Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Januar 2010 |
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Sektion 8.1. |
Prekäre Lebensbedingungen, unsichere Arbeitsverhältnisse – Expansion sozialer Ungleichheiten. Auf dem Weg von der Peripherie zum Zentrum? Sektionsleiter | Section Chair: Rolf-Dieter Hepp (Freie Universität Berlin) |
Formen sozialer Unsicherheit – Beispiele aus Berlin-Mitte
Alexander Sieg (Freie Universität Berlin) [BIO]
Email: alexander.sieg@gmx.de
Zusammenfassung
Nicht zuletzt infolge der sukzessiven Auflösung sozialstaatlicher Absicherungsmechanismen entstehen mannigfaltige Formen sozialer Unsicherheit, die jenseits tradierter Muster erlebt und verarbeitet werden. Die Untersuchung „Neue Formen sozialer Unsicherheit in Berlin-Mitte“ beschreibt und analysiert die Existenzweisen von Kleingewerbetreibenden, der russischsprachigen Migration und der Situation von jugendlichen Schulabbrechern in einem ausgewählten Stadtgebiet mit einer speziellen Sozialstruktur und mit spezifischen Problemkonstellationen. Die zentrale Intention der Untersuchung ist es, „neue Formen sozialer Unsicherheit“ zu eruieren, sie aus der Unsichtbarkeit herauszuholen und den Protagonisten dieser wenig beachteten Ausprägungen sozialer Ungleichheit eine Stimme zu geben.
In den ersten Auswertungen der zu diesem Komplex geführten Interviews wird deutlich, dass innerhalb der verschiedenen Gruppen heterogene Erklärungsmuster, Lebensentwürfe, Bewältigungsstrategien und Zukunftserwartungen in Hinblick auf soziale Unsicherheit vorliegen, die in ihrer Grundtendenz auf ein hohes Konfliktpotential verweisen.
Einleitung / Projektbeschreibung
Ich möchte das Forschungsprojekt „Formen sozialer Unsicherheit in Berlin-Mitte“ vorstellen, dass neue unbeachtete bzw. vernachlässigte Formen sozialer Unsicherheit in Berlin-Moabit, einem Stadtteil des Stadtbezirkes Berlin-Mitte, unter einer soziologischen Perspektive betrachtet. Das Projekt hat die Absicht, bestimmte Thesen aus dem Bereich der Debatte über die Expansion und Ausdifferenzierung prekärer Lebenslagen empirisch zu überprüfen und unsichtbare oder zum Verschwinden gebrachte soziale Unsicherheiten aufzudecken.
Die Untersuchung „Neue Formen sozialer Unsicherheit in Berlin-Mitte“ nimmt gleichzeitig den Charakter einer Einzelfallstudie und einer Pilotstudie an. Das heißt, sie beschreibt und analysiert einerseits ein bestimmtes Stadtgebiet mit einer speziellen Sozialstruktur und mit spezifischen Problemkonstellationen, und andererseits stellt sich die Untersuchung die Aufgabe, „neue Formen sozialer Unsicherheit“ zu eruieren, sie aus der Unsichtbarkeit herauszuholen und den Protagonisten dieser wenig beachteten Formen sozialer Ungleichheit eine Stimme zu geben.
An den Beispielen von Kleingewerbetreibenden, der russischsprachigen Migration und der Situation von jugendlichen Schulabbrechern in Berlin-Moabit wird die sukzessive Ausdifferenzierung und Vielfältigkeit sozialer Unsicherheit untersucht. Wissenschaftstheoretisch, methodisch und forschungspragmatisch orientiert sich das Forschungsprojekt an den Arbeiten „Das Elend der Welt“ (Bourdieu et al. 1997), „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (Schultheis/Schulz 2004) und „Das verstehende Interview“ (Kaufmann 1999).
Die Untersuchung wird vom Verein für Sozial- und Umweltpolitik Berlin e.V. in Kooperation mit der Freien Universität Berlin durchgeführt. Die finanziellen Mittel für das Projekt stellten die senatseigene Institution „Zukunft im Zentrum“ und das Jobcenter Berlin-Mitte zur Verfügung. Das Projekt umfasst derzeit acht Mitarbeiter und einen Koordinator. Von den acht Mitarbeitern besitzen vier eine akademische Ausbildung, eine Mitarbeiterin und der Koordinator sind promoviert. Weiterhin arbeiten im Projekt drei unter spezifischen Gesichtspunkten ausgewählte und für die Interviewführung vorgesehene nichtakademische Mitarbeiter und ein unter sozialen Aspekten eingestellter Büromitarbeiter. Die drei nichtakademischen Mitarbeiter nehmen in dem Projekt eine Schlüsselrolle ein. Die akademischen Mitarbeiter sind zunächst für Experteninterviews und teilweise für die spätere Verschriftlichung der Ergebnisse vorgesehen.
