TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Juni 2010

Sektion 7.8. Landscapes in the context of societies | Landschaft im gesellschaftlichen Kontextktionstitel
Sektionsleiter | Section Chair: Helmut Pfanner (Lochau, Vorarlberg)

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Sektionsbericht 7.8.

Landschaft im gesellschaftlichen Kontext

Helmut Pfanner (Lochau, Vorarlberg) [BIO]

Email: h.pfanner@gmx.at

 

Was für einen hohen Stellenwert Landschaften im Denken der Menschen einnehmen, ergibt sich schon aus der Tatsache, dass ihre Vorstellungen genauso wie die Menschen selbst einem gesellschaftlichen Wandel unterworfen sind.  Zu den Faktoren, die auf die wandelnde menschliche Vorstellung einer Landschaft einwirken, gehören langsamer Klimawandel und plötzlich auftretende Naturkatastrophen nicht weniger als politische Entwicklungen.  Aus dieser Sicht stellt Landschaft nicht mehr wie in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts einen innere menschliche Empfindungen widerspiegelnde Handlungsraum dar, sondern sie unterliegt dem ständigen Wandel der menschlichen Erinnerung und regt die Betrachter aus der geschichtlichen Perspektive zu ständig neuen Kodifizierungen an.  Dass der Prozess der Kodifizierung nicht auf eine einzige wissenschaftliche Disziplin beschränkt ist, ergibt sich auch aus der modernen Kulturwissenschaft.  Dementsprechend gehen die Arbeiten in dieser Sektion von unterschiedlichen – historischen, geographischen, philosophischen, wirtschaftlichen, soziologischen und literarischen – Fragestellungen aus.

From Alexander von Humboldt to Charles Darwin betitelte Frank Baron  (Max Kade Center in Lawrence, Kansas) seinen Vortrag, worin er mit akribischer Genauigkeit der bisher nur wenig bekannten Beeinflussung des englischen Biologen und Entdeckers durch die Reisebeschreibungen des deutschen Geographen und Botanikers nachging.  Wie Baron konstatierte, gehörten Humboldts Reiseberichte zu Darwins bevorzugter Lektüre sowohl vor seinen als auch während seiner Entdeckungsfahrten. Aus der Korrespondenz der beiden hervorragenden Wissenschaftler des neunzehnten Jahrhunderts spricht die gegenseitige Hochachtung der beiden Männer für ihre Arbeiten und die Tatsache, dass sie sich mit ihren Erkenntnissen über die Natur ideal ergänzten, wobei Humboldt als der ältere den jüngeren Darwin sowohl in der Methode der Betrachtung von Natur und Landschaft als auch in Stil und Sprache nachweisbar beeinflusste. Im Anschluss an seinen Vortrag stellte Baron die an der University of Kansas im Entstehen begriffene Digitalbibliothek zu den Werken von Alexander von Humboldt vor.

Nachdem im ersten Vortrag die Entdeckung und Beschreibung der „Neuen Welt“ eine wichtige Rolle gespielt hatte, fokussierte Nuray Önder von der Universität Izmir in ihrer mit Case Study of the United States betitelten Arbeit ihre Augenmerk ganz auf eines der größten Länder der westlichen Hemisphäre.  Mit ihrer Einteilung der  Vereinigten Staaten von Amerika in vier verschiedene geographische Zonen – der Nordosten, der Süden, der Mittelwesten und der Westen -  zeigte die Vortragende wesentliche Unterschiede in den geographischen, klimatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten dieser Regionen auf.  Dabei zog sich wie ein roter Faden die gegenseitige Abhängigkeit von Landschaft und Gesellschaft und deren Veränderungen im Wandel der Zeiten als das tragende Thema durch ihren Vortrag.

Ähnliches, allerdings auf einen einzelnen Ort bezogen, lässt sich über den hier im Programm angekündigten Vortrag von Norbert Honsza sagen, weil, wie aus dessen vom Sektionsleiter vorgelesenen Abstrakt hervorgeht, die „Stadtlandschaft“ Danzig den zentralen „Erkenntnisraum“ in den literarischen Werken des Nobelpreisträgers Günter Grass darstellt.  Da der polnische, an der Universität Wroclaw emeritierte Germanist, infolge einer schweren Erkrankung nicht persönlich am Kongress teilnehmen konnte, wird er den Beweis für seine These mittels literarischer Beispiele in seinem angekündigten ausführlichen Text für die spätere Veröffentlichung nachliefern.

Geographisch ist es nur ein kurzer Sprung von Danzig nach Hinterpommern, jener Landschaft im Nordwesten von Polen, die im Zentrum des Vortrags von Joanna Flinik (Pommersche Akademie in Slupsk) stand.  Dabei handelt es sich um eine Region, deren gesellschaftliche Zusammensetzung sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts wie kaum eine andere gewandelt hat. Nachdem das Gebiet bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in deutschem Besitz gewesen war, fiel es 1945 an Polen, wobei das unfreiwillige Zusammenleben von früheren Feinden zu dramatischen menschlichen Konflikten führte. Dabei gilt es zu bedenken, dass diese Landschaft nicht nur durch die Abwanderung eines Teiles der deutschen Bevölkerung nur noch in der Erinnerung der nach Westen gezogenen Deutschen weiterlebte, sondern dass auch die in der gleichen Region neu angesiedelten Polen mit ihren Sehnsüchten und Träumen weiterhin ihrer ursprünglichen, aber nun unter sowjetische Herrschaft gefallenen Heimat im Osten von Europa anhingen. Anhand mehrerer literarischer Beispiele wies die Vortragende  nach, wie deutsche Autoren nach ihrer anfänglichen Darstellung ihres traumatischen Heimatverlusts allmählich zu einer Neubegegnung und somit Neukonfrontation mit ihrer einstigen Heimat gelangen und wie anderseits polnische Autoren nach einer anfänglichen Periode der forcierten Tabuisierung des Themas die hinterpommersche Landschaft nach und nach zur Basis eines neu aufkommenden Heimatgefühls machen.

