Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Juni 2010 |
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Sektion 8.1. |
Prekäre Lebensbedingungen, unsichere Arbeitsverhältnisse – Expansion sozialer Ungleichheiten. Auf dem Weg von der Peripherie zum Zentrum? Sektionsleiter | Section Chair: Rolf-Dieter Hepp (Freie Universität Berlin) |
Sektionsbericht 8.1.
Prekäre Lebensbedingungen, unsichere Arbeitsverhältnisse –
Expansion sozialer Ungleichheiten.
Auf dem Weg von der Peripherie zum Zentrum?
Rolf-Dieter Hepp (FU Berlin) [BIO]
Email: kerghepp@gmx.de
Die moderne europäische Gesellschaft sortiert sich über die Nähe und Ferne zu Arbeits- und Qualifikationsprozessen und bestimmt darüber Lebens- und Partizipationsbedingungen ihrer Mitglieder. Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ist die Partizipation an der Vollbeschäftigung als ein elementarer Faktor der gesellschaftlichen Eingliederung angesehen worden. Für die Mehrheit der Bevölkerung insbesondere in Westeuropa finden heutzutage allerdings einschneidende Veränderungen innerhalb der Arbeitswelt statt. Die moderne Informationstechnologie und eine verbesserte Verkehrsinfrastruktur ermöglichen es, die Warenproduktion zu dezentralisieren und stärker global zu verteilen. Im Unterschied dazu lässt sich die Produktion bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts als eher standortbezogenen charakterisieren. D.h., Firmen und deren Verwaltung waren früher stärker an einen festen Ort gebunden, so dass die Menschen an diesen Orten einer regelmäßigen Vollzeitbeschäftigung nachgehen konnten. Räumliche Fixierungen und Festlegungen bildeten einen entscheidenden Faktor innerhalb des Verhältnisses der Arbeitenden zu ihrem Arbeitsplatz und der ihm immanenten Wertigkeiten. Verstärkungen des Ungleichgewichts der Machtverhältnisse werden durch eine Enträumlichung des Kapitals in die sozialen Formen eingeschrieben. Unterstützt wird diese Bewegung nach Boltanski/ Chiapello durch neuartige Unternehmensstrategien und Praktiken, wie Outsourcing, Arbeitsplatztransfers, Zeitarbeit, Teilzeitarbeitsplätze, und Flexibilisierung, wobei dann die unsicheren Arbeitsplätze favorisiert werden, da sie kostengünstiger sind und zusätzlich Unterwerfungsakte nachhaltig unterstreichen. „Während des unsicheren Beschäftigungsverhältnisses muss der Aushilfsarbeiter unablässig sein Arbeitsengagement unter Beweis stellen. So verbirgt sich hinter den Flexibilitätserfordernissen auch eine veränderte Einstellungspolitik, die unsicheren Arbeitsverhältnissen deutlich den Vorrang gibt.“ (Boltanski/ Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, S. 274, Konstanz 2003.)
Die Arbeitswelt ist einem qualitativen Umbau ausgesetzt, der die Sozialstruktur neu kombiniert und die Gesellschaft insgesamt einem nachhaltigen Umorientierungsprozess unterwirft. Der momentane Wandlungsprozess, dem die europäischen Gesellschaften dabei ausgesetzt sind, speist sich in erster Linie aus Umgestaltungen und Transformationen innerhalb der Ökonomie und des Arbeitsprozesses, so dass sich in dieser Entwicklung grundlegende Umstrukturierungen und Umstellungen innerhalb des Gesellschaftsgefüges insgesamt Ausdruck verleihen. Innerhalb dieses Prozesse scheint die soziale Welt weiterhin von Selbstverständlichkeiten und Anforderungen durchdrungen zu sein, die eine vernunftbezogene Ordnung und Planung gesellschaftlicher Prozesse selbstverständlich werden lässt, da Sachanforderungen und vernunftbezogenes Handeln die soziale Wirklichkeit zu charakterisieren scheint. Sachzwänge, die über die Globalisierung und die Ökonomie vorgegeben sind, richten das Handeln und die Anpassungsstrukturen aus, so dass derartige Sachzwänge zum nicht Hintergehbaren a priori gesellschaftlicher Existenz gerieren. Die Unterwerfung unter die Sachzwänge der Ökonomie bilden hierbei einen entscheidenden Topos, den auch viele ehemalige Marxisten übernommen haben, da die Hegemonie des Ökonomischen diesen Denkstrukturen adäquat ist und insofern sich hierein eine Paraphrasierung eines verkürzten Ökonomismus Ausdruck verleiht. Dabei wird das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Ökonomie und Sozialem aufgehoben und eliminiert, indem das Soziale dem Ökonomischen untergeordnet wird.
Durch die Veränderungen der Arbeitsbedingungen und die darin eingelagerte Zunahme atypischer Arbeitsverhältnisse auf allen Ebenen des Arbeitsprozesses verändert sich die Arbeitsgesellschaft insgesamt qualitativ in ihren Zusammenhängen und Bezügen. Parallel zu den Veränderungen innerhalb der Arbeitswelt, die durch die Metaphern „Entgrenzung“ und „Bewegung“ charakterisiert sind, erfolgt europaweit seit einigen Jahren ein sukzessiver Umbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme, in dessen Konsequenz soziale Sicherheit von einer kollektiven in eine individuelle Angelegenheit transformiert wird.
Arbeit übernimmt in den modernen Gesellschaften eine herausragende Position, da über ihre Funktionszusammenhänge die Positionen der Individuen und deren Teilhabe an dem gesellschaftlichen Lebensprozess geregelt werden. Soziale Garantien sind über die Sozialversicherungen für den Großteil der Akteure sehr eng mit Normalarbeitsverhältnissen verbunden, so dass Sozial- und Schutzrechte unmittelbar an Arbeitsplätze gekoppelt sind. Robert Castel (Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000) betrachtet die Trennung zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Nichtarbeitsplatzbesitzern als eine Tendenz, die sich zu einer qualitativ neuen Barriere und Trennungslinie innerhalb der Gesellschaft entwickeln kann und somit neue Spaltungen und „Zonen“ mit ihnen inhärenten Effekten der Ausgrenzung und Abkopplung hervorbringt. Dabei sind die „Überflüssigen“ und „Ausgegrenzten“, so wie sie von Castel hergeleitet werden, zwar als jenseits des Arbeitslebens stehende Existenzen beschrieben, die aber in ihrer sozialen Existenz Produkte der Gesellschaft sind, da sie über diverse Vermittlungs- und Kontrollinstanzen unmittelbar in die Gesellschaft eingebunden sind und damit einen integralen Bestandteil der Gesellschaft bilden. „Indem Unterstützungsleistungen in ein Tableau von Verordnungen, Überwachungs- und Unterwerfungskriterien gebunden sind, die in der Nachweispflicht der Bedürftigkeit und der Mitwirkungspflicht organisatorisch fixiert sind, soll sichergestellt werden, dass derjenige, der Sozialleistungen erhält, auch diesen Bedürftigkeitskriterien gehorcht.
