Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Januar 2010 |
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Sektion 8.1. |
Prekäre Lebensbedingungen, unsichere Arbeitsverhältnisse – Expansion sozialer Ungleichheiten. Auf dem Weg von der Peripherie zum Zentrum? Sektionsleiter | Section Chair: Rolf-Dieter Hepp (Freie Universität Berlin) |
Diskurse des Prekären. Metamorphosen einer mehrdeutigen Begriffswelt
Rolf-Dieter Hepp (Freie Universität Berlin) [BIO]
Email: kerghepp@gmx.de
Abstract:
Seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts findet eine langsame, unmerkliche Veränderung innerhalb der Gesellschaft statt, die sich vordergründig an den Formen sozialer Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit orientierte und bei der in den letzten Jahren die Begriffe des Prekären und Fragilen sozialer Lagebestimmungen relevant wurden.
Robert Castel hat jüngst in einem Vortrag in Berlin die Frage gestellt, ob und inwieweit Karl Polyanis Theorie der „great transformations“ einen Rahmen liefert, der diese Umorientierungsprozesse und Neukonfigurationen innerhalb der Arbeitsgesellschaft beschreibt.
Während in Frankreich und Italien empirisch und theoretisch konsistente Studien vorliegen (Castel 2000, Boltanski, Chiapello 2003, Eurispes 2005, 2006, 2007, Di Nicola 2007, Di Nicola Mingo 2008), ist in Deutschland aufgrund der Quellenlage und dem empirischen und theoretischen Vorverständnis eine diffuse Lage festzuhalten, die entweder die Brasilianisierung (Beck) oder eine einseitige Zentrierung auf die Armutslagen (Dörre, Brinkmann) in den Vordergrund ihres Blickwinkels rücken.
Deshalb wäre die Frage zu stellen, welchen Aktionsradius dabei die Begrifflichkeiten jeweils gewinnen und inwieweit auch gerade durch empirisch nicht gesättigte Prädispositionen der Blick auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse gelenkt wird. In dem Vortrag soll andiskutiert werden, welche Argumente sich eher auf soziale Randlagen beziehen, ob und über welche Transmissionsmuster der Begriff des Prekären in den Mittelpunkt gesellschaftlicher und sozialer Konfliktpotentiale einschreibt.
In den letzten zwanzig Jahren sind sowohl eine sukzessive Demontage der Normalarbeitsverhältnisse, wie auch eine Zunahme unsicherer Arbeitsverhältnisse zu registrieren. In Deutschland bilden zwar weiterhin noch Normalarbeitsverhältnisse den Großteil der Arbeitsverhältnisse, bei Neueinstellungen hat sich dieses Verhältnis aber bereits umgekehrt. Dies sind nicht mehr zu ignorierende Anzeichen einer Neuordnung der Sozialstruktur, da in bisher gewohnte soziale Zusammenhänge nachhaltig eingegriffen wird. Bisher gültige gesellschaftliche Realitäten werden umgeformt und neu geordnet. Ähnlich verlaufende Prozesse lassen sich auch in anderen Kernländern der EU, wie Frankreich, Italien und Großbritannien beobachten. Aufgrund unterschiedlicher nationalstaatlicher Ausgangsbedingungen, Machtkonstellationen und Ausgangssituationen setzen sich die Mechanismen dieses allerdings nicht identisch durch, sondern bringen unter ähnlichen Ausgangsbedingungen voneinander abweichende Ausprägungen und Differenzierungen hervor.
Integrationsprobleme der Gesellschaften wurden begrifflich bisher zumeist in den Randzonen der Gesellschaft verortet und Gruppen zugeordnet, die aufgrund ihrer sensiblen Position innerhalb der Sozialstruktur das höchste Risiko eines Scheiterns tragen. So konnte spezifischen Konfliktebenen eine Außenperspektive zugeordnet werden, die von dem integrierten Teil der Gesellschaft nur peripher wahrgenommen wurde. Michael Vester (2001) macht anhand der deutschen Gesellschaft darauf aufmerksam, dass gerade der integrierteste Teil der Gesellschaft, die traditionellen Leistungsträger, kaum in der Lage sind, mit Formen gesellschaftlicher Unsicherheit adäquat umzugehen, da diese ihren Lebensentwürfen konträr entgegenstehen. Wenn aber kollektiv geltende Normen innerhalb einer Gesellschaft, die sich durch Arbeit definiert, erodieren, zerfallen Gewissheiten, Orientierungsrahmen und Verhaltensmodi. Der soziale Raum, erprobte Normen und scheinbar bisher sichere Lebensvollzüge und Perspektiven werden in Frage gestellt und verlieren ihre Berechenbarkeit für den Einzelnen.