Während für den Untersuchungsteil der Kleingewerbetreibenden die Auswertungsphase begonnen hat, ist der Bereich der russischsprachigen Migration, noch in der Phase der Datenerhebung. Nach Angaben des in der Friedrichstraße im "Russischen Haus" ansässigen Vereins "dialog.e.V." umfasst diese Gruppe nahezu 150 000 in Berlin lebende Menschen, in der Mehrheit sogenannte deutschstämmige Spätaussiedler, deren Muttersprache Russisch ist und die deshalb in den Statistiken nicht als besondere Gruppe geführt wird. Gleiches trifft für den Bereich der jugendlichen Schulabbrecher zu.
Erste, vorläufige Ergebnisse für das Untersuchungssegment „Kleingewerbetreibende“, in denen sich die Konturen der Erklärung und der heterogenen strategischen Optionen in Hinblick auf soziale Unsicherheit und Lebensentwürfe zur Bewältigung abzeichnen, liegen nun vor.
Berlin-Mitte, Berlin-Moabit
Das Untersuchungsgebiet Berlin-Moabit liegt im Zentrum des nach der Gebietsreform von 2001 entstandenen Groß-Stadtbezirks Berlin-Mitte mit 321 000 Einwohnern, der die ehemaligen Stadtbezirke Mitte (ehemals in Ostberlin, rund 79 000 Einwohner), Wedding (ehemals in Westberlin, rund 155 000 Einwohner) und Tiergarten mit dem Stadtteil Moabit (ehemals in Westberlin, rund 88 000 Einwohner, davon 69 000 in Moabit) vereint. Zum Vergleich: In Berlin leben derzeit 3,348 Millionen Einwohner.
Der Regierungsbezirk Berlin-Mitte steht in der Berichterstattung der Medien synonym für das neue, aufstrebende Berlin. Von hier aus wird das Land regiert, von hier berichten die Fernsehanstalten und die Journalisten aus aller Welt. Berlin-Mitte: das sind repräsentative Straßen wie Unter den Linden, das Brandenburger Tor, der Reichstag, die Staatsoper, das Bundeskanzleramt, Bundesministerien, das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, das Pergamon-Museum und der Berliner Dom. Doch nur wenige Meter westlich des Bundeskanzleramtes beginnt Moabit, ein Stadtteil, de r das ganze Gegenteil eines aufstrebenden Stadtteils verkörpert.
Der Stadtteil Moabit, war bis zur Reform im Jahre 2001 Bestandteil des Stadtbezirkes Tiergarten und hat eine ereignisreiche Geschichte in Hinblick auf soziale Kämpfe, auf die hier allerdings nur kurz eingegangenen werden kann (siehe dazu Engel et al. 1987, Kapitel: „Der Beusselkiez“).
Berlin-Moabit
Berlin-Moabit ist geographisch und städtebaulich eine Insel. Es wird von natürlichen und künstlichen Wasserstraßen vom übrigen Teil der Stadt abgeschnitten und gewinnt dadurch seine besondere Lage. Zum anderen sind es Bahn- und Industrieareale und ehemalige militärische Anlagen, die Moabit von den umliegenden Gebieten isolieren.
Ab 1830 siedelten sich erste große Gewerbebetriebe durch die günstige Lage am Wasser an, nach der Reichsgründung 1871 verwandelte sich Moabit in ein Arbeiterwohnquartier bzw. in eine Mietskasernenstadt mit einer durch Grundstücksspekulation hervorgerufene sehr dichte Bebauung mit zum Teil mehreren Seitenflügeln und Hinterhofgebäuden, in denen die Arbeiterfamilien auf engstem Raum lebten und wo es im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts immer wieder zu sozialen Unruhen kam.
Mit Moabit assoziiert nicht nur die Einwohnerschaft Berlins seit über 100 Jahren das 1905 fertiggestellte für ganz Berlin zuständige neue Kriminalgericht Moabit, und die von Heinrich Hermann und August Busse entworfene und von 1877 bis 1882 erbaute Untersuchungshaftanstalt Moabit.