Der Verdacht gegen das abweichende, bedürftige, außerhalb des regulären normalen erwerbstätigen Lebens angesiedelte Individuum integriert dieses wiederum in die Gesellschaft, indem es zu einem Subjekt der Prüfung wird. Bei den derzeitigen Sozialleistungen, dem Arbeitslosengeld II als Grundsicherungsleistung, muss die Bedürftigkeit der Leistungsbezieher nachgewiesen werden, so dass die Bezieher nicht nur ihre gesamten persönlichen Daten offen legen müssen, sondern im Rahmen der Mitwirkungspflicht auch potentiell jederzeit überprüft werden können, indem sie im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht Mitarbeitern der Behörde zum Zweck der Überprüfung ihrer Angaben unmittelbar Zutritt zu ihrer Wohnung gewähren müssen. Hierzu wurden eigens Außendienste zur umfangreichen Durchführung von Hausbesuchen geschaffen.“ (Hepp, Symbolische Manifestationen- soziostrukturelle Umgruppierungen- Formen der Prekarisierung, in Böhlke, Rilling (Hrsg.) Bourdieu und die Linke, Berlin 2007.) Gerade Empfänger von Lohnersatzleistungen werden zwar desozialisiert, aber überhaupt nicht entsozialisiert, da sie durch Offenlegung ihrer Bedürftigkeit und das Einzwängen in Forderungskataloge geradezu klassisch in Außenseiterrollen integriert werden, also integraler Bestandteil der Gesellschaft sind. Dieses stellte schon Simmel 1906 heraus: „Deshalb ist er im sozialen Sinne erst arm, wenn er unterstützt wird. Und dies wird wohl allgemein gelten: soziologisch angesehen ist nicht die Armut zuerst gegeben und daraufhin erfolgt Unterstützung - dies ist vielmehr nur das Schicksal seiner personalen Form nach -, sondern denjenigen, der Unterstützung genießt bzw. sie nach seiner soziologischen Konstellation genießen sollte - auch wenn sie zufällig ausbleibt -, dieser heißt der Arme (.…). Der Arme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes Maß von Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, dass er Unterstützung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte. So ist nach dieser Richtung die Armut nicht an und für sich, als ein quantitativ festzulegender Zustand zu bestimmen, sondern nur nach der sozialen Reaktion, die auf einen gewissen Zustand hin eintritt - genau wie man das Verbrechen, dessen unmittelbare Begriffsbestimmung eine sehr schwierige ist, definiert hat als ‚eine mit öffentlicher Strafe belegte Handlung.’“ (Georg Simmel: Zur Soziologie der Armut, 1906 - http://socio.ch/sim/arm06.htm )
Wenn man das Konzept einer Zwei-Drittel-Gesellschaft in Betracht zieht, bei der zwei Drittel der Bevölkerung über gut bezahlte, relativ sichere Arbeitsplätze verfügen und dadurch am Zuwachs des Volkseinkommens teilhaben, während etwa ein Drittel der Bevölkerung davon ausgeschlossen wird, könnte auch dies als ein weiterer Faktor für die steigende Zahl von Unterbeschäftigten / Überbeschäftigten mit geringfügiger Bezahlung bzw. Arbeitslosen interpretiert werden. Dieses Konzept würde allerdings voraussetzen, dass diese Sektoren völlig unabhängig voneinander existieren würden und keine Berührungspunkte gegeben wären - so als wenn keine Überlappungen und Austauschbeziehungen zwischen ihnen stattfinden würden. Wie schon Sabine Kergel (Die Besonderheit weiblicher Existenz- und Tätigkeitsformen als Modus atypischer Arbeitsverhältnisse, in Hepp (Hg.) The Fragility of Socio-structural Components. Die Fragilisierung soziostruktureller Komponenten, Rom 2008) in Anschluss an Margaret Maruani herausstellt, findet ein dauernder Austausch zwischen Integrierten und Ausgeschlossenen statt, so dass die Zahl der von Arbeitslosigkeit und unsicheren Arbeitsverhältnissen betroffenen Akteure sich nicht zahlenmäßig auf die während eines konkreten Augenblicks gemessenen Größen bezieht, sondern der Betroffenenkreis sukzessive erweitert werden muss. Dies scheint mir vor allem für die deutsche Diskussion relevant zu sein, da Befürchtungen und Ängste auf eine psychische Gemütslage innerhalb der deutschen Bevölkerung zurückgeführt werden.
Während früher Armut synonym gesetzt wurde mit Arbeitslosigkeit und einer Erwerbstätigkeit diametral entgegengesetzt war, scheint diese Kombination heutzutage einer überholten Interpretation von der Erweiterung der Verantwortungsbereiche eines Sozialstaates zu entsprechen. Die Tendenz Wohlfahrtsleistungen an Bedürftigkeit und Armut zu koppeln führte nicht nur dazu, dass diese knapp bemessen werden, sondern auch unmittelbar mit Armut und Dissozialität assoziiert werden. Der philanthropische Diskurs unterscheidet genau zwischen dem unverschuldeten Armen und dem unwilligen Faulenzer. Dieses Modell gewinnt eine neue Brisanz und Aktualität unter den Prämissen eines sozialdemokratischen Politikverständnisses. „Giddens und ein anderer Vordenker von Tony Blairs „New Labour“, Peter Mendelson, rieten der SPD sich von der ‚schrumpfenden Basis der traditionellen Arbeiterschicht’ zu lösen, die nur materielle Umverteilung wolle und sich auf der komfortablen Vergangenheit ausruhen. Stattdessen müsse man auf die ‚neuen Dienstleistungsschichten’ und ihre ‚postmaterialistischen Werte’ – ‚jenseits von links und rechts’ setzen. Dieses Gesellschaftsbild enthält nicht nur eine starke Abwertung des Volksmilieus, die, aus der Perspektive der alten puritanischen Arbeitsmoral als faul, sittenlos und selbstsüchtig erscheinen – eine Rechtfertigung für das sozialdarwinistische ‚no pity for the poor’. Es enthält auch eine besondere Idealisierung der oberen Gruppen, die von der Forderung nach Umverteilung ausgenommen werden.“ (Michael Vester, Der Kampf um soziale Gerechtigkeit, in Bude, Willisch (Hg.) Das Problem der Exklusion, Hamburg 2006, S. 287). Die Ende des 20.Jahrhunderts in Europa qualitativ neue soziale Erscheinung der „working poor“ führt das Sozialgebilde insofern an neue soziale Erscheinungen und Aufgabengebiete heran, die entsprechende Problemkontexte mit ihren sozialen Anordnungen in den sozialen Kontext einschreiben. Abgesehen davon, dass atypische Arbeitsverhältnisse zunehmen, werden große Bereiche innerhalb der Gesellschaft, die bisher als stabil angesehen wurden, von dieser Entwicklung erfasst und brechen weg.