Wenn der Begriff der Prekarisierung formal dahingehend definiert wird, dass die Lebenssituation des Einzelnen unter ein spezifisches Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken muss, welches in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird (Dörre 2006), läuft man Gefahr, dass die den gesellschaftlich fixierten Vorgaben zugrunde liegenden sozialen Verschiebungen lediglich auf die Armutsfrage reduziert bleiben. Gesellschaftlich werden dann die Probleme schwerpunktmäßig auf Außenseitergruppen ausgerichtet, so dass diese Betroffenenkreise nunmehr in das Zentrum des Interesses sozialstruktureller Umstellungen geraten. Honorarverträge, Zeitarbeitsverträge, Teilzeitarbeitsverträge, Beschäftigungsrisiken und unsichere Lebensverhältnisse fallen dann, soweit sie nicht die Armutsfrage unmittelbar tangieren, potentiell aus dem Kreis der Fragestellungen sozialer Unsicherheit heraus. Problembereiche, wie Arbeitsplatzunsicherheit, Sinnverlust, Anerkennungsdefizite oder Planungsunsicherheiten können dann in eine analytische Konzeption struktureller Veränderungen nur unzureichend aufgenommen werden. Gleichwohl bestimmen, beeinflussen und definieren sie in ihrer Umformungen sozialer Strukturen die Thematik der Prekarisierung entscheidend mit. Werden daher die verschiedenen Variablen der Wandlung und Veränderung sozialer Strukturen nicht gleichwertig diskutiert, besteht die Gefahr, dass mit alten Mitteln, Methoden und Rezepten einem qualitativ neuen Konfliktpotential innerhalb der Gesellschaft begegnet wird, bei dem sich der Konflikthorizont auf immer schon bekannte Phänomene reduziert.
Umstrukturierungen des Arbeitsmarktes durch Abbau von Normalarbeitsverhältnissen und eine rasante Zunahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse tragen Prekarisierungstendenzen in die soziale Ordnung hinein. Qualitative Veränderungen treffen innerhalb des Arbeitsprozesses auf spezifische soziale Bedingungen, über die sich die Sozialsysteme in der europäischen Gesellschaft, insbesondere im 20. Jahrhundert, entwickeln konnten. Diese Gemengelage kennzeichnet die besondere Situation, unter der sich in den entwickelten Gesellschaften und den mit ihnen einhergehenden sozialen und normativen Selbstverständigungsdimensionen derartige Neu- und Umorientierungen durchsetzen konnten. Die stattfindenden qualitativen Verschiebungen betreffen die Sozialstruktur insgesamt, ordnen sie um und bewerten sie neu. In der Diskussion um Formen der Prekarisierung sollte es daher nicht darum gehen, die alten Arbeitsverhältnisse zu restaurieren, sondern soziale Komponenten des Zusammenhangs und der Errungenschaften der Gesellschaft als Erbe einer Zivilgesellschaft zu stärken. Die bisherigen sozialen Komponenten, wie sie sich unter den Konditionen der europäischen Entwicklung herausbildeten, stellen ein wesentliches Element des gesellschaftlichen Zusammenhangs dar und bilden in actu über die Arbeitsgesellschaft vermittelte Kriterien und Dimensionen sozialer Befriedung, durch die Stabilitätseffekte produziert werden. Indem die Sozialkosten in den meisten europäischen Ländern aus den Lohnkosten resultieren, wird ein Teil des Gesamtlohns der Arbeitenden als Sozialabgaben abgeführt.
„Deshalb kann man keineswegs sagen, daß diese Sozialversicherungen die Wirtschaft belasten wird, daß sie den Selbstkostenpreis der Wirtschaft erhöhen wird. Da in Wirklichkeit die Sozialversicherung nichts weiter als eine bestimmte Weise ist, nichts anderes als einen Lohn auszubezahlen, belastet sie die Wirtschaft nicht. Besser noch, sie gestattet im Grunde, die Löhne nicht zu erhöhn, und folglich bewirkt sie eher, daß die Kosten der Wirtschaft erleichtert werden, indem sie die sozialen Konflikte mildert und ermöglicht, daß die Lohnforderungen weniger einschneidend sind. Das sagte Laroque 1947, 1948, um die Funktionsweise der Sozialversicherung zu erläutern, die er selbst geregelt hatte.“ (Foucault, 2006, S. 279).
Der momentane Wandlungsprozess, dem die europäischen Gesellschaften ausgesetzt sind, speist sich in erster Linie aus Umgestaltungen und Transformationen innerhalb der Ökonomie und des Arbeitsprozesses. Während einerseits versucht wird, mit althergebrachten Methoden und Rezepten auf dieses neue Anforderungspotential zu reagieren, bilden sich andererseits innerhalb der sozialen Zusammensetzungen weitgehende Umstrukturierungen und Lageverschiebungen heraus, die die sozialstaatlichen Grundlagen herausfordern. So bilden neue Muster sozialer Verunsicherungen und prekärer Lebensverhältnisse einen relevanten Faktor innerhalb der gesellschaftlichen Realität.
Arbeit übernimmt in den modernen Gesellschaften eine herausragende Position, da über ihre Funktionszusammenhänge die Positionen der Individuen und deren Teilhabe an dem gesellschaftlichen Lebensprozess geregelt werden. Soziale Garantien sind über die Sozialversicherungen für den Großteil der Akteure sehr eng mit Normalarbeitsverhältnissen verbunden, so dass Sozial- und Schutzrechte unmittelbar an Arbeitsplätze gekoppelt sind. Robert Castel (2000) betrachtet die Trennung zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Nichtarbeitsplatzbesitzern als eine Tendenz, die sich zu einer qualitativ neuen Barriere und Trennungslinie innerhalb der Gesellschaft entwickeln kann und somit neue Spaltungen und „Zonen“ mit ihnen inhärenten Effekten der Ausgrenzung und Abkopplung hervorbringt.
