TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Februar 2010

Sektion 8.13. National Self-Identity in the Context of Global Events | Nationale Selbstidentität im Kontext der globalen Ereignisse
Sektionsleiter | Section Chair: Dmitry Yurchenko (Staatliche Linguistische Universität Pjatigorsk, Russland)

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Interkulturelle Kompetenz als Voraussetzung für Selbstkritik

Natalia Wassiljewa (Südliche Föderale Universität Rostow-am-Don, Russland) [BIO]

Email: taltscha@inbox.ru

 

Wie bekannt führen Technologieentwicklung  und  Globalisierung  zu immer dichter und spezialisierter werdenden Kommunikationsvorgängen. Die Vertreter multinationaler Unternehmen erkennen die Bedeutung und die Wichtigkeit von Sprach- und Kulturkenntnissen.

Es gibt eine Reihe von russisch-deutschen Kulturunterschieden landeskundlicher und sprachlicher Art,  die zu Missverständnissen führen können:

Für beide Seiten, für Deutsche und Russen, sind oft Fragen ein Schlüssel zum erfolgreichen Praktizieren interkultureller Kompetenz:

Vieles kommt auf Kulturstandards an, die jede Kultur in ihrem Orientierungssystem über Generationen hinweg ausgebildet hat. Erst im Kontakt mit fremdkulturell sozialisierten Partnern können die Kulturstandards bewusst und sensibel interpretiert werden.

Interkulturelle Kompetenz bedeutet, verschiedene Wege zu finden, die einem das Übernehmen fremder Kulturstandards in das eigene Handlungsschema ermöglichen. Auf diese Weise können dann Vertreter verschiedener Kulturen erfolgreich miteinander kommunizieren.

Kulturelle Unterschiede sind oft schwer zu ertragen. Viele Menschen privilegieren das  „Eigene „ werten das „Andere „ ab und grenzen das „Unterschiedliche“ aus. Dieses Phänomen wird als „Ethnozentrismus“ bezeichnet. M. Koch – Hillebrecht hat den Begriff „Ethnozentrismus“  erläutert: „Der Stoff, aus dem die Dummheit ist“. (A. Wierlacher, 1993).

Interkulturelles Training ist eine Methode, das einen Einblick in fremde Denk- und Wertesysteme gewährt. Der Versuch, Andersartiges und Fremdes zu verstehen, schließt  die Beschäftigung mit der eigenen Kultur und Gesellschaft ein. Die Lernenden können diese im Vergleich mit der Zielkultur neu sehen und beurteilen.

Interkulturelle Kompetenz ist effektives Verhalten in anderen Kulturen. Man kann die interkulturelle Kompetenz als eine Formel darstellen:

IKK=S+S+S—V—V—V, in der Selbstkompetenz (eigene Kultur), Sachkompetenz (Zielkultur) und Sozialkompetenz die Ttrias „Verständnis  - Verstehen – Verständigung“ ermöglichen.

Die Europäische Kommission hat für die Beseitigung von Vorurteilen  und Diskriminierungen vier Etappen vorgesehen:

  1. Etappe: Ignorieren von unterschiedlichen Lebenshaltungen wie „bei uns ist alles besser“.
  2. Etappe: Bewusstwerden von Unterschieden durch interkulturelle Kontakte und Beobachtungen wie „es gibt auch andere Verhaltensweisen“.
  3. Etappe: Tolerierung und Respektierung des „Andersseins“ ohne Werturteil.
  4. Etappe: Akzeptierung, Wertschätzung und Nutzung der Unterschiede als Basis einer konstruktiven Zusammenarbeit. In der 4.Etappe erreicht man die interkulturelle Kompetenz. Hier ist das „Leben miteinander und das Lernen voneinander“ möglich

Jeder Mensch wird durch die Kultur, in der er aufwächst, entscheidend geprägt. Im normalen Alltag weiß er davon nichts: die kulturspezifischen Eigenschaften sind für ihn Selbstverständlichkeiten , darüber denkt man nicht nach.

Eine Liste von Kategorien  bildet das spezifische Profil  (G. Maletzke) einer Kultur. Diese Kategorien werden „Strukturmerkmale“ genannt. Das sind:

  1. Nationalcharakter, Basispersönlichkeit.
  2. Wahrnehmung.
  3. Zeiterleben.
  4. Raumerleben.
  5. Denken.
  6. Sprache.
  7. Nichtverbale Kommunikation.
  8. Wertorientierungen.
  9. Verhaltensmuster: Sitten, Normen, Rollen.
  10. Soziale Gruppierungen und Beziehungen.

Niemand zweifelt daran, dass die Deutschen in ihrem Charakter, in ihrer Persönlichkeit anders als die Franzosen, Amerikaner, Inder, Chinesen u.s.w. sind.

In Europa gab es  schon immer ein Verständnis von fremder Kultur als Gegenkultur, als Alternative zum Eigenen, als Konkurrenz. Das Französische wurde in Deutschland seit dem 9., das Englische seit dem 10. Jahrhundert gelehrt und gelernt. Diese Sprachen waren Ausdruck von alternativer Kultur, ihr Erlernen war praxisbezogen. Sie waren die Sprachen von Partnern oder von Konkurrenten, von Verbündeten oder auch Feinden.

Das Konzept vom Nationalcharakter basiert auf der Annahme, dass die Menschen einer Nation sich in den Grundmustern ihres Erlebens und Verhaltens sowie ihrer Persönlichkeit gleichen und sich von Menschen anderer Nationen abheben. Heterostereotype wurden zu Klischees und spiegeln in Phraseologismen und stehenden Wendungen spontane Beschreibungen fremder Völker wider. Betrachten wir Heterostereotype der Deutschen anhand der stehenden Wendungen und Phraseologismen.

