schütz und Dresden - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/7-8/7-8_liu17.htm

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