Seit 1996 befindet sich in Moabit das Bundesinnenministerium des Innern in einem Gebäudekomplex in Alt-Moabit 101 und seit 2005 der von Gerkan, Marg und Partner entworfene neue Berliner Hauptbahnhof. Beide Gebäudekomplexe wirken nicht nur fremd, sondern, da sie mehrheitlich von Fremden (Reisenden, Ministeriumsmitarbeiter) genutzt werden, haben sie mit dem Alltag der Einwohner wenig zu tun.
Die Turmstraße
Moabit wird verkehrstechnisch durch zwei Achsen zerschnitten: zum einen ist es Alt-Moabit und zum anderen die Turmstraße.
Die Turmstraße erstreckt sich über eine Länge von 1,8 km. Sie ist die Hauptverkehrsader und das Geschäfts- und Einkaufszentrum Moabits. Die Turmstraße entwickelte sich zwischen den Weltkriegen zu einer Geschäftsstraße mit zahlreichen Vergnügungsstätten wie Tanzlokalen, Kinos und Cafés. In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Straße zum Hauptboulevard des Stadtbezirkes Tiergarten. Es ließen sich viele Fachgeschäfte nieder. Nach der Wirtschaftskrise in den 1970er Jahren kam es in den Industriegebieten von West-Moabit zu Massenentlassungen. Die Einwohner sahen sich plötzlich mit Dauerarbeitslosigkeit und Armut konfrontiert. Im Zuge dieser Entwicklung veränderte sich auch die soziale Struktur der Einwohner.
Heute ist die Turmstraße ein Experimentierfeld für sogenannte Existenzgründungen, was zu einem andauernden Prozess von Neueröffnungen und Schließungen von Geschäften von Kleingewerbetreibenden führt, da die Mieten im Vergleich zu anderen Geschäftsstraßen niedrig und die Arbeitsämter und Jobcenter diese Form von Existenzgründung fördern. Allerdings beschränken sich diese Eröffnungen auf ein geringes Spektrum an Läden, die sich gegenseitig Konkurrenz machen. So existieren derzeit (November 2007): elf Bäckereien, sieben kleinere Cafés, drei Zeitungsläden, sechs „Handyläden“ und 10 Imbisse.
Die Turmstraße und die nahegelegene Markthalle Arminiusstraße bilden das Zentrum unserer Untersuchungen von Kleingewerbetreibenden. Unter Kleingewerbetreibenden werden hier Personen verstanden, die ein kleineres Geschäft betreiben wie etwa ein Zeitschriftenkiosk oder eine kleines Stehcafé und in der Regel nicht mehr als ein bis zwei Mitarbeiter (einschließlich Familienangehörigen) beschäftigen.
Galten und gelten diese Kleingewerbetreibenden bis in die 1990er Jahre noch als Teil der „Mittelschicht“, so ist die sozialstrukturelle Verortung dieser Gruppierung am Standort Turmstraße nicht mehr so einzuschätzen.
Idealtypisch für den Geschäftsstandort Turmstraße ist der Zustand der Markthalle Arminiusstraße. Während in Berlin-Kreuzberg (Neueröffnung im März 2008) die Marheineke-Markthalle unter dem Slogan „bio-frisch-regional“ modernisiert wurde, um ein entsprechendes Publikum anzuziehen, scheint der Niedergang der Arminius-Markthalle nicht mehr aufzuhalten zu sein.
Das verstehende Interview
Die Situation der Kleingewerbetreibenden der Turmstraße wurde mit der Methode des verstehenden Interviews untersucht. Dabei wurden zunächst 13 Interviews durchgeführt, was etwa einem Fünftel der Kleingewerbetreibenden entspricht.
Die Methode des verstehenden Interviews orientiert sich an den mit „Das Elend der Welt“ (Bourdieu et al. 1997) und „Gesellschaft mit begrenzter Haftung“ (Schultheis / Schulz 2005) vorgelegten Studien. Diese beiden Arbeiten gelten als gelungene Beispiele „eingreifender Wissenschaft“ (Leitner). Die beiden eindrucksvollen Dokumentationen dienen uns insofern als Vorbild, da wir die Mehrzahl der methodologischen und methodischen Prämissen aus diesen Untersuchungen übernehmen.
Insbesondere wird der Dualismus zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung verworfen, für den keine plausible wissenschaftliche Begründung geltend gemacht werden kann und die Frage der Opposition qualitativ/quantitativ als eine wissenschaftssoziologische identifiziert wird (Bourdieu/Chamboredon/Passeron (1991), Bourdieu/Wacquant (1996)).