Solange die Umorientierungen unter den Gegensatzpaaren Vollbeschäftigung/ Anforderungen des Arbeitsmarktes (und der neuen Ökonomie), Stillstand/ Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Beharrung/ Veränderung, altes/ neues Denken, Sicherheit/ Unsicherheit interpretiert werden - wobei die Situation der sechziger Jahre entweder als wiederzugewinnender oder zu überwindender Referent dient, um alte Verhältnisse anzuprangern oder zu restaurieren - stagniert sowohl die Situation als auch die Analyse. Es geht darum, Instrumente durch Verobjektivierung zu gewinnen, mittels derer das Risiko- und Konfliktpotential, das die momentane Situation in sich trägt, adäquat analysieren zu können.
Die neuen Formen sozialer Ungleichheit geraten nach einem langen Verdrängungsprozess allmählich in die öffentliche Diskussion. Begriffe wir Prekarisierung, Inclusion, Exclusion werden dabei aus dem französischen Theoriehorizont adaptiert, ohne dass der diesen Begriffen zugrunde liegende diskursive methodische Hintergrund mitreflektiert wird. Dadurch kommen Verkürzungen in die deutsche Diskussion hinein, bei denen die Prekarisierungsproblematik im Gegensatz zur internationalen Diskussion wieder auf klassische Formen der Armutsproblematik reduziert wird. Die Ebenen der Umschichtung der Sozialstruktur, wie die Mittel und Ebenen der Aneignung stehen damit als politische soziale und kulturelle Dimensionen zur Disposition.
Parallel zu den Veränderungen innerhalb der Arbeitswelt, die durch die Metaphern „Entgrenzung“ und „Bewegung“ charakterisiert sind, erfolgt europaweit seit einigen Jahren ein sukzessiver Umbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme, in dessen Konsequenz soziale Sicherheit von einer kollektiven in eine individuelle Angelegenheit transformiert wird.
„Gerade in Deutschland reproduzieren die sozialen Sicherungssysteme durch ihre Beitragsabhängigkeit Ungleichheiten der sozialen Lage, wie sie durch das Erwerbssystem vorgegeben sind.“ (Kronauer 2006, S. 30)
Im Zentrum dieser Bemühungen steht die Entwicklung eines komparatistischen Instrumentariums, das einerseits „soziale Unsicherheit“ als theoretischen Rahmen und Bezugsgröße definiert, jedoch andererseits deren unterschiedliche und spezifische Formen und Kontexte exakt aufzeichnen und interpretieren kann, ohne dabei die landestypischen Problematiken innerhalb der Analyseraster zu eliminieren.
Das Forschungsinteresse richtet sich nicht mehr nur auf traditionelle Formen sozialer Unsicherheit wie etwa Arbeitslosigkeit, sondern konzentriert sich auf Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse, die in einem hohen Maß von Transformationen geprägt sind und die eine ungewisse Zukunft implizieren. Dieses Interesse erhält seine Prägnanz aus der aktuellen Tendenz einer „Expansion“ sozialer Unsicherheiten.
Die Elemente der Umstrukturierung der Arbeitswelt wie die Zunahme befristeter Arbeitsverträge und Teilzeitarbeit, Outsourcing und Outplacement und die Veränderungen der Anforderungen an die Beschäftigten, wie hoher Grad an Autonomie, Flexibilität, Verfügbarkeit und die permanente Erweiterung beruflichen Fachwissens treten in den verschiedenen europäischen Regionen in unterschiedlichen Formen und Facetten auf. Die sich daraus entwickelnden Ausprägungen prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse unterliegen in den jeweiligen Kontexten jeweils einer anderen Hierarchie, erfordern somit differenzierte Betrachtungsweisen bei der Erfassung ihrer Ausprägungen und deren Bewältigungsstrategien.
Im Unterschied zu Italien und Frankreich sind diese Aspekte bisher in Deutschland wenig beachtet. Innerhalb einer Untersuchung der deutschen Situation müsste erst Datenmaterial derart gewonnen und aufbereitet werden, dass nachvollzogen werden kann, welchen konkreten Stellenwert atypische Arbeitsverhältnisse und die sie begleitenden sozialen Effekte in Deutschland konkret entfalten. Während in Frankreich und Italien empirisch und theoretisch konsistente Studien vorliegen (Castel 2000, Boltanski, Chiapello 2003, Eurispes 2005, 2006, Di Nicola 2007, Di Nicola Mingo 2008), ist in Deutschland aufgrund der Quellenlage und dem empirischen und theoretischen Vorverständnis eine diffuse Lage festzuhalten, die entweder die Brasilianisierung des Arbeitsmarkts (Beck 2007) oder eine einseitige Zentrierung auf die Armutslagen (Brinkmann, Dörre, Röbenack 2006) in den Vordergrund ihres Blickwinkels rücken.
