TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. April 2010

Sektion 8.11. 8.11. Offene Welt – veränderte Rollen und Begriffe
SektionsleiterInnen | Section Chairs: Tibor Polgár und Veronika Pólay (Dániel Berzsenyi Hochschule, Szombathely, Ungarn)

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Inhaltlicher Vergleich von deutschen, russischen und ungarischen
Grundbegriffen in der Sportwissenschaft

Tibor Polgár: (Dániel Berzsenyi Hochschule, Szombathely, Ungarn) [BIO]

Email: poti@mnsk.nyme.hu

 

1. Fragestellungen, Forschungsziele

Das einheitliche europäische Hochschulsystem, basierend auf dem Bolognaprozess, wird in immer mehr Ländern eingeführt. Als dessen Folge wächst die Mobilität der StudentInnen zwischen den Ländern und Universitäten, hauptsächlich im Rahmen des Erasmus-Programms,. Die verschiedenen Länder, Völker, Kulturen verfügen aufgrund ihrer historischen Entwicklung über eine abweichende oder nur teilweise ähnliche Fachsprachenkultur, was Deutungsschwierigkeiten verursachen kann. Die sportwissenschaftlichen Grundbegriffe in der Untersuchung enthalten inhaltlich unterschiedliche Inhalte und Werte. Betont sei, dass es sich hier um keine linguistische, sondern um eine sportwissenschaftliche Untersuchung handelt.

Die dominanten Sprachfamilien haben die europäische Verbreitung der Sportfachsprache determiniert. In Ost-Europa bzw. auf den slawischen Gebieten war die russische Sprache, in Mitteleuropa die deutsche Sprache, in West-Europa und weltweit die englische Sprache vorherrschend. Historische Ereignisse haben diesen Prozess weiter verstärkt. Welche Bedeutung haben diese Begriffe dadurch erhalten? Wird der gleiche Inhalt in den verschiedenen Ländern unter diesen Begriffen verstanden wie in Ungarn?

Dieser Vortrag ist die erste Station einer internationalen Analyse sportwissenschaftlicher Grundbegriffe. In der Untersuchung geht es um zehn Grundbegriffe , von denen hier fünf analysiert und erforscht werden: Gesundheit, Körpererziehung/Leibeserziehung, Körperkultur, Rekreation, Sport. Obwohl der historische Hintergrund in den einzelnen Ländern ähnlich ist, zeigt sich ein bedeutender Unterschied im Inhalt der Begriffe, auf die die Veränderungen der gesellschaftlichen Systeme einen großen Einfluss ausgeübt haben.

In Ungarn war vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts der österreichische, deutsche Einfluss auf Körpererziehung und Sport in Kenntnis der historischen Ereignisse charakteristisch, deshalb wird die Untersuchung mit dem Vergleich einiger deutscher und ungarischer Begriffe begonnen. Nach dem II. Weltkrieg, zur Zeit der sowjetischen Besatzung, ist die Wirkung, der Einfluss der auf Gewalt beruhenden Gesellschaft auf Körperkultur und Sport spürbar, die von den verschiedenen Organisationen, Bewegungen weiter vertieft wird.

 

2. Untersuchungsmethoden

Als Untersuchungsmethode wurde die Dokumentenanalyse und die Inhaltsanalyse gewählt. Auf der Grundlage der deutschen, russischen und ungarischen Fachliteratur wurden beinahe fünfzig Fachbücher und Zeitschriften studiert.

 

3. Vergleich der Begriffe

3. 1. Gesundheit – Здаровъе – egészség

Die deutschen, russischen und ungarischen Autoren haben seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Definition der WHO aus dem Jahre 1948 als Grundlage benutzt, nach der die Gesundheit ein physischer, psychischer und sozialer Harmoniezustand ist. Die Gesundheit ist ein das Verhalten des menschlichen Körpers umfassender, sich schnell verändernder Zustand. Sie ist eine psychophysische Leistung, die Eignung der Organsysteme, das Antonym von Krankheit. In der Realität kann man kaum einen völlig gesunden Menschen finden.

Die Bewertung der Wirkung des Sports auf die Gesundheit ist eindeutig schwierig, denn der Begriff der Gesundheit enthält viele gegensätzliche Züge. Der holistische Begriff von Gesundheit betrifft sechs wichtige Gebiete:

Dieser holistische Begriff der Gesundheit ist leider noch wenig verbreitet, sowohl in der deutschen, russischen als auch in der ungarischen Sportfachliteratur.