Z.B. Der Franzose ist  nationalbewusst und galant. Für ihn ist die Liebe sehr wichtig.

„Französisch krank sein“ (eine Geschlechtskrankheit haben).

„Ein französisches Bett“ – ist ein breites zweischläfriges, in einem Stück gearbeitetes Bett.

Der Pole ist unzivilisiert, rückständig.

Wenn bei jemandem „eine polnische Wirtschaft“ herrscht, ist da etwas in Unordnung.

«polnisch Verheirаtete“ leben ohne standesamtliche Trauung zusammen.

Der Russe scheint rätselhaft, rückständig, wild, riskant, unberechenbar zu sein.

«Russisches Roulett spielen“ – ist eine Mutprobe.

Der Tatare ist unehrlich.

“Tatarennachricht” ist eine veraltende Bezeichnung für unwahrscheinliche Schreckensnachricht.

Der Jude ist  talentvoll auf der Branche “Geschäft“

Wenn jemand seine Sachen verpfändet, dann „lernen seine Kleider Hebräisch“.

Unerwünschte Personen „sieht man so gern, wie ein Ferkel in der Judenküche“.

„Es geht irgendwo zu wie in einer Judenschule“  - da wird sehr laut durcheinandergeredet.

Die Schweizer sind haushälterisch, sparsam.

„Kein Geld, keine Schweizer“- „point dárgent, point de Suisse“ – Es gibt nichts ohne Gegenleistung. Bei den „Schweizern“ handelt es sich um die Gardesoldaten, die an vielen europäischen Höfen dienten. Diese Söldner achteten sehr genau auf pünktliche Zahlung ihres Soldes. Blieb der aus, brachen sie schon mal einen Krieg ab, wie 1521 im Falle der Belagerung Mailands durch Franz den ersten.

Wegen des 30-jährigen Krieges haben „SCHWEDISCHE“ Redewendungen eine negative Konnotation.

„Die Schweden kommen!“ – sagt man von einer drohenden Gefahr..

Wenn man jemandem «den Schweden wünscht“, dann wünscht man ihm Unglück.

 «Alter Schwede“ – ist eine umgangssprachliche, scherzhaft drohende, kumpelhafte Anrede.

«Hinter die schwedischen Gardinen kommen“ – im Gefängnis sitzen.

Holländer  -  biegsam, nicht aufrichtig, nicht offen, heuchlerisch.

„Durchgehen wie ein Holländer“.

Spanier- sind rätselhaft, seltsam, selbstbewusst.

Jemandem „spanisch vorkommen“ bedeutet jemandem verdächtig, seltsam erscheinen.

«Stolz wie ein Spanier“ – einen besonders stark ausgeprägten männlichen Stolz erkennen lassen.

Für Engländer – sind strenge Verhaltensnormen charakteristisch.

„Nicht gerade die feine englische Art sein“ bedeutet nicht fair sein.

Autostereotype in der deutschen Phraseologie zeigen uns, dass sich Nord- und Süddeutsche, junge und alte, hoch und formal gebildete beträchtlich unterscheiden, obwohl sie in einem allgemeinen Sinne einer Nation gehören.

Der deutsche Michel ist eine spöttische Bezeichnung für den deutschen Biedermann.

Stolz wie ein Preuße ist eine selbstbewusste Person.

Sie sind nicht preußisch miteinander: sie  haben kein gutes Verhältnis zueinander. Die ´Preußen sind das Sinnbild für das Kriegerische. Die fast scherzhafte Redensart:

“So schnell schießen die Preußen nicht! gibt es als Selbsteinschätzung.

Ein blinder Hesse – ein einfältiger Mensch.

„Der Schwabenstreich“ ist ein lustig-dummer Streich, wie sie von den Schwaben erzählt werden.

Der Schwabe muss allzeit das Leberle gegessen haben –der Schwabe ist an allem Schuld, Sündenbock.

Ein pommerscher Schluck, Trunk –ein großes Stück, ein großer Schluck..

Die Kategorie „Nationalcharakter“ wird heute selten in den Wissenschaften besprochen. Somit erscheint die Frage berechtigt, ob es überhaupt zulässig ist, von „dem“ Deutschen, „dem“ Franzosen, „dem“ Russen,  „dem“ Japaner zu sprechen. Gibt es nicht bei genauem Hinsehen Deutsche, die „französischer“ sind als der „Franzose“, und Franzosen, die „deutscher“ sind als „der“ Deutsche?

Die Besonderheiten des russischen  Nationalcharakters kann man auch mit Sprichwörtern und stehenden Wendungen präsentieren.

Als ureigene Besonderheit des russischen Volkscharakters nennt  N. A. Berdjajew die Neigung zum „Hin-und - Herschleudern“  von einem Extrem ins andere. Er spricht  vom Kontrastreichtum im Verhalten der Russen. Gleichzeitig weist er auf das Fehlen eines Ruhepols hin und -  daraus resultierend – auf die fehlende Bereitschaft, Kompromisse einzugehen. Dadurch erklärt sich der für die russische Geschichte typische „Katastrophismus“ in Tempo und Rhythmus der nationalen Entwicklung und der Hang zu Extremen. Der russische Schriftsteller A. P. Tschechow schreibt deshalb wohl nicht zufällig, dass „der russische Mensch gern in Erinnerungen lebt, weniger jedoch in der Gegenwart“. Es scheint für ihn keine Gegenwart zu geben, sondern nur Vergangenheit und Zukunft  -  das ist „der wichtigste nationale Charakterzug der Russen“.

Autostereotype in der russischen Kultur  können auch mit Hilfe von Sprichwörtern, Phraseologismen und stehenden Wendungen präsentiert werden.

  1. Schicksalsergebenheit. (Der Mensch denkt