Deshalb wäre die Frage zu stellen, welchen Aktionsradius dabei die Begrifflichkeiten jeweils gewinnen und inwieweit auch gerade durch empirisch nicht gesättigte Prädispositionen der Blick auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse gelenkt wird. Hier wäre genau festzuhalten, welche Argumente sich eher auf soziale Randlagen beziehen und ob und über welche Transmissionsmuster der Begriff des Prekären sich in den Mittelpunkt gesellschaftlicher und sozialer Konfliktpotentiale einschreibt. Aus derlei unterschiedlichen Perspektiven ergeben sich völlig verschiedene Blickwinkel dieses Problems, die sich dadurch auszeichnen, dass sie dies jeweils unterschiedlich einschätzen und gewichten. Wenn nur Randgruppen betroffen wären, die genau beschrieben und eingegrenzt werden können, liegen völlig andere Perspektiven vor, als wenn der gesamte soziale Raum von den Phänomenen der Fragilisierung und Prekarisierung durchschritten wird.
Die Prekarisierung, so wie sie von Castel analysiert wird, umfasst nicht nur „klassische“ Armutsfälle, sondern auch die Faktoren, wo durch Umstellungen innerhalb der Erwerbssituation plötzlich unerwartete soziale Situationen auftauchen, mit denen die Akteure nicht gerechnet haben und die in ihrer Zukunftsplanung nicht integriert waren. Indem unbefristeten Arbeitsverträge zur Norm innerhalb einer „fordistischen“ Gesellschaft wurden, lieferten sie die Imagination/ Vorstellung/ Ilusio einer Beschäftigungssicherheit, die trügerisch auf die Zukunft projiziert wurde.
„Das hat den Großteil der Beschäftigten während der Jahre des Wirtschaftswachstums nicht daran gehindert, ihr Verhältnis zur Anstellung als Gewißheit zu erleben, die Zukunft beherrschen und langfristige Entscheidungen, etwa in Form von Investitionen in dauerhafte Güter oder der Aufnahme von Baukrediten, treffen zu können. Nach dem Konjunkturumbruch wird das Schuldenmachen als eine üble Hinterlassenschaft der Wachstumsperiode erscheinen, welche zahlreiche Lohnabhängige in die Prekarität zu stürzen vermag.“ (Castel 2000, 341)
Dadurch wird das soziale Selbstverständnis der Individuen ihre Kompetenz, ihre Individualität, ihre Subjektivität, ihre Fähigkeit ihre eigene Zukunft zu gestalten in Frage gestellt, da diese von den individuellen Kompetenzen abgelöst und auf den Arbeitsmarkt und dessen Ungewissheit übertragen wird. Die hieraus für den Einzelnen entstehenden neuen finanziellen Konditionen, die aus den ökonomischen Veränderungen resultieren, werden nunmehr gegen ihn gewendet, da Schulden und finanzielle Belastungen auf Fehlkalkulationen beruhen, für die die Akteure haften und verantwortlich gemacht werden. Umstrukturierungen Einkommenseinbußen wie z.B. die Pendlerpauschale, die auf steuergesetzlichen Änderungen basiert, sorgen dafür, dass auf einmal finanzielle Planungen brüchig werden und prekäre Lebensumstände in die Lebenszusammenhänge eindringen und diese ausrichten. Die Sphäre der Verwundbarkeit dehnt sich damit auch potentiell auf diejenigen Teile der Bevölkerung aus, die sich noch in scheinbar gesicherten Bahnen bewegen. Die Zone einer „virtuellen Verwundbarkeit“ dehnt sich unmerklich aus und erreicht scheinbar integrierte Schichten, die große Schwierigkeiten haben innerhalb eines Fokus von Schulden und Unsicherheit zu agieren.
„Die Milieus der respektablen Mitte der arbeitenden Klassen, die mit fast 70 Prozent die große Mehrheit der Bevölkerung bilden, zeichnen sich durch ein besonderes Pflicht- beziehungsweise Arbeitsethos aus. Gerade dadurch sind sie meist weniger flexibel und nun gerade gefährdet. Sie grenzen sich von den Unterprivilegierten seit je dadurch ab, dass sie ich Leben auf beständige und rechtschaffene Arbeit und Lebensführung gründen. Dieses Kapital der Ehre war in den Jahren des Wirtschaftswachstums ihr Erfolgsrezept. Heute ist es oft ein Problem. Unbeständige und gering qualifizierte Arbeit anzunehmen, ist für sie eine Zumutung. Sie entspräche nicht ihrer Identität und bedeutetete für sie Stigmatisierung.“ (Vester 2006, S. 273).
Bei der Deskription dieser neuen und spezifischen Formen von Unsicherheit, die in zunehmenden Maße die Sozialstruktur durchziehen und Veränderungen hervorrufen, erklären verbreitete Modelle wie etwa das Gegensatzpaar Inklusion/Exklusion oder das Armutskriterium nicht mehr treffend die aktuelle Dynamik. Deshalb ist es ein Ziel des internationalen Austausches neue Beschreibungsmodelle zu konstruieren, in denen die Effekte, die von der Neuordnung der Sozialstruktur ausgehen, adäquat berücksichtigt werden.