3. 2.  Leibeserziehung, körperliche Erziehung, Körpererziehung Физическое воспитание, Физкультура – testi nevelés, testnevelés

Körpererziehung hat auf deutschem Sprachgebiet wenigstens drei akzeptierte Übersetzungen (Körpererziehung, körperliche Erziehung, Leibeserziehung), während für die körperliche Erziehung kein anderes Wort benutzt wird. Teil der Leibeserziehung ist die Körpererziehung. Das Wort „Leib” wird deshalb benutzt, damit die materialistische Auffassung vermieden wird. Die Leibeserziehung löste den Begriff Schulturnen mit seinen alten militaristischen Zielinhalten ab und drückt auch die Erziehungsabsicht sowie den Prozess aus. Die Ganzheit des Menschen bedeutet die Einheit von Geist, Seele und Körper. Teilaufgaben der schulischen Leibeserziehung sind Bewegungserziehung, Körpererziehung, Gesundheitserziehung und Spielerziehung. Die motorische Bildung ist kein selbständiger, sondern gleichzeitig auch ein vermittelnder Wert.  Nach Gaulhofer muss nicht nur der Körper trainiert werden, sondern auch der ganze Mensch muss als Einheit betrachtet werden; eigentlich ist es die Bildung des Menschen ausgehend vom Körper. Es zielt auf die Gesundheit, die Vorbereitung auf das Leben, die pädagogische Vorbereitung, die Entwicklung der ganzen Persönlichkeit und das Erleben des Gefühls der Freiheit in der Gesellschaft ab.

Der Begriff Körpererziehung wurzelt in der Marxschen Erziehungstendenz, seine Wurzeln reichen bis zum Neuhumanismus zurück. Er war die Grundlage des sozialistischen Schulsystems. Das materialistische Menschenbild wird hier in den Vordergrund gestellt. Die aus der russischen Fachliteratur, von Matwejew und Novikov übernommene Definition deutet die körperliche Erziehung als Körpererziehung. Es werden zwei Seiten betont, die eine ist die Herausentwicklung der Bewegungen, der motorischen Handlungen, Bewegungssteuerung, der Erwerb von Fertigkeiten. Die andere ist die Entwicklung der körperlichen Eigenschaften, im engeren Sinne die Körpererziehung, die sich zweckmäßig auf die körperlichen Eigenschaften des Menschen auswirkt. Dabei handelt es sich um standardisierte, motorische Tätigkeiten durch funktionale Belastung. Es ist eine zielbewusste menschliche Tätigkeit, die Optimierung der individuellen Lebensführung durch Körperübungen, die Ausnutzung der natürlichen Bedingungen im Interesse der Veränderung des Nervensystems, des Blutkreislaufes, des Atmungssystems, der Kraft, der Ausdauer, der Schnelligkeit. Es ist eine quantitative und qualitative Veränderung. Vier Komponenten seines Systems sind bekannt, wobei die erste die ideologischen Grundlagen sind, die zweite die Methoden, die Mittel, die Wirtschaftlichkeit, die dritte der Lehrstoff bzw. die Forderungen des Lehrers und die letzte die Institute und Organisationen. Die Begriffe der Körpererziehung, der körperlichen Erziehung, ihre Geltungsbereiche, ihre theoretischen, praktischen und objektiven Komponenten werden im Ungarischen besser voneinander getrennt.

Körpererziehung, wie auch das Unterrichtsfach bezeichnet wird, ist ein pädagogischer Prozess. Ihr Ziel ist es, die Gesundheit zu stärken, die Entwicklung von physischer und seelischer Stärke, die Steigerung der Leistungsfähigkeit, die Verlängerung des seelischen und physischen Lebens, ferner die Vorbereitung auf die Arbeit und die Verteidigung der Heimat. In letzter Zeit sind über die inhaltliche Veränderung in Richtung Freizeitsport hinaus auch Benennungsveränderungen zu beobachten, so zum Beispiel beim Unterrichtsfach das statt Körpererziehung  jetzt Sport és mozgás (Sport und Bewegung) genannt wird.