„Das Streben nach kurzfristigem Profit bestimmt sämtliche Entscheidungen: die Einstellungspraxis, bei der Flexibilität und Mobilität zum obersten Gebot werden (eingestellt wird auf der Basis von Kurzzeit- und Stundenverträgen), die Vereinzelung des Arbeitsverhältnisses; das Fehlen jeglicher langfristiger Planung, zumal bei den Arbeitskräften (….) Angesichts der ständigen Drohung einer Verschlankung des Betriebs führen die Beschäftigten ein Leben, in dem Unsicherheit und Ungewißheit die alles beherrschenden Momente sind.“ (Bourdieu, Pierre, Neoliberalismus und neue Formen der Herrschaft, in Isotopia 2000/24, S. 12f.)
Umstrukturierungen des Arbeitsmarktes durch Abbau von Normalarbeitsverhältnissen und eine rasante Zunahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse tragen Prekarisierungstendenzen in die soziale Ordnung hinein. Qualitative Veränderungen treffen innerhalb des Arbeitsprozesses auf spezifische soziale Bedingungen, über die sich die Sozialsysteme in der europäischen Gesellschaft - insbesondere im 20. Jahrhundert - entwickeln konnten. Diese Gemengelage kennzeichnet die besondere Situation, unter der sich in den entwickelten Gesellschaften - und den mit ihnen einhergehenden sozialen und normativen Selbstverständigungsdimensionen - derartige Neu- und Umorientierungen durchsetzen konnten. Die stattfindenden qualitativen Verschiebungen betreffen die Sozialstruktur insgesamt, ordnen sie um und bewerten sie neu. In der Diskussion um Formen der Prekarisierung sollte es daher nicht darum gehen, die alten Arbeitsverhältnisse zu restaurieren, sondern soziale Komponenten des Zusammenhangs und der Errungenschaften der Gesellschaft als Erbe einer Zivilgesellschaft zu stärken. Die bestehenden sozialen Komponenten, wie sie sich unter den Konditionen der europäischen Entwicklung herausbildeten, stellen ein wesentliches Element des gesellschaftlichen Zusammenhangs dar.
Während einerseits versucht wird mit althergebrachten Methoden und Rezepten auf dieses neue Anforderungspotential zu reagieren, bilden sich andererseits innerhalb der sozialen Zusammensetzungen weitgehende Umstrukturierungen und soziale Lageverschiebungen heraus, die die sozialstaatlichen Grundlagen herausfordern. So bilden die Verschiebungen und Ausdehnungsqualitäten sozialer Verunsicherungen und prekärer Lebensverhältnisse inzwischen einen relevanten Faktor innerhalb der gesellschaftlichen Realität.
„Die Prekarisierung bestimmter Arbeitsplätze ist allerdings nicht die einzige nennenswerte Folge der Verschiebungen, wenn man nicht die Augen vor den Auswirkungen verschließt, die diese Verschiebungen auch auf die Sozialstruktur in ihrer Gesamtheit haben. Darüber hinaus wurde nämlich die Arbeitnehmerschaft aufgespalten und der Arbeitsmarkt hat sich mit der Bildung eines doppelten Marktes fragmentiert (Boltanski, Chiapello a.a.o., 2003, S. 276).
Solange die Umorientierungen unter den Gegensatzpaaren Vollbeschäftigung/ Anforderungen des Arbeitsmarktes und der neuen Ökonomie, Stillstand/ Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Beharrung/ Veränderung, altes/ neues Denken, Sicherheit/ Unsicherheit interpretiert werden, bei dem die Situation der sechziger Jahre entweder als wiederzugewinnender oder zu überwindender Referent dient, um alte Verhältnisse anzuprangern oder zu restaurieren, betrachtet wird, stagniert sowohl die Situation als auch die Analyse. Es geht darum, Instrumente durch Verobjektivierung zu gewinnen, die die Gemengelage und das Gefahren- und Konfliktpotential, das die momentane Situation in sich birgt, adäquat zu analysieren. Inwieweit Tendenzen sozialer Verunsicherung, unsicherer und atypischer Arbeitsverhältnisse und der mit ihnen einhergehenden Prekarisierungstendenzen in den unterschiedlichen Ländern Europas gleichstimmige und vergleichbare wie auch verschiedenartige und unvergleichbare Formen und Bewältigungsmuster annehmen, wurde akzentuiert innerhalb der Konferenz anhand der Situation in verschiedenen Ländern der Europäischen Gemeinschaft herausgearbeitet. Als ein wichtiges Verbindungsglied wurde diskutiert, wie durch öffentliche Diskursformen Sachzwänge gesetzt werden und unzweifelhafte und definitive Vorgaben illuminiert werden, deren Beziehungen zur gesellschaftlichen Situation arbiträr bzw. zufällig bleiben, aber durch die Richtung der Entwicklung eine Form existenzieller Realitätsbedingungen gewinnen.
Da sich diese Veränderungen nicht nur auf Personenkreise beziehen, die die ‚klassischen’ „prekären“ Gruppen bilden, sondern auch Personen mit höherer Bildung und qualifizierter Ausbildung betreffen, die früher die Aussicht hatten, Leistungsträger der Gesellschaft zu werden, sind auch bisher als sicher geltende Areale der Gesellschaft von diesem Veränderungsprozess bedroht. Damit rücken Probleme wie Prekarität und Unsicherheit, die früher am Rande der Gesellschaft lokalisiert waren, jetzt in deren Zentrum und bilden dort eine Basis für potentielle Konflikte, die auch die Erosion der Mitte tangieren. Diese Phänomene und die sich ausweitende quantitative und qualitative Zunahme atypischer Arbeitsbedingungen sowie deren Wechselbeziehungen und gegenseitige Einflussnahme haben umfassende Auswirkungen auf die sozialen Strukturen in den verschiedenen europäischen Gesellschaften, aus denen eine erhöhte soziale Fragilität des Gesellschaftszusammenhangs resultiert.
Die Elemente der Umstrukturierung der Arbeitswelt wie die Zunahme befristeter Arbeitsverträge und Teilzeitarbeit, Outsourcing und Outplacement und die Veränderungen der Anforderungen an die Beschäftigten, wie hoher Grad an Autonomie, Flexibilität, Verfügbarkeit und die permanente Erweiterung beruflichen Fachwissens treten in den verschiedenen europäischen Regionen in unterschiedlichen Formen und Facetten auf. Die sich daraus entwickelnden Ausprägungen prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse unterliegen in den jeweiligen Kontexten jeweils einer anderen Hierarchie, erfordern somit differenzierte Betrachtungsweisen bei der Erfassung ihrer Ausprägungen und deren Bewältigungsstrategien.