Die sozialen Veränderungen, die mit dem Begriff der Prekärität gedacht werden und somit mit ihm zusammenfallen scheinen, werden unter den Prämissen einer Verschiebung diskutiert. Sie benennen ein mehrdimensionales Konglomerat von Veränderungspotentialen, das in seiner Mehrschichtigkeit und Vielfältigkeit nicht ein spezifisches Element oder eine genaue Lagebestimmung benennt, sondern Strukturierungspotentiale impliziert, die auf die Fragilität und Veränderungsprozesse insistieren und die den gegenwärtigen Stand der soziostrukturellen Umformungs- und Umstellungsprozesse in den europäischen Ländern kennzeichnen. Hierbei handelt es sich nicht um einfache Modifikationen oder partielle Phänomene, sondern um Einschnitte in die Form der soziostrukturellen Zusammensetzung, die deren innere Stabilität und Zusammensetzung tangieren. Die innere Ordnung einer Arbeitsgesellschaft wird hierdurch in ihrem Zentrum nicht nur legitimatorisch, sondern auch in ihren Funktionsweisen qualitativ getroffen. Das Besondere dieses Phänomens liegt darin, dass von diesen Umstellungsstrategien, die die aktuelle Situation kennzeichnen, nicht nur diejenigen betroffen sind, die sich über unsichere Arbeitsverhältnisse reproduzieren oder Arbeitslose, sondern dass in den Ausweitungen dieser Phänomene eine Fragilisierung der sozialen Verhältnisse insgesamt angelegt ist.
„Exklusion ist nicht das Fehlen von sozialen Beziehungen, sondern die besonderen Beziehungen zur Gesellschaft, verstanden als einem Ganzen. Es gibt niemanden außerhalb der Gesellschaft, sondern nur eine Gesamtheit von Positionen, deren Beziehungen zum Zentrum mehr oder weniger straff gespannt sind: vom ehemaligen Arbeitnehmern, die nun Langzeitarbeitslose geworden sind, Jugendlichen, die keine Stelle finden, Bevölkerungsgruppen mit mangelnder Schulbildung, schlechten Unterkünften, schlechter Gesundheitsversorgung, geringem Ansehen usw. Es gibt keine klare Trennungslinie.“(Castel 2000, 385)
Genau hierin liegt das Besondere dieser Phänomene, dass sie sich in einer Konkretisierung auf eine spezifische Form entwickelter kapitalistischer Gesellschaften beziehen, die in dem Zusammenspiel der verschiedenen Elemente und Faktoren ihre spezifische Ausrichtung und ihre Vektoren erst gewinnen. Diese Gemengelage innerhalb dessen das Soziale seine Konsistenz gewinnt, ist der Ausgangspunkt des reflexiven Denkens eines bourdieunahen Paradigmas. Martin Kronauer sieht hier allerdings einen blinden Punkt, da er davon ausgeht, dass Castel einen theoretischen Referenzpunkt als ein idealtypisches Paradigma außerhalb dieser Ordnung benötigt, um eine fundierte Kritik leisten zu können.
„Unbefriedigend erscheinen all diese Versuche deshalb, weil sie einen theoretisch blinden Fleck hinterlassen. Auch die Vorstellung der Verletzbarkeit und Brüchigkeit setzen noch eine Klärung dessen voraus, was Verletzung und Bruch bedeuten; Ausgrenzung als Prozess ist nicht zu verstehen, ohne einen Begriff von dem Fluchtpunkt zu haben, auf den (die) er hinausläuft.“ (Kronauer 2008, S. 151)
Martin Kronauer verlangt einen vorgelagerten Fixpunkt jenseits der Analyse des Sozialen, um dieser ihren theoretisch angemessenen Ort zuweisen zu können. Verletzlichkeit und Brüchigkeit setzen einen Zustand voraus, der als Referent sich über die Unverletzlichkeit und Stabilität legitimiert. Aber bei Castel wird dies nicht über diese Referenten begriffen, sondern über die Konstitutionsbedingungen sozialer Unsicherheit, die zwischen differierenden Polen flottiert. Wäre ein derartiger Referent vorhanden, würde unter der Hand wieder ein normativ besetzter theoretisch legitimierter Begriff des Allgemeinen diskursiv dem Sozialen seinen Ort zuweisen, der aus der Eigenreferenz wissenschaftlicher Objektivität resultiert; aus dem was Bourdieu als scholastisches Erbe begreifen würde, das die Sozioanalyse, der sich auch Castel verpflichtet sieht, zu überwinden trachtet. Ebenso verortet er Castels Leistung darin ein übergelagertes theoretisches Konstrukt entwickelt zu haben, das diametral den Zurechnungsleistungen gegenüberstehen würde.
„Die Analyse von Exklusion als Prozess geht, um Castels Unterscheidung aufzugreifen, von der „Zone der Entkoppelung (désaffiliation)“ über die „Zone der Verwundbarkeit (vulnérabilité)“ hin zur „Zone der Integration“. Hier wendet sich der Blick und geht zurück vom „Zentrum“ zu Marginalität und „Entkoppelung“. Erst damit kann einsichtig werden, dass und wie Ausgrenzung von Akteuren und Institutionen betrieben wird.“ Kronauer 2006, S. 35f.)