Neben dieser Orientierung sind Überlegungen und Techniken aus Kaufmann „Das verstehende Interview“ (1999) und Strauss/Corbin „Grounded Theory“ (1996?) mit einbezogen.
In der Endfassung des Textes werden die Interviews immer wieder durch kurze Sozialreportagen und Beobachtungen ergänzt, die sich an Elementen der klassischen amerikanischen soziologischen Stadtforschung in der Gestalt der Chicago School anlehnen, insbesondere an das sogenannte „Nosing around“, das „Herumschnüffeln“ (Lindner 1990).
So agiert die Projektarbeit auf mehreren Ebenen, um spezifische Facetten der Problematik zu veranschaulichen, die allein mit „objektiven“ Daten nicht erfasst werden könnten .
Im Gegensatz zu herkömmlichen Ansätzen der „Angewandten Sozialforschung“, die etwa mit dem standardisierten oder dem unpersönlichen Interview operieren, wird in dem im Projekt angewandten Ansatz in Anschluss an die theoretischen Entwürfe von Norbert Elias und Pierre Bourdieu der Standpunkt vertreten, dass das „Individuum als eine Art Konzentrat der gesellschaftlichen Welt angesehen werden kann: es trägt, auf eine besondere Weise strukturiert, die ganze Gesellschaft einer Epoche in sich.“ (Kaufmann 1999: 87f.).
Eine verstehende Soziologie - und somit auch das verstehende Interview - steht dem Diltheyschen Dualismus, also der Zuordnung von „Verstehen“ zu den Geisteswissenschaften und „Erklären“ zu den Naturwissenschaften entgegen, in dem in dieser Konzeption „Verstehen und Erklären eine Einheit bilden“ (Bourdieu 1997: 786).
Ziel der verstehenden Soziologie in der Nachfolge von Max Weber ist es „alltagsweltliche(n) Erfahrung und subjektive(n) Perspektiven und Deutungsmuster von Gesprächspartnern (...) einzuholen, diese Bilder dann aber mit Mitteln makrosoziologischer und sozialstruktureller „Rahmungen“ über die Sphäre von Einzelschicksalen und Sonderfällen herauszulösen und ihren je exemplarischen Charakter (...) zu vermitteln.“ (Schultheis/Schulz 2005:10).
Durch statistische Rahmendaten, Auswertung der aktuellen Forschungsliteratur zu den Problemfeldern und der Sichtung von Wochen- und Tageszeitungen werden die „Rahmen“ der Interviews konstruiert (vgl.: Schultheis/Schulz 2005:12f.).
In einigen kleineren Punkten weichen wir jedoch von dem Muster unserer Vorbilder ab. So ist es unser Ziel, noch etwas radikaler die „objektiven“ Komponenten und die Eingebundenheit in spezifische gesellschaftliche Strukturen der Interviewpartner zu verdeutlichen.
Forschungspragmatische Prämissen
a) Hypothesen und Fragestellung
Aus der vorliegenden Forschungsliteratur, aktuellen Daten und einem spezifischen Vorwissen entstehen zunächst Ausgangshypothesen, die im Laufe des Prozesses der Interviewführung noch verfeinert werden, sowie eine zentrale Fragestellung. Bei der Erstellung der Hypothesen stützten wir uns vor allem auf die von Robert Castel vorgelegten Thesen zur Entwicklung der Arbeitswelt.
Der französische Soziologe Robert Castel entwirft ein sozialstrukturelles Szenario für die Zukunft der Kernländer Europas und entwickelt dabei in Hinblick auf die Kategorie soziale Unsicherheit zwei - für unsere Untersuchung elementare - Thesen. Die erste These postuliert, dass die Milieus im unteren sozialen Raum von einer zunehmenden, in der Regel andauernden sozialen Unsicherheit bedroht sind, die in ihren Erscheinungen vielfältig auftritt und durch das Armutskriterium allein keine Erklärungskraft besitzt.
Die zweite These impliziert, dass soziale sich Unsicherheit in einer beträchtlichen Form in das Zentrum der Gesellschaft ausweitet und mehr und mehr soziale Milieus tangiert, die bisher von sozialer Unsicherheit nahezu nicht betroffen waren. Das heißt, dass innerhalb sozialer Gruppierungen, die in der jüngeren Vergangenheit eine große Distanz zum Problemfeld soziale Unsicherheit aufwiesen, neue Formen und Konstellationen sozialer Unsicherheit entstehen, die noch weitgehend ein Desiderat der Forschung sind.