Bei der Deskription dieser neuen und spezifischen Formen von Unsicherheit, die in zunehmenden Maße die Sozialstruktur durchziehen und Veränderungen hervorrufen, erklären verbreitete Modelle wie etwa das Gegensatzpaar Inklusion/ Exklusion oder das Armutskriterium nicht mehr treffend die aktuelle Dynamik. Deshalb ist es ein Ziel des internationalen Austausches, neue Beschreibungsmodelle zu konstruieren, in denen die Effekte, die von der Neuordnung der Sozialstruktur ausgehen, adäquat berücksichtigt werden. Die Verschiebungen, Transpositionen, Differenzen, Unterteilungen mit all ihren Spuren, Steppunkten, Nahtstellen und Austauschbeziehungen, die zwischen den verschiedenen Ebenen und Elementen bestehen, benennen die Faktoren, die eine innere Dynamik in den Prozess der gesellschaftlichen Umgestaltung einschreiben und die Elemente der sozialen Realität restrukturieren.
Auch wenn Arbeit und Umorganisation der Arbeit ein genuin sozialwissenschaftliches Thema zu bilden scheinen, so zentriert der Arbeitsbegriff gleichwohl die Bandbreite geisteswissenschaftlicher Fragestellungen, da innerhalb der Organisation der Arbeit sowohl Differenzen als auch Entwicklungsmodi für geisteswissenschaftliche Fragestellungen präsent sind. Wenn der Begriff der Arbeit sozialwissenschaftlich verkürzt wird, fallen funktional wichtige Fragestellungen, die sich aus seinen Prämissen ergeben, aus der wissenschaftlichen Fragestellung heraus und werden eliminiert. Fragestellungen wie die philosophische des Verhältnisses von Sicherheit/ Unsicherheit und Identität, die religionswissenschaftliche und moralphilosophische von ethischen und moralischen Imperativen gesellschaftlicher Gewalt (Entscheidungsprozesse), die psychologische eines ‚Lifelong-Learnings’, die ethnologische und anthropologische von Unsicherheit zwischen den Polen Natur, Kultur und Gesellschaft benennen zentrale Aspekte der Umorganisierung der Arbeit.
Die Literatur- und Sprachwissenschaften arbeiten unter dem Blickwinkel etymologisch-semantischer Klärungen, um Begriffsgruppen und kategoriale Zuordnungen zu isolieren und zu rubrizieren, sowie um das Verhältnis von Simulakren, Imaginationen und Realitätszuordnungen aufarbeiten zu können. Diese verschiedenen Ebenen werden interdisziplinär in den Untersuchungsgegenstand integriert. Die Philosophie orientiert sich in ihren Denkstrukturen einerseits über die „Scholé“, die sich als Verobjektivierungsdistanz charakterisieren lässt und die Innerlichkeit der Erkenntniskriterien untersucht, aber andererseits unterliegt mit dem Übergang zur Moderne das Verhältnis von Ontologie und philosophischer Reflexion, das über Kategorien wie Raum, Zeit und Arbeit zentral in die philosophischen Fragestellungen eingegangen ist (bei Heidegger ließe sich dies etwa an der „Für-Sorge“ demonstrieren), einer grundlegenden Neubewertung. Strukturelle Umänderungen in dem Verhältnis der Menschen zur Arbeit, wie sie sich in grundlegenden Umorientierungen äußern, bedürfen einer philosophischen Reflexion. Auch für die Religions- und Kulturwissenschaften sind die qualitativen Veränderungen des Arbeitsprozesses unmittelbares Thema. Alleine über Elemente einer „protestantischen Ethik“ und die moralisch-normativen Aspekte des Verhältnisses von Arbeit und Erlösung wird unter veränderten Konditionen ein geisteswissenschaftliches Interesse an dieser Problematik thematisiert, bei dem sich Fragestellungen der Disziplinen überschneiden. Mythische Besetzungen und darin eingelagerte Rituale und Manifestationen bedingen ein Interesse sowohl der Ethnologie, Anthropologie, Philosophie, Religionswissenschaft und der pädagogischen Wissenschaften an den Neustrukturierungen des Arbeitsprozesses. Wenn projektorientierte Existenzbedingungen, die die Tätigkeiten der Künstler und Wissenschaftler bisher charakterisierten, auf einmal für größere Teile der Arbeitenden zutreffen, wird das Verhältnis von Künstler und Gesellschaft neu justiert, so dass auch hier ein Interesse an den Umwandlungen, Umorganisationen und Neudefinitionen des Kunstwerks und des Kunstsektors festzustellen ist. Konzepte eines „lifelong-learnings“ thematisieren dies anhand eines Interesses der Psychologie an den Umstrukturierungen des sozialen Raums durch Veränderungen innerhalb der Struktur der Arbeit.
Diese mehrschichtigen Dimensionen der sozialen Veränderungsprozesse, die den Umstrukturierungen innerhalb einer Arbeitsgesellschaft geschuldet sind, wurde in den Beiträgen in unterschiedlichen Facetten herausgestellt, so dass unterschiedliche Schwerpunkte sowohl aus den jeweils nationalen Bezügen als auch aus dem interdisziplinären Charakter der Gruppe hervorgehoben werden konnten. Die Diskussion innerhalb der Sektion zeichnete sich dadurch aus, dass verschiedene Prämissen, Sichtweisen und interdisziplinär Erkenntnisse ausgetauscht werden konnten. Die Referenten sind Mitglieder des internationalen Netzwerks SUPI (Website: www.supi-project.eu), das sich zusammengefunden hat, um diese Fragen unter verschiedenen Gesichtspunkten zu untersuchen und in ein Tableau differierender Erfahrungselemente einzubringen - die sozialen Wertungen und Bewertungen dieser Prozesse im gesamteuropäischen Vergleich zu kontrastieren, wobei im Rahmen der Sektion interdisziplinär soziale Veränderungen innerhalb der gesellschaftlichen Organisation des Arbeitsprozesses und der daraus resultierenden Effekte im Mittelpunkt der Vorträge standen.
Lennart Norreklit entwickelte anhand der dänischen Situation in seinem Vortrag Kapital, Wirtschaft und Gesellschaft: Die Entstehung neuer Formen von Kapital und Macht und die Entwicklung eines neuen Prekariat – ontologische Fragen, wie eine liberal agierende Ökonomie funktional die Inidividuen unter sich subsumiert und die Lebenszusammenhänge der Akteure ausrichtet, so dass Ansprüche jenseits der Ökonomie dem Verdikt einer Rationalisierung der Arbeitsökonomie verfällt. Die Lücke zwischen sozialen Ansprüchen der Individuen und apriorisch fixierten vorgegebenen ökonomischen Notwendigkeiten, unter die die Akteure subsumiert werden, drücken ihnen den Stempel einer neoliberalen Ökonomie auf, die die sozialen Entfaltungsmöglichkeiten und Glücksansprüche der Akteure unter die Erfordernisse einer funktionalen Ökonomie subsumiert. Hier stellt sich die Frage, inwieweit gerade eine Ökonomie auf eine entsprechende auch sozial funktionale Infrastruktur angewiesen ist, innerhalb derer sie erst die entsprechenden Kompetenzen und Entwicklungsmodi entfalten kann, da sie nicht selbstreferentiell ist, sondern innerhalb einer sozialen Umwelt agiert, innerhalb derer allein sie ihre Wertigkeiten erreichen kann und auf die sie zur Durchsetzung auch rein ökonomischer Zielsetzungen angewiesen ist.