Indem hier Empirie im Sinne einer vagen Wahrnehmungstendenz interpretiert wird und sich an den Unqualifizierten als Referenten orientiert, was über entsprechende Verdichtungen und Verschiebungen geleistet wird, wird diese gegen die theoretische Argumentation gewendet, da Castel laut Kronauer erst über die Reflexion, den Weg der Abstraktion auf das Zentrum als Ursache der Veränderungen innerhalb der Sozialstruktur geschlossen werden kann. Die Umstrukturierungen innerhalb der Arbeitszusammenhänge wird hingegen nicht als relevantes empirisches Faktum gesehen, was mit den Entkoppelungs- und Verwundbarkeitsprozessen konfiguriert, so dass die Deintegrationsprozesse über den Arbeitsmarkt schwerpunktmäßig von Martin Kronauer in den Mittelpunkt seiner Argumentation gestellt werden, anstatt die Veränderungen innerhalb der Produktion als empirisch fassbares Phänomen in die Argumentationskette zu integrieren..
Schon Marx machte darauf aufmerksam, dass die deutschen in der Rezeption französischer Texte politischen Akteure in transzendentale Subjekte transponieren. Ein ähnlicher Fall scheint bei der Prekaritäts- und Exklusionsdebatte vorzuliegen, wenn aus den Prekaritätssymptomen bereits auf ein Prekariat geschlossen (vgl. z.B. Bude 2008) wird. Pierre Bourdieu weist in seiner Auseinandersetzung mit Marx darauf hin, dass zwischen Klassen und deren Zuordnungen auf dem Papier und in der Realität eine Kluft besteht, die reflexiv berücksichtigt werden muss. Die Aktualität des Marxschen Denkens lässt sich auch gerade an den Übertragungsmechanismen aufzeigen, wenn aus dem aus der französischen Diskurs übernommenem Phänomen der Prekarisierung dann gleich ein Prekariat wird, ohne dass dessen Einbindung und diversen Formen mit den sie begleitenden Effekten innerhalb des deutschen sozialen Raums adäquat und differenziert analysiert worden ist.
In den Formen einer derart strukturierten Herangehensweise gewinnt die deutsche Diskussion um die Ausgrenzungsproblematik eine eigene Dimension, da sie nicht nur verspätet, sondern auch unter ganz spezifischen Bedingungen einsetzt. Dies betrifft sowohl die soziologische Herangehensweise, die sich immer noch aus einem universalistischem Anspruch speist, wie auch aus dem Gebrauch scheinbar identischer Begrifflichkeiten, die in unterschiedliche theoretische Kontexte eingebunden sind. Dies lässt sich am Individualisierungsbegriff illustrieren.
„Innerhalb des theoretischen Ansatzes von Durkheim sind Individualisierungstheoreme gesellschaftlichen Vermittlungsdimensionen geschuldet und werden über diese gebrochen analysiert, da sie sich gesellschaftlich erst im Rahmen von Differenzierungen herausbilden können, wobei sie in ihren Äußerungen den Ausdifferenzierungen der sozialen Zusammenhänge verbunden bleiben und über diese reflektiert werden. Mit der Arbeitsteilung differenziert sich der soziale Raum und schafft eigene soziale Unterteilungen, Abgrenzungen, Lebensstile und Verfeinerungen, die sich wiederum auf die Gesellschaft als Gefüge in ihren Verknüpfungen, Beziehungen und Verkettungen zurück beziehen, da sie durch die Arbeitsteilung miteinander vermittelt sind und somit ein solidarisches Band von Interdependenzen, gegenseitigen Verpflichtungen und Abhängigkeiten knüpfen. Insofern bildet sich das Individuum bei Durkheim historisch im Rahmen sozialer Differenzierung heraus, über die ihm im Rahmen arbeitsteiliger Beziehungen erst die Möglichkeit einer Individualisierung eröffnet wird. Damit bildet das Konzept der Individualisierung bei Durkheim ein Gegenkonzept zu deren Verständnis im deutschen Raum. Dies lässt sich anhand von Ulrich Beck illustrieren, der zwar ebenso wie Durkheim für sein Individualisierungskonzept die Bedeutung der Loslösung von traditionellen Formen sozialer Besetzung hervorhebt. Während Durkheim diese traditionellen Formen mit einer mechanischen Solidarität, die auf Ähnlichkeit und geringer Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung beruht, begründet, ist für ihn die moderne Gesellschaft durch die organische Solidarität gekennzeichnet, die auf einer Ausdifferenzierung des sozialen Raums und der Arbeitsteilung basiert. Bei Beck ist gerade diese Ausdifferenzierung der Grund dafür, dass die Individuen ihre sozialen Wurzeln verlieren und sich von ihren sozialen Herkunftsmilieus entfernen und entfremden. Dadurch lösen sich die Individuen tendenziell von den sie umgebenden gesellschaftlichen Kontexten ab, erfahren durch die Individualisierungsprozesse ein Jenseits, eine Orientierungslosigkeit – eine Distanz – und finden sich im „Außen“ wieder, dass sich durch „Oberflächlichkeit“ und „Unwirklichkeit“, im Sinne Heideggers als „Seinsvergessenheit“ charakterisieren lässt.“ Hepp 2007, S. 156f.)