Die unteren sozialen Milieus zeichnen sich für Castel, entgegen der bundesdeutschen Diskussionen von einer „Unterschicht“, gerade durch ihre Heterogenität aus, die im französischen Kontext in scheinbar antagonistischen Positionen verharren. Beispielhaft für die diametralen Positionen innerhalb unterer Positionen im sozialen Raum stehen auf der einen Seite die Kinder der Einwanderer aus dem Maghreb und auf der anderen Seite die deklassierten französischen ungelernten Arbeiter und die unterbezahlten Angestellten im Dienstleistungsbereich, deren Weltsicht oft von rassistischen Einstellungen geprägt wird, die sich gerade gegen diejenigen Einwandergruppen richten, die ihnen in ihrer sozialen Lage am ähnlichsten sind.
Die von uns zu untersuchenden Kleingewerbetreibenden der Turmstraße sind mehrheitlich - so die These - als Existenzgründer angetreten, um den Risiken einer immer unsicherer werdenden Arbeitswelt zu entfliehen, aber auch mit der Vorstellung, durch eine eigene „Existenz“ zu Unabhängigkeit und Autonomie zu gelangen. Die soziale Situation hat sich jedoch, so eine weitere These, im Vergleich zu ihrer Vorbeschäftigung in Hinblick auf die materielle und insbesondere in Hinblick auf soziale Sicherheiten erheblich verschlechtert.
Die sogenannten Existenzen der Kleingewerbetreibenden sind entweder von kurzer Dauer oder wechseln häufig ihren Besitzer. So wird die angestrebte Dauerlösung zu einer Übergangslösung.
b) Interviewleitfaden
An diesen herausgearbeiteten Thesen orientiert sich der Interviewleitfaden.
Der Interviewleitfaden dient innerhalb der Konzeption des verstehenden Interviews als „flexible Orientierungshilfe“ (Kaufmann 1999: 65) und hat die Aufgabe, mit seinen Eingangsfragen den Interviewpartner „zu einem bestimmten Thema zum Reden zu bringen“ (Kaufmann 1999: 65). Idealtypischerweise wird er über die Ausgangsfrage(n) hinaus nicht verwendet. Die Fragen werden logisch geordnet und hierarchisiert und weisen einen präzisen und konkreten Charakter auf. Der Interviewleitfaden wird in Hinblick auf einen fiktiven Interviewpartner erarbeitet und vom Interviewer nahezu internalisiert (vgl.: Kaufmann 1999: 65ff.).
c) Interaktion/Asymmetrie
Ein Hauptaugenmerk des verstehenden Interviews liegt auf der Ebene der Interaktion zwischen dem Interviewer und dem Interviewten. Nicht das Paradigma der Neutralität, dieses von vielen Forschern favorisierte Prinzip, sondern das der Empathie liegt diesen Interviews zugrunde. Die Struktur der Befragungsbeziehung, der Austauschbeziehung, die durch den Zwang gesellschaftlicher Strukturen eine asymmetrische ist, „dieses Eindringen und Sicheinmischen“ (Bourdieu 1997:781) zu erkennen und die daraus resultierenden Effekte zu benennen, ist Teil der späteren Auswertung der Interviews.
Der Interviewer sollte sich zu Beginn des Interviews einen Eindruck davon verschaffen, inwieweit ein Gefälle zwischen dem, was der Gegenstand der Untersuchung ist, „wie er vom Befragten verstanden und interpretiert wird, und dem Gegenstand in seinem eigenen Augen ist, um die daraus entstehenden Verzerrungen mindern oder zumindest verstehen zu können (...).“ (Bourdieu 1997: 781).
Ziel der Interaktionsführung ist es einerseits, „die symbolische Gewalt, die durch die Interviewbeziehung zur Ausübung kommen kann, so weit wie irgend möglich zu reduzieren“ (Bourdieu 1997: 782) und andererseits durch eine „Beziehung des aktiven und methodischen Zuhörens“ die Interviewten zu ermutigen, sich das Interview anzueignen, zu dessen Subjekt zu werden (Bourdieu 1997:782).
d) Soziale Nähe
Eine weitere Voraussetzung für das Gelingen eines verstehenden Interviews ist, dass die Interviewer eine soziale Nähe zu den Interviewpartnern aufweisen sollten. Durch diese Auswahl wird aktiv auf die Struktur der Beziehung Einfluss genommen. Das bedeutet, dass soziale Nähe zu den Interviewten das wesentliche Kriterium für die Rekrutierung ist und nicht die Professionalität der Interviewer. Dies führt dazu, dass diejenigen Interviewer, die über keine sozialwissenschaftliche Ausbildung verfügen, jedoch die Bereitschaft mitbringen müssen, sich über einen längeren Zeitraum über den Gegenstand, die Art und Weise des Interviews und deren Tücken zu informieren.