Dieses Klaffen einer Lücke, einer Differenz zwischen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungsdimensionen charakterisiert das Konfliktpotential, das über ungleichwertige Entwicklungsschritte in die Gesellschaft integriert ist und sich in einem Auseinanderdriften zwischen ökonomischen und sozialen Dimensionen Ausdruck verleiht. Das damit verbundene Gefahrenpotential, dass diesen Prozessen inhärent ist und vor dessen tief greifenden Umwälzungspotentialen von den unterschiedlichen Standpunkten her gewarnt wird und das dann mit entsprechenden Szenarien ausgemalt wird, charakterisiert den Spannungsbogen, innerhalb dessen die Formen atypischer Arbeitsverhältnisse und der Prekarisierung thematisiert werden. So führte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel auf dem Parteitag der CDU 2007 aus: „Wir brauchen eine unvoreingenommene, vorurteilsfreie und nicht zuletzt sensible gesellschaftliche Diskussion. Soziale Marktwirtschaft ist immer auch eine Wirtschaft und eine Gesellschaft, in der die Menschen zusammengehören. Wenn das nicht mehr funktioniert, fliegt uns der ganze Laden auseinander, um das einmal ganz einfach zu sagen.“ (Der Spiegel Nr. 50/ 10.12.2007, S. 26.)
Anhand der mit dem „Globalisierungsprozess“ einhergehenden Ungleichgewichtsprozesse diskutiert Pietro Merli-Brandini das neue Beziehungsgeflecht zwischen Management und Arbeit unter den Dimensionen des Austausches und der Partizipation. Die Rolle der Gewerkschaften erfährt eine Neuthematisierung, da sie sich internationalisieren muss, um weiterhin die notwendigen Transmissionsfunktionen übernehmen zu können. Dadurch, dass die Akteure innerhalb dieser Prozesse hinter Sachzwängen und Funktionselementen immer stärker verschwimmen und durch abstrakte Kalkulationen und Prozesse ersetzt werden, die Grundbedingung für ihre Verwertungsfunktionen darstellen, werden hier konfliktbeladene und kontraproduktive Elemente in die Unternehmensstruktur integriert. Flexible Unternehmen sind für Pietro Merli-Brandini diejenigen, die sich kontinuierlich an jede Veränderung der Umwelt anpassen können. Änderungen in der Organisation der Arbeit und die Erhöhung der Produktivität bildet eine relevante Grundlage für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Das sind die neuen Referenzen, an denen sich Tarifverhandlungen orientieren müssen. Insofern müssen traditionelle Verhandlungen ersetzt werden durch neue Formen, die eine Voraussetzung für die weitere Existenz und gesellschaftliche Relevanz der Tarifverhandlungen bilden. Hierzu wird eine engere Kooperation auf dem Gebiet eines sich verändernden Arbeitsplatz-Systems vorgeschlagen, dessen einschlägige Bedeutung sich an der Arbeitnehmervertretung des deutschen Mitbestimmungsmodells orientiert. Andere Modi der Vertretung der Arbeitnehmervertretung haben größere Schwierigkeiten denselben Wirkungsgrad bei Problemen der Zusammenarbeit leisten zu können. Hiermit wird das deutsche Modell der „Mitbestimmung“ als Referenz herangezogen, um ein tragfähigen zukunftsträchtigen Entwurf für Kooperationen zu entwerfen, das gerade in Deutschland von der neoliberalen Ökonomie als Entwicklungshemmnis für eine ungehemmte wirtschaftliche Entwicklung gebrandmarkt wird.
Marco Ricceri stellt in seinem Beitrag die Notwendigkeit einer Stärkung des europäischen Sozialmodells heraus. Er bestimmt dieses Modell als eine konkreten Art und Weise, den Phänomenen zunehmender sozialer Prekaritäts- und Unsicherheitstendenzen zu begegnen und diese zu korrigieren. Auf der Grundlage der Grundsätze soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Entwicklung, Umweltschutz und Zukunftsfähigkeit sind die Formen der Solidarität, der Demokratie und der Menschenwürde fester Bestandteil der europäischen Gesellschaft. Sie werden erhalten durch eine Reihe von Institutionen, Gesetzen und Strukturen zur Unterstützung sozialer Förderungen. Parallel bestimmen diese Grundsätze die Zivilgesellschaft, wie sie sich in ihren kollektiven Einrichtungen organisiert. Die sozialen Dimensionen des europäischen Sozialmodells sind fester Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der gesellschaftlichen Realität in allen europäischen Gesellschaften und sind in ihnen generell und prinzipiell verankert.
Die Relevanz des europäischen Sozialmodells nimmt durch seine Leistungskraft kontinuierlich zu und verstärkt derart die Funktion und Position des Sozialmodells in den europäischen Gesellschaften. Der Anteil des Bruttosozialprodukts charakterisiert sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart in welchem Ausmaß das Leben in den europäischen Staaten durch das europäische Sozialmodell geprägt wird. In diesen Formen der Referenz, der Aufrechterhaltung und Durchführung sozialstaatlicher Regulierung artikuliert und verstärkt sich das europäische Sozialmodell und eröffnet eine vektoriale Richtung und ein Selbstverständnis für die Zukunft eines sozialintegralen Modells in Europa. Das europäische Sozialmodell kann definiert werden als ein komplexes System von Werten, Projekten, Politiken, Institutionen und Erfahrungen, die alle Staaten Europas auch unter Absehung der verschiedenen nationalen und historischen Besonderheiten sowie Paradigmen gemeinsam vertreten. Das Europäische Sozialmodell ist nicht nur eine Idee, ein Entwurf, eine intellektuelle Konstruktion oder eine symbolische Referenz - es benennt ein konkretes Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte als konstitutives Element der europäischen Identität, seiner Demokratie, seiner wirtschaftlichen Entwicklung. Es ist eingeschrieben in das Selbstverständnis seines bürgerlichen, kulturellen und menschlichen Fortschritts, unter dessen Erfahrungshorizonten sich die europäischen Gesellschaften selbst konstruieren und interpretieren. Insofern bildet es kein statisches, sondern ein dynamisches Element, denn es handelt sich um auf die Dynamik der demokratischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Prozesse. Konkret konzentriert das europäische Sozialmodell sich auf den Aufbau der sozialen Marktwirtschaft und ist ein wichtiges Instrument zur Behebung der Schwachstellen der freien Marktwirtschaft, um den dieser Form immanenten Tendenzen verstärkt soziale Ungleichheit zu produzieren, entgegenzutreten. Insofern benennt sie das Primat der Politik für den Fortschritt der Gesellschaft. Das Engagement für die Stärkung und Qualifizierung des europäischen Sozialmodells, für seine Reform und Modernisierung, wird als der beste Weg gekennzeichnet, um angemessene Lösungen für die zunehmenden Erscheinungen der sozialen Prekarität und Unsicherheit zu finden. Insofern kann eine Funktionsfähigkeit des europäischen Sozialmodells als Referenzebene für eine Anpassung an die schnellen und intensiven strukturellen Veränderungen in der Gesellschaft dienen, um die Prozesse der Globalisierung sozialverträglich abzusichern. Ausgehend von den europäischen Erfahrungen besteht die wirkliche theoretische und politische Herausforderung darin, die Bedingungen und die Maßnahmen einer globalen Sozialpolitik zu entwerfen, damit die mit dem Reichtum einhergehenden Verteilungsprobleme als komplementäre Aspekte des Entwicklungsprozesses sozial regulierbar und verträglich gehandhabt und geregelt werden können.