Wenn Individualisierung bei Beck als Loslösung aus den sozialen Koordinaten begriffen wird, befinden sich die Individuen in einem sozialen Raum, der jenseits sozialer Klassen, Gruppen und Milieus anzusiedeln ist, während bei Durkheim die Individualisierung auf soziale Räume und Konstellationen bezogen werden. Die sich innerhalb der Ausdifferenzierung sozialer Klassen und Gruppen bewegen. Hierbei sind die Begriffe innerhalb eines jeweils anders besetzten theoretischen Bezugsgerüsts anzusiedeln, bei dem die Gefahr besteht, dass der mittransportierte theoretische Hintergrund nicht mehr adäquat berücksichtigt wird, da die entsprechenden Transpositionsleistungen fehlen. Hierdurch ergeben sich spezifische Richtungswechsel innerhalb des Verständnisses der Prekarisierungsmodi, die die Diskurse kennzeichnen.
Indem Begriffe im Wissenstransfer unterschiedliche Bedeutungen zugeschrieben bekommen, unterliegen sie Transformationen, die ihre Anwendung, ihren Gebrauch und ihr Leistungsfähigkeit erheblich einschränken, umorganisieren, variieren und umformen. Damit erfahren diese Begrifflichkeiten Mehrdeutigkeiten und werden verwaschen und unpräzise. Aber nicht nur die theoretische Aufarbeitung der Prekarisierungsproblematik verweist auf Differenzen und Unterschiede hin, sondern der gesamte gesellschaftliche Raum ist durch einen spezifisch deutschen sozialstaatliches Verständnis im Umgang mit sozialen Problemen und Konflikten geprägt, bei denen Verdrängungen und Verschiebungen eine entscheidende Rolle spielen. „Gerade weil Ausgrenzung in Deutschland so lange so gut funktionierte, musste sie nicht thematisiert werden.“ (Kronauer, 2006, S. 27) Die Befriedungsstrategien, die Kronauer hierbei unterstellt sorgen über Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder nunmehr Hartz IV-Bezüge (Arbeitslosengeld 2) für eine funktionale Differenzierung, die ein Binnenverhältnis zwischen Drinnen und Draußen, Inclusion/ Exclusion beinhaltet, über das die Problemzonen innerhalb der Gesellschaft gestreut werden. Ob derlei akkurate Teilungen auch eingehalten werden, ist ein Punkt, an dem die französische und italienische Sozialwissenschaft andere Schwerpunkte setzt.
Sicherlich verweist die Ausgangssituation in Deutschland auf spezifische Entwicklungsmuster und –tendenzen hin, aber diese sind integraler Bestandteil des Machtverhältnisses und –gefälles innerhalb der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, durch die sich die konkreten Durchsetzungsbedingungen innerhalb der verschiedenen europäischen Länder unterschiedlich verankern und durchsetzen und unter diesen Modi auch auf die reflexive Aufarbeitung dieser Problemhorizonte Einfluss haben.
Andreas Willisch stellt heraus, dass aufgrund der besonderen Problemlage in Deutschland die Problematik sozialer Ausgrenzung nicht angemessen, bzw. erst verspätet wahrgenommen wurde. „Die deutsche Diskussion kommt nicht zuletzt wegen der Integrationsprobleme im Zug der deutschen Einheit etwas verspätet und ohne eine angemessene Begrifflichkeit.“ (Willisch, 2008, S. 64)
Seltsamerweise zieht er hieraus den Schluss, dass die deutsche Soziologie hierdurch die Chance hätte, konkretere und erweiterte Begrifflichkeiten zu entwickeln.
„Für die deutsche Soziologie kann der Umstand, dass die nationalorientierten Begriffe der Ausgrenzung erweitert bzw. genauer justiert werden, von Vorteil sein, um nicht nur Anschluss an die Scientific Community herstellen zu können, sondern auch eine kategoriale Vorstellung eines anschlussfähigen deutschen Begriffs entwickeln zu können. (Andreas Willisch 2008, S. 64)
Das castelsche Verfahren basiert darauf, über Konstruktionen des Sozialen, die mit empirischen Material gesättigt werden, genau zu sehen, wie sich das Soziale sortiert, welche Gegensätze und Oppositionsbeziehungen produziert werden, um aus einer konkreten Analyse dieser Situation Entwicklungstendenzen zu eruieren. In der deutschen Diskussion wird hingegen auf eine Stabilität rekurriert, die selbst bei kritischen Reflexionen auf den Veränderungsprozess als Referenzpunkt dient.
„Die wirtschaftliche Situation der Mehrheit der Erwerbsbevölkerung ist relativ stabil. Die Gefahren sozialer Exklusion konzentrieren sich bislang weitgehend auf bestimmte Gruppen und Milieus der Arbeiterschaft bzw. auf absteigende Branchen und deindustrialisierte Regionen. Dass die Diskussion hierzulande erst jetzt an Intensität gewinnt, hat vor allen Dingen damit zu tun, dass die gesellschaftliche Situation hierzu bislang weniger Anlass gab, als andernorts.“ Vogel 2008, S. 155
Dörre hat zwar einen ähnlichen Ausgangspunkt, wenn er herausstellt, dass die Zone der Integration zwar schrumpft, aber immer noch Stabilität suggeriert.