3. 3.  Körperkultur – Физическая культура – testkultúra

In Westeuropa kam um 1900 im Zusammenhang mit der Lebensreform, der ganzen Lebensführung, die Forderung auf, den Körper im Interesse der verantwortlichen Praktizierung der in der modernen Zivilisation verlorenen Funktionen, der Verbesserung der Anpassungsfähigkeit, der Gesundheit, der Leistungsfähigkeit, aktiv zu pflegen. Geprägt vom Pathos der Lebensreform bildete sich die Nacktkultur heraus, die Kultur der Nacktheit, die freie Körperkultur. Über die Schulstunde hinaus als Teil der Erziehung gehört zur Leibeskultur, wie man sich anzieht, sich hygienisch pflegt und sich ernährt.

Eine andere Deutung von Körperkultur ist die sowjetische, die Turn-, Sportbewegung der Arbeiter. Diese Bewegung hat Körperkultur als kollektive Aufgabe aufgefasst, als integrativen Teil der Bewegungskultur, der sozialistischen Kultur. Dabei ist die Körperkultur als gesellschaftlich-politische Aufgabe zu verstehen mit den Zielen der physischen Vervollkommnung, mit dem nicht geheimen Ziel der Vorbereitung auf Arbeit und Verteidigung der Heimat. Teilbereiche der Körperkultur sind körperliche Erziehung, Körpererziehung, Sport.  Ihr Ziel ist unter anderem die Entwicklung der Kondition des Volkes, die physische Entwicklung und die Entwicklung der Gesundheit, die gesellschaftliche und persönliche Hygiene, die Bestimmung des richtigen Verhältnisses zwischen Arbeit und Erholung, die Benutzung der Naturkräfte (Wasser, Sonne, Temperatur, usw.).

Der Begriff mit seiner russischen Entsprechung „Физическая культура” verbreitete sich nach dem II. Weltkrieg in allen sozialistischen Staaten. Diese Theorie der Körperkultur spiegelte die gemeinsame Auffassung des Ostblocks wider. Die Herkunft der Begriffsbezüge in den älteren ungarischen Fachbüchern unterstützt dies. Ihre Ausbildung bestimmte die Produktionskräfte und Produktionsverhältnisse. Teil der Kultur waren die Körperkultur, Körperübungen, Körpererziehung, Sport.  Ziele, Aufgaben, Maßnahmen und Institute gehörten dazu.

3. 4.  Rekreation – Рекреация – rekreáció

Unter Rekreation mischen sich mehrere ähnliche Begriffe in der Fachliteratur: Sport-Rekreation, Rekreationssportarten, Freizeitsportarten, Aufbautraining, Neuaufbau des Körpers, usw., kein wettbewerbsmäßiges Training, aktive Erholung durch Sport, Erfrischung, Vorbeugung von Krankheiten, Abbauen der körperlichen Spannung. Die russischen und ungarischen Sportautoren nähern sich dem Begriff von der Seite des Sports an, mithilfe von Körperübungen richtet er sich auf aktive Erholung, Unterhaltung, betont weniger die gesundheitlichen Bezüge. Der Begriff der Rekreation wird in erster Linie mit der medizinischen Versorgung verbunden. Es wird auch medizinisches Aufbautraining genannt, es ist ein Training mit den Elementen der traditionellen Krankengymnastik. Dieses medizinische Aufbautraining muss das Rehabilitationsprogramm des Patienten begleiten. Ziel von Sport-Rekreation ist die Rehabilitation nach Arbeits- oder Sport-Verletzungen, der Wiederaufbau des Körpers nach Operationen und Verletzungen, bzw. es ist auch die Vorbereitung auf eine Operation, damit die Regenerationsphase so kurz wie möglich ist. Sie ist allen Altersklassen zu empfehlen, aber ihre Bedeutung wird mit dem Fortschreiten des Alters immer größer. Ihre Stufen sind Aktivierung, Stabilisierung und Wiederherstellung. Ihre Bedeutung wird auch dadurch hervorgehoben, dass im ungarischen Hochschulwesen bei einer der sportwissenschaftlichen BA-Studiengänge die Ausbildung von Rekreationsexperten im Mittelpunkt steht.