Sibel Kalaycıoğlu und Kezban Çelik führen in ihrem Beitrag aus, mit welch rasanter Geschwindigkeit sich die traditionellen Formen der Arbeit und der Qualifikationen der Beschäftigten qualitativ verändert haben. Die Transformation der Arbeit und der Arbeitszeit seit den späten 1970er Jahren brachte in Europa eine organisatorische Umstrukturierung des Arbeitsgefüges. Die traditionellen Formen der Arbeit wurden ersetzt durch prekäre und unsichere Arbeitsformen auf der einen Seite und vielseitige, hoch bezahlte Arbeitsplätze auf der anderen Seite. Hervorheben lässt sich, dass die globalen und nationalen makro-ökonomische Prozesse nicht nur die Volkswirtschaften der europäischen Länder tiefgreifend verändert haben, sondern auch das alltägliche Leben der Arbeitnehmer und ihre Erfahrungskontexte einschneidend und nachhaltig von diesen ökonomischen Veränderungen beeinflusst wurden. Die erhöhten Belastungen innerhalb des Alltags resultieren aus den Anpassungsprozessen, denen die Akteure sich unterwerfen mussten, um erfolgreiche Strategien zur Strukturierung und für die Bewältigung dieses neuen Anforderungspotentials zu entwickeln. Diejenigen Akteure, die sich an derartige Bewältigungsstrategien des alltäglichen Lebens nicht erfolgreich angepasst haben, gelten als "Risikofaktoren" innerhalb der Gesellschaft und werden potentiell ausgegrenzt. Außerdem ist diese gesellschaftliche Frage der Umwandlung der vormals festen Arbeitsverhältnisse in prekäre Arbeits- und Berufserfahrungen, sowie die daraus resultierenden individuellen Belastungen des täglichen Lebens bisher weder organisatorisch noch inhaltlich von den Gewerkschaften adäquat berücksichtigt worden. Hiezu liegen eigene empirische Forschungsarbeiten von Sibel Kalaycıoğlu und Kezban Çelik über die türkische Situation aus den Jahren 2005 und 2006 vor. In ihrem Forschungsbericht wird betont, dass die sich wandelnden "Erfahrungen der Arbeitnehmer" mit den Transformationsbedingungen der Arbeit und den Reaktionen der Gewerkschaftsbewegung sich in zwei unterschiedliche Phasen einteilen lassen: (1) In die Zeit vor 1980 und (2) die Zeit nach 1980.
Die 1980er Jahre sind ein Zeitraum von Exportorientierung und die Umsetzung der neoliberalen Politik in der Türkei, porträtieren aber eine schwere Krise im deutlichen Gegensatz zu den vorachtziger Jahren. Das Gewerkschaftswesen in der Türkei hatte bis dahin eindeutig starke soziale, politische und ökonomische Funktionen, was sich seit den 1980er Jahren drastisch verändert hat. Um weitere Einblicke in die Organisation und die Opposition der "Arbeiterklasse und ihrer Erfahrungen mit der Gewerkschaftsbewegung" herausstellen zu können, wurden Lebensgeschichten der Arbeitnehmer (zu gleichen Teilen von Männern und Frauen) in den verschiedenen Sektoren (formal als auch informell) und in verschiedenen Städten der Türkei (Ankara, Bursa und Istanbul) erhoben. Die Sozialisation durch / in der Familie und die Erfahrungen mit Kollegen spielten eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der eigenen Einstellungen gegenüber Gewerkschaften. In dem Maße, in dem die Arbeitsverhältnisse sich prekarisierten und immer mehr Arbeitnehmer in informelle Beschäftigungsverhältnisse wechselten, die Flexibilisierung innerhalb der Wirtschaft zunahm und sich eine wachsende Arbeitslosigkeit ausbreitete, führte dies zu einem anhaltenden Rückgang der sozialen Kohäsionskräfte und ging mit einen Vertrauensverlust in die Gewerkschaftsbewegung einher.
Die Rolle der Gewerkschaften sowohl im Organisationsgrad als auch bei den Tarifverhandlungen wurde stark geschwächt. In erster Linie lag dies an der Ausbreitung unqualifizierter Arbeitsplätze, die auf der einen Seite in der Regel in der informellen Wirtschaft und auf der anderen Seite im Dienstleistungsgewerbe geschaffen wurden (bei den so genannten „weiße Kragen Service Arbeitnehmern“). Typisch für die Zeit vor 1980 war eine starke positive Haltung gegenüber der Gewerkschaftsbewegung unter den qualifizierten (männlichen) Arbeitern und bei den Arbeitnehmern des öffentlichen Sektors. Nach 1980 verringerte sich dieses positive Verhältnis sehr schnell und die Arbeitnehmer entfremdeten sich kontinuierlich von ihren Gewerkschaften. Dies stellt auch ein großes Risiko für die Arbeitnehmer, die vom Arbeitsmarkt ausgeschieden werden, dar, denn ihnen bleibt nur die Hoffnung auf die „Barmherzigkeit des Kapitals“. An diesem Punkt wird in der Türkei nunmehr im Einklang mit der europäischen Beschäftigungsstrategie auch die Wirksamkeit der "Aktivierung" und "Arbeitsmarkt Monitoring"- Anwendungen diskutiert.
Alexander Sieg stellt anhand eines Forschungsprojektes über eine Geschäftsstrasse in Berlin-Mitte (Stadtteil Moabit) heraus, wie gerade Kleinhändler sich vom sozialen Abstieg bedroht sehen und ihre Ängste vor dem sozialen Abstieg auf ihre Kunden projizieren, die oftmals aus dem Bereich der Transferempfänger kommen. Der „Wille“ zum Überleben ihres Geschäfts, über das sie ihre Identität und soziale Existenz definieren, führt zu starken Abgrenzungen gegenüber ihrer Umwelt, die sie über die Insuffizienz der anderen und die eigene beharrliche alltägliche Bedrohung ihrer Existenz betrachten, die trotz eines immensen Arbeitseinsatzes und ihres Fleißes permanent unter den Aspekten der Bedrohung betrachtet wird.