„Die oberen und mittleren Ränge der Arbeitsgesellschaft sind noch immer in einer – allerdings schrumpfenden – „Zone der Integration“ mit formal gesicherten Normbeschäftigungsverhältnissen angesiedelt“ (Dörre 2005, S. 5)
Hier wäre die Frage zu stellen, inwieweit Selbstdistinktionsmuster zum Ausgangspunkt der Analyse werden, so dass Verkennung einer Eingebundenheit in soziale Umwälzungsprozesse selbst noch einmal Ausdruck eines Selbstverständnisses ist, dass eine Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Konfliktpotentiale setzt. Dies wird gerade dadurch unterstützt, dass Veränderungen des gesellschaftlichen Konfliktpotentials innerhalb der Sozialstruktur in erster Linie über Armuts- und Ausschließungsprozesse interpretiert wird.
„Als prekär kann ein Erwerbsverhältnis bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird. Und prekär ist Erwerbsarbeit auch, sofern sie subjektiv mit Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheit in einem Ausmaß verbunden ist, das gesellschaftliche Standards deutlich zuungunsten der Beschäftigten korrigiert.“ (Brinkmann, Dörre, Rebenack, 2006, S. 17)
Hierbei findet eine Verschiebung des Problemhorizonts statt, da die Armutsfrage zum handhabbaren Messinstrument erklärt wird und über ihre Folie die Problemhorizonte eröffnet werden, so dass dieser Zugriff die Erklärungsmuster entscheidend mitstrukturiert.
„Wenn eine prekäre Lebenslage erst dadurch definiert wird, dass derjenige, der unter sie subsumiert wird, unter ein Minimum an Schutz-, Integrations- und Einkommensniveau sinken muss, das jenseits des gesellschaftlichen Durchschnitts angesiedelt ist oder wird, zentriert sich die Prekarisierungsdiskussion in erster Linie auf die Armutsdiskussion und setzt diese unter neuen Vorzeichen durch. Dabei gerät dann gerade die besondere Dimension des gesellschaftlichen Umorientierungsprozesses außerhalb des Fokus bzw. gewinnt nur noch als Randbedingung Einlass in die Wahrnehmung des Prekarisierungsprozesses. Die sich hierin ausdrückende Verschiebung innerhalb der sozialstrukturellen Zusammensetzungen strukturiert, produziert und kombiniert erst in dem Zusammenspiel und der Vernetzung unterschiedlicher Bereiche diese neue Qualität gesellschaftlicher Auseinandersetzungsmodi.
Die Integrationsprobleme der Gesellschaften werden analytisch zumeist in der Peripherie verortet und den nicht integrierten Gruppen zugeordnet, die aufgrund ihrer sensiblen Position das höchste Risiko des Scheiterns tragen. Dadurch wird diesen Konfliktbereichen eine Außenperspektive zugeschrieben. Die Gefahr des Zersetzungsprozesses wird somit dem Außen, dem Fremden zugeordnet, so dass die Problemzusammenhänge außerhalb des Zentrums der Gesellschaft angesiedelt werden.“ (Hepp 2007, S. 151)
Die Zeitschrift der Spiegel wies anhand ihrer Berichterstattung über die Hartzdemonstrationen darauf hin, dass diejenigen, die demonstrieren würden, kaum negativ von der Agenda betroffen sein würden, da sie Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslose seien. Betroffen wäre der vom Abstieg bedrohte Mittelstand, gegen den sich das Gesetz im Fall einer Arbeitslosigkeit richten würde und der die Tragweite einer potentiellen Betroffenheit (noch) nicht wahrnehmen würde. Wenn man die Argumentation des Spiegels ernst nimmt. sind die Veränderungstendenzen innerhalb der Sozialstruktur darauf ausgerichtet, nicht nur säuberlich die unqualifizierten Sektoren zu treffen, sondern diese Umstrukturierungstendenzen streuen und setzen sich in den unterschiedlichen Sektoren der Gesellschaft fest. Dort treffen diese Umstrukturierungen auf verschiedene Milieus mit differenzierten Verarbeitungsformen, die in dem jeweiligen sozialen Horizont zu verorten sind, in dem sie differierende Verarbeitungsformen entfalten.
Wie stark das Problem sozialer Unsicherheit schon in den neunziger Jahren innerhalb der deutschen Gesellschaft verankert war, stellt Michael Vester heraus-. Nicht nur seine eigenen Erhebungen, sondern auch die Daten der Caritas Studie von Hübinger weisen allerdings darauf hin, dass die Formen sozialer Unsicherheit inzwischen auch in der deutschen Gesellschaft schon fest verankert sind.
„Für die Mitte der 1990er Jahre verzeichnet die Studie der Caritas (Hübinger 1990) bereits 10% Armut, gut 25% Prekarität, gut 20% Knappheit und etwa 40% Sicherheit der Lebenslagen. Diese Stufung entspricht der etwa zeitgleichen Analyse, in der Robert Castel beschreibt, wie die „Schockwellen“, die seit den 1980er Jahren von der Reorganisation der Unternehmen und der Weltwirtschaft ausgehen, unterschiedlich wirken, so dass die Gesellschaft sich in eine „Zone der Exklusion“, eine „Zone der Verletzlichkeit“ und eine „Zone der Integration“ teilt.“ (Vester 2006, S. 245)
Literatur
8.1. Prekäre Lebensbedingungen, unsichere Arbeitsverhältnisse – Expansion sozialer Ungleichheiten. Auf dem Weg von der Peripherie zum Zentrum?
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