3. 5.  Sport – cпорт – sport

Das Wort stammt aus dem Lateinischen, und bedeutet „sich wohl fühlen”. Der Begriff erschien um 1440, im Mittelalter gelangte er aus Frankreich in die englische Sprache. Die russische Sprache hat ihn aus der englischen übernommen. In der russischen Sprache bedeutet der Begriff Sport eine spezielle Form der Kultur, eine vielseitige gesellschaftliche Erscheinung. Er verhilft zum Frieden, zur Freundschaft, zur kulturellen Zusammenarbeit, aber bereitet auf das gesellschaftliche Leben, auf die Arbeit, auf den Kampf vor. Sport ist Mittel der vielseitigen Entwicklung des Menschen. Er ist körperliche und soziale Handlung, ist leistungsorientiert, wettbewerbsorientiert, kann wettbewerbsmäßig oder in der Freizeit betrieben werden. Er besteht aus Körperübungen, hilft zur Bewahrung und Stärkung der Gesundheit. Er verstärkt die Willenskraft, die moralische und ästhetische Erziehung. Er bedeutet alle Tätigkeiten, die körperliche Bewegung, motorische Tätigkeit sind,  er strebt nach zielbewusster körperlicher Leistung. Sport ist nicht produktiv, stellt kein Produkt her. Seine Arten sind Leistungssport, Massensport, Schulsport, Militärsport, usw. In den sozialistischen Staaten wurde statt Freizeitsport eindeutig der Begriff Massensport benutzt. Wahrscheinlich gab es Probleme mit der Deutung des Begriffs Freizeit, weil das Verlassen des Wohnorts, die Reise von einem Ort an den anderen als Verwirklichung von Freiheit in den diktatorischen Gesellschaften nicht (immer) genehmigt war.

Im sozialistischen Ostblock war bis in die achtziger Jahre im Sport die Leistung am wichtigsten, seine Grundlagen waren die klassischen Sportarten. Heute hat der Leistungssport von hohem Niveau infolge der gesellschaftlichen Veränderungen seinen Schaufenster-Charakter und sein Leuchten verloren. Das neue Ziel ist der Ausgleichssport. Erlebnissport und Gesundheitssport traten in den Vordergrund. Alle möglichen Bewegungstätigkeiten, falls sie selbständig zustande kommen und nicht als körperliche Arbeit verstanden werden können, können als Sport aufgefasst werden. Im weiten Sinne ist Sport zum Beispiel mit dem Fahrrad zur Arbeit, zur Schule zu fahren. Die Rekreations-Freizeitsportarten können mehrere Zweige haben. In West-Europa trifft man verschiedene Benennungen für Sport als das nützliche und unterhaltsame Verbringen der Freizeit, wie zum Beispiel Freizeitsport, Bewegungssport, Familiensport, Erholungssport, Breitensport, Ausgleichssport, Jedermannsport, Lifetimesport usw.

 

4. Zusammenfassung, Schlussfolgerungen

Bei dem Vergleich der sechs Begriffe findet man die gröβten Gemeinsamkeiten bei dem Begriff  Gesundheit, vielleicht weil er frei von Politik ist. Auf die Gemeinsamkeit der Begriffe Sport und Körperkultur kann man wegen der gemeinsamen geschichtlichen Vergangenheit schlieβen. In Ungarn war seit dem 17. Jahrhundert der deutsche und österreichische, seit der Mitte des 20. Jahrhunderts der russische Einfluss maβgebend, der den Inhalt und die Funktionen der Begriffe bestimmte. Der Inhalt der Körpererziehung und der körperlichen Erziehung wird in der deutschen Sprache nicht unterschieden, im Ungarischen ist Körpererziehung Teil der das ganze Leben umfassenden körperlichen Erziehung, bzw. ein Schulfach. Als gutes Beispiel ist der Begriff Körpererziehung zu nennen, im deutschen Sprachraum hat er wenigstens drei akzeptierte Übersetzungen (Körpererziehung, körperliche Erziehung, Leibeserziehung), während die deutsche Sprache für körperliche Erziehung keine eigene Benennung hat. Der Begriff Rekreation ist in Deutschland in der Medizin wichtig, während er auf russischem und ungarischem Sprachgebiet eher im Sport und Körpertraining von Belang ist.

In der Zukunft wird die Forschung auch auf andere Länder und Gebiete erweitert, denn es sind wichtige Erkenntnisse zu erwarten. Körperkultur und körperliche Erziehung sind in vielen europäischen Ländern nicht nur unverständlich, sondern fehlen völlig im öffentlichen Bewusstsein.

 

Literatur:


8.11. 8.11. Offene Welt – veränderte Rollen und Begriffe

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For quotation purposes:
Tibor Polgár: Inhaltlicher Vergleich von deutschen, russischen und ungarischen Grundbegriffen in der Sportwissenschaft - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/8-18/8-11/8-11_polgar17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-04-01