Sabine Kergel zeigt auf, wie spezifische Formen der Arbeit mit geschlechtspezifischen Konstellationen korrespondieren und mit den traditionellen Teilungen der Geschlechter konform laufen. Während die Normalarbeitsverhältnisse von den mit ihr einhergehenden Prämissen männlich besetzt sind, sind die atypischen Arbeitsverhältnisse weiblich kodiert. Während Frauen im Arbeitsprozess traditionell eher auf Zuverdienerpositionen festgelegt waren und damit ihre Arbeitsverhältnisse das Vage, Ungefähre sekundäre auf ihre familiär bezogene Lebenslage hervorhoben, sorgten die Männer für den Lebensunterhalt der Familien und legitimierten hierüber ihre Existenz und reproduzierten gleichzeitig ihre dominante Position. Die „Sorge“ als Fürsorge des Mannes, die durch die Ernährerposition vermittelt war, sorgte dafür, dass er für das Wohlergehen und das Schicksal der Familie verantwortlich war und dies durch seine Herrschaftsrolle innerhalb der Beziehungszusammenhänge unterstrichen wurde. Dies verstärkt gerade heutzutage auch den Druck auf die Männer, die sich in prekären Lebenslagen befinden, da sie spezifischen Formen der Abhängigkeit unterworfen werden, die mit einem entsprechenden Selbstbild einhergehen und die Formen „männlicher Herrschaft“ tangieren, da die Männer weiblich orientierten Zuordnungen und Konnotationen ausgesetzt sind. Dies impliziert aber eher Orientierungslosigkeit als die Aufgabe der Muster patriarchalischer Ordnung.
Andreas Hellmann stellt in seinem Beitrag die Bedeutung des bedingungslosen Grundeinkommens als ein Konzept heraus, das darauf ausgerichtet ist, die Bedingungen für eine soziale Existenz aller Mitglieder abzusichern. Ein staatlich garantiertes Grundeinkommen als Existenzsicherung soll die Grundsicherung für die Akteure übernehmen, so dass diese von einem unmittelbaren sozialen Druck entlastet werden und ihre sozialen Potentiale freisetzen können. Als Grundannahme steht dahinter, dass schöpferische Kräfte bei den Akteuren freigesetzt werden könnten, wenn der Druck auf die Existenz nachlässt und dieses wiederum Raum schafft für soziale Gegenentwürfe. Auch wenn die Finanzierbarkeit als zentrales Gegenargument angeführt wird, so ist diskutiert worden, inwieweit dies nur eine Ausrichtung des neoliberalen Diskurses ist, jegliche Probleme auf Finanzfragen zu reduzieren. Wenn in einer Arbeitsgesellschaft soziale Partizipationen und Kompetenzen eng mit dem Arbeitsplatz verknüpft sind und derartige Leistungen nicht mit sozialen Einbindungen einherlaufen, besteht die Gefahr, dass die Akteure zu frei schwebenden Monaden werden, deren einzige Austauschbeziehung zu der Gesellschaft in den Akten einer auf niedrigem Niveau angesiedelten Bestreitung der Grundbedürfnisse angesiedelt ist. Aktivierungspotentiale bedürfen auch einer sozialen Infrastruktur. Umgekehrt wäre aber auch zu untersuchen, inwieweit die von Foucault benannten Effekte einer Negativsteuer dafür sorgen, den inneren Zusammenhang von Arbeit und Existenzberechtigung innerhalb der Gesellschaft aufzuweichen und damit die Rolle der Akteure innerhalb der Gesellschaft potentiell neu thematisiert werden muss. Hierin liegt auch eine Tendenz jenseits der Finanzierungsfrage, da bei einer Durchsetzung des bedingungslosen Grundeinkommens die gesellschaftlichen Kohäsionskräfte neu justiert werden müssen, wenn spezifische Regelwerke einer Arbeitsgesellschaft durch das Grundsicherungsmodell außer Kraft gesetzt werden.
Tadeusz Rachwal konstruiert einen engen Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Entwicklung und der Herausbildung originär philosophisch besetzter Begrifflichkeiten. Kierkegards Bemerkungen zur Wiederholung werden unter den Formen eines „Simulacrums“ im Baudrillardschen Sinne thematisiert, um den engen theoretischen Zusammenhang zwischen Beharrung und Veränderung aufzuzeigen. Die Erfahrung der Veränderung wird entweder unter den Konditionen einer Beharrung unter den Prämissen des Bekannten wahrgenommen oder als Einbruch in die Erfahrungswelt, als Unbekanntes, Anderes interpretiert, so dass sowohl im Wechsel als auch in der Wiederholung der Irrtum und die Täuschung präsent sind. Unter den Prämissen der Formbestimmtheit derartiger reflexiven Realisierungen werden die Imaginationen thematisiert, unter denen sich gesellschaftliche Reflexionen herausbilden und die zur Strukturierung sozialer Trennungen und Teilungen, sowie zur theoretischen und praktischen Verarbeitung sozialer Realisierung beitragen. Durch einen in dieser Form präformierten Blick werden Möglichkeitsräume abgeschnitten und aus Diskursen ausgeblendet, so dass die Gefahr besteht, dass emanzipatorisches Potential in den Diskursprozessen reflexiv aufgehoben werden.
Hanne Nørreklit entwickelt in ihrem Beitrag die Fragestellung, wie geeignete Modelle in der Lösung des Aufgaben-Management in einem post-modernen Kontext aussehen können. Management-Modelle dominieren zunehmend den öffentlichen Diskurs, da sie sich als funktionales und effektives Mittel für Problemlösungen und Handlungsstrategien empfehlen. Somit erheben sie den Anspruch ebenso ein Teil der Lösung für die Sicherung des Sozialstaats und für die Wettbewerbsfähigkeit in einem globalen geschäftlichen Umfeld in dem Entwurf einer adäquaten Handlungsstrategie zu entwerfen. Somit wäre zu prüfen, ob Management Modelle potentiell sich in dem Zustand befinden, den von ihnen erhobenen Ansprüchen genügen und in der Lage sind, effizient und erfolgsorientiert alternative Vorschläge erarbeiten zu können, die besser und effektiver dazu geeignet sind, die Management-Aufgaben innerhalb einer postmodernen Realität zu lösen. Um sich diesem Problemkontext adäquat nähern zu können, greift Hanne Nørreklit auf Ernst Cassirers Theorie der symbolischen Formen zurück, um anhand dessen Begrifflichkeiten dezidiert aufzuzeigen, welche Metamorphosen dem neueren Managementmodell in ihren Interpretationshorizonten inhärent sind. Während die Wissenschaft Objekte aufbaut und konstruiert, setzt die Kunst auf eine emphatische Wahrnehmung. So lassen sich trigonometrische Funktionen in Formen der ästhetischen Wahrnehmungen transponieren. Wie die symbolische Form der Kunst, baut die symbolische Form des Mythos auf der emotionalen Anteilnahme auf, unterscheidet sich aber durch den Glauben an die Existenz der Konstellation von der künstlerischen Wahrnehmung.
Der Mythos wird verwendet, um eine natürliche oder magische Einheit des Lebens zu behaupten. Gerade monotheistischen Religionen beinhalten auch Ideen des Strebens nach einem Gefühl der Einheit, ebenso liegt den Management Modellen die Idee der Schaffung eines universellen, ethischen Sinn der Einheit in einer individualisierten Gesellschaft zugrunde.
Marktbeherrschende Management-Modelle erheben den Anspruch sich in der symbolischen Form der Wissenschaft zu befinden, bleiben aber dem mythischen Bereich des Religiösen verhaftet, insofern sie über den Glauben an die Realität ihrer eigenen Mythen funktionieren. Die Geschichten sind nicht gültig, aber der Glaube an die Realität der Bilder, basiert darauf, dass die Bilder real seien. Über einen derartig orientierten Mythos intendieren die Management Modelle zur Lösung der jeweiligen Problemhorizonte vorzustoßen. Sie unterstützen aber dadurch nur einen Vorgang der Entleerung innerhalb der modernen Gesellschaft, indem der soziale Raum der menschlichen Individualität und das emotionale Leben auf Funktionen und reibungslose Abläufe reduziert werden. Von den dominierenden Diskursen innerhalb des Managements ist daher eine Lösung dieses Aufgabenpotential nicht zu erwarten, wenn die eigentlichen Management-Aufgaben in einem postmodernen Kontext darin bestehen, funktionierende Lösungsmodelle zu entwerfen. Erst wenn es - wie bei einigen durchaus erfolgreichen Management Strategien - gelingt, einen Rahmen zu entwerfen, der implizit darauf ausgerichtet die symbolische Formen der Wissenschaft und Kunst zu integrieren, zeigen sich dort erfolgreiche Lösungsansätze für die Management Theorie. Auf der Grundlage von Analysen zeitgenössischer erfolgreicher Managern eröffnet sich der Blick auf einen neuen Management-Diskurs, welcher das Potential in sich trägt, Probleme zu erkennen, zu analysieren und angemessene und adäquate Lösungsstrategien für Organisationen, die in einem postmodernen Kontext funktionieren zu entwerfen.
Peter Hermann stellt in seinem Beitrag das Verhältnis von sozialer Qualität und Prekarisierung heraus. Um einer einfachen Oppositionsbeziehung zu entgehen, verweist er auf das Beziehungsgefüge, das zwischen sozialer Qualität und Prekarisierung besteht und inwieweit über Prekarisierungstendenzen Elemente fehlender Selbstbestimmung und das Ausgeliefertsein an eine Objektivität, die unbeeinflussbar zu sein scheint, verstärkt wird. Dadurch, dass Entscheidungen über die eigene Existenz raumzeitlich von dem Betroffenen getrennt getroffen werden und in die Qualität der Lebenszusammenhänge einschneidend eingreifen, werden die subjektiven Entscheidungskompetenzen und –horizonte der Akteure entscheidend eingeschränkt.
Um die Bandbreite einer Prekarisierungsproblematik in ihren Verschränkungen, Vernetzungen und Effekten eindeutig herausstellen zu können, wird eine Begriffsbestimmung benötigt, die den Bedeutungshorizont dieses Begriffs diffizil entfaltet. In den Beiträgen von Robert Riesinger und Rolf-Dieter Hepp werden die Unschärfen der Begriffsbildungen im Diskursfeld der Prekarisierung aufgezeigt, um eine Dynamik der Kategorisierungsbereiche aufweisen zu können. Robert Riesinger nähert sich über die Etymologie dem Phänomen der Prekarisierung, um dessen Bedeutungshorizonte im Spiel der Diskurse herauszustellen und sich der Definition und Entfaltung eines tragfähigen Begriffs der Prekarisierung zu nähern. Rolf-Dieter Hepp unterzieht die deutsche Diskussion einer näheren Untersuchung, um aufzuzeigen, wie Begriffe, die aus der französischen Diskussion übernommen werden, ihren Bedeutungshorizont ändern und dazu tendieren, soziale Probleme unter Vorgaben des deutschen Forschungsstandes zu subsumieren und damit durch Problemverschiebungen zu relativieren.
Die französische Soziologie erfährt im Rahmen der deutschen Diskussion eine andauernde Konjunktur, was einerseits mit den Fragestellungen und Grundüberlegungen der deutschen Soziologie zu tun hat, so dass Problemfelder wie Prekarisierung, Inklusion/Exklusion, Umorganisation der Arbeit und Sozialstruktur hegemonial von französischen Theoretikern wie etwa Bourdieu, Castel und Boltanski beeinflusst werden, ohne dass deren epistemologischer Hintergrund mit in die Analyse einfließt. Dies führt zu einer Uminterpretation sozialer Phänomene. Bei diesen Transpositionen in die deutsche sozialwissenschaftliche Diskussion führt die Übernahme der Begrifflichkeiten zu Interpretationen, die begriffliche Undeutlichkeiten und Verschiebungen in sich tragen. Symbolische Formen wie auch Klassifikationsschemata beinhalten innerhalb der französischen Auseinandersetzung einen epistemologischen Rahmen zur Abdeckung des Feldes sozialer Problemhorizonte. Wenn diese in der deutschen Rezeption nicht mitreflektiert werden, werden typische Konstrukte aus deutscher Perspektive produziert, die von Lothar Baier spöttisch als „Franzosentheorie“ belächelt werden, da in diesen Übertragungen die ursprünglich intendierten Bedeutungsgehalte verschwimmen. Das in derlei Kontexten auch in der deutschen Diskussion einerseits politische und soziale Entwicklungskriterien von Begrifflichkeiten wie beispielsweise Prekarisierung, Inklusion, Exklusion, Fragmentierung, Flexibilität in Bezug auf soziale Integrationsbestrebungen hin angelegt sind, ist und bleibt unbestritten. Aber indem gerade in der deutschen Diskussion der soziale Bezugsrahmen der Individualisierung im Beckschen Begriffsverständnis und nicht im Durkheimschen Sinne reflektiert wird (vgl. Hepp, a.a.o., 2007), wird in diesem Diskurs eine Thematisierung der Insuffizienzen und fehlenden Qualifikationsmodi an den Individuen festgemacht, so dass diese Integrationsmodi unter subjektiven Versagenstendenzen interpretiert werden. Wenn nicht die sozialen Transformationen und Transpositionen als soziales Faktum eines epistemologisch orientierten soziologischen Selbstverständnisses reflektiert werden, besteht die Gefahr, dass die Wissenschaft durch derlei Diskursmodelle nicht nur die Realität verzerrt, sondern auch den Druck auf die Betroffenen intensiviert und verstärkt.
8.1. Prekäre Lebensbedingungen, unsichere Arbeitsverhältnisse – Expansion sozialer Ungleichheiten. Auf dem Weg von der Peripherie zum Zentrum?
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