Mit den in dem vorangegangenen Kapitel erklärten theoretischen und pragmatischen Vorannahmen war eine sorgfältige Auswahl derjenigen Projektmitarbeiter verbunden, die vorrangig Interviews durchführen sollten. Mit Mehmet Paküyrek und Olivia Günther konnten zwei Mitarbeiter gewonnen werden, die idealtypisch den von uns geforderten Kriterien für den Untersuchungskomplex „Turmstraße“ entsprachen. Für das Untersuchungsgebiet „Russischsprachige Migration“ war dies Juri Nening.
Für die weiteren Interviewer gilt, dass sie zumindest das soziale Milieu außerordentlich gut kennen, etwa durch ihre eigene Jugend. Diejenigen Interviewer, die Experteninterviews durchführen, besitzen durch ihre akademische Ausbildung und dem daraus resultierenden Habitus eine soziale Nähe zu den interviewten Experten.
e) EmpathieSo entdeckt der Interviewer „Stück für Stück eine neue Welt, nämlich die der befragten Person, mit ihrem Wertesystem, ihren Ordnungsschemata, ihren auffälligen Besonderheiten, ihren Stärken und Schwächen.“ (Kaufmann 1999: 75). Der Interviewer sollte im Idealfall „Sympathie für den Befragten entwickeln, während er gleichzeitig seine mentalen Strukturen begreift“ (Kaufmann 1999: 76).
f) Rahmungen
Die Interviews werden einerseits, so die Erwartung, Zeugnis ablegen über das Spektrum der Lebensweisen unter dem Diktat sozialer Unsicherheit, andererseits werden spezifische Teilungen und sozialstrukturelle Verschiebungen sichtbar. Die Interviews werden in sogenannte „Rahmen“ eingebettet, das bedeutet, dass möglichst viele „objektive“ Daten und Informationen über die soziale Eingebundenheit gesammelt und dem Interview voran- bzw. nachgestellt werden, mit dem Ziel, die spezifischen Aussagen, Strategien, Taxonomien und Klassifizierungsschemata der Interviewten adäquater „verstehen“ zu können.
Erste Auswertungen der Interviews
Erste Ergebnisse einer vorläufigen Auswertung der Interviews der Kleingewerbetreibenden, die noch verfeinert und vor allem in einen gesellschaftspolitischen Kontext gestellt werden müssen, liegen nun vor. Diese möchte ich nun kursorisch zusammenfassen:
Diese vorläufigen aus dem umfangreichen Material extrahierten Bündelungen der Aussagen der Interviewten zeigen bereits eine grundlegende Tendenz auf: Die vorgenommenen „Existenzgründungen“ verbessern nicht die Lebensumstände und -perspektiven, sondern im Gegenteil potenzieren sie das Maß an Unsicherheit, schaffen zusätzliche Unsicherheitsfaktoren, und führen auch zu veränderten psychosozialen Dispositionen.
In den nächsten Schritten der Auswertungen gilt es nun, neben der Konstruktion des „objektiven“ Rahmens, die Bewältigungsstrategien und Zukunftserwartungen der Kleingewerbetreibenden in Hinblick auf ihre soziale Unsicherheit herauszuarbeiten.
Ausgehend von den ersten Tendenzen stellt sich auch prognostisch die Frage, ob die soziale und sozialstrukturelle Situation der Kleingewerbetreibenden der Turmstraße ein spezifischer Fall ist, oder ob diese nicht ein Modell für die zukünftige sozialstrukturelle Zuordnung der Kleingewerbetreibenden in der gesamten Bundesrepublik ist.
Zum Abschluss werden die Befunde mit den aktuellen Diskussionen um prekäre Lebensverhältnisse konfrontiert, insbesondere unter der Prämisse, welche Effekte die Expansion sozialer Unsicherheit auf klassische Vorstellungen der Sozialstrukturanalyse ausüben.
Literatur
8.1. Prekäre Lebensbedingungen, unsichere Arbeitsverhältnisse – Expansion sozialer Ungleichheiten. Auf dem Weg von der Peripherie zum Zentrum?
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