Sowohl geographisch als auch thematisch nahe der obigen Arbeit lag der folgende Vortrag der U.S.-Germanistin Holly Liu über die zeitgenössische deutsche Schriftstellerin Helga Schütz, deren Romane den „Glanz“ der Elbe in den von ihrer persönlichen Vergangenheit geprägten Erinnerungen widerspiegeln.  Teile dieser Erinnerungen bilden nicht nur die traumatischen Erlebnisse des Kindes in der Bombennacht des 13. Februar 1945 in Dresden, sondern auch die Erfahrungen der jugendlichen Autorin als Gärtner-Lehrling in Dresden. Wie die Vortragende überzeugend nachwies, bedeutet für Schütz das Erinnern einer Landschaft nicht nur wie für manche andere heute lebende AutorInnen – dem Sektionsleiter kam dabei der Gedanke an den Bodensee in den Werken von Martin Walser - den an einen bestimmten Ort gebundenen Ausgangspunkt des Erzählens, sondern auch die Fixierung auf einen persönlichen und gesellschaftlichen Neuanfang.

Hier gab es einen gewaltigen geographischen Sprung in die nächste Landschaft, die in sich eine der größten Region der Erde darstellt. Der Blick auf  Sibirien war im Zentrum des Vortrags von Ekaterina Belotsvetova (Assistentin der philosophischen Gemeinschaft der russischen Wissenschaftsakademie), worin es der russischen Wissenschaftlerin vor allem darum ging, Kontinuitäten und Veränderungen in der menschlichen Erfahrung dieses riesigen Landes aufzuzeigen.  Während die Vortragende einerseits auf die negativen Folgen der Ausbeutung Sibiriens aufmerksam machte, verwies sie andererseits auch auf den positiven Aufbau einer globalen Zivilisation in diesem von den Bevölkerungszentren der Erde weit abseits liegenden Gebiet. Der Vortrag erweckte den Eindruck, dass er nicht nur aus der Sicht einer Eingeweihten entstand, sondern auch den Blick von außen enthielt, weil die russische Wissenschaftlerin Sibirien in einen kulturkritischen Vergleich mit dem Westen brachte, der im weitesten Sinne bis zum Ural reicht, und sie das kulturspezifische Natürlichkeits- und Ursprungskonstrukt Sibirien als ein utopisches Kompliment des Westens deutete.

In unweiter Nachbarschaft zum kalten Nordasien stehen aus der vertikalen Sicht auf den Weltball die arktischen Regionen von Europa und Amerika.  In Helmut Pfanners (in Vorarlberg lebender austro-amerikanischer Germanist) Vortrag über diese auch heute noch nicht ganz erforschten Landschaften im Wandel der menschlichen Vorstellung kamen mehrere Werke der deutschen und österreichischen Belletristik - ergänzt durch einen dänischen Roman - zur Sprache, die verschiedene Stufen der raschen Einvernahme dieser Regionen durch politische und wirtschaftliche Mächte verdeutlichen.  Während der deutsche Autor Alfred Döblin zu Beginn der zwanzigsten Jahrhunderts der agrarpolitischen Ausbeutung Grönlands noch einen gewissen demographischen Sinn bei gleichzeitiger Warnung vor deren negativen Folgen zuschrieb, bedeutet für den lebenden Österreicher Michael Köhlmeier der gleiche Ort nur den Hintergrund für seine Bloßstellung eines extremen Individualismus in der modernen Gesellschaft, den er mit den literarischen Mitteln der Postmoderne transparent machte. Eine vorläufig letzte Stufe in dieser Entwicklung findet man in einem Roman des jungen Vorarlberger Autors Hans Platzgumer, für den die arktische Wildnis einen Ort der Umkehr aus den Übeln der modernen Gesellschaft darstellt.

Was allen Vorträgen dieser Sektion einen gemeinsamen Nenner aufdrückt, ist das enge Ineinanderspiel von Landschaft und Gesellschaft und der scharfe Blick auf die wachsende Bedeutung von Landschaften für das innere Erlebnis der Menschen – sei es in Form von Erinnerung oder Neuanfang - sowie ihre zunehmende Bedeutung für die Zukunft der gesamten Menschheit.


7.8. Landscapes in the context of societies | Landschaft im gesellschaftlichen Kontext

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For quotation purposes:
Helmut Pfanner: Sektionsbericht 7.8.:Landschaft im gesellschaftlichen Kontext - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/7-8/7-8_sektionsbericht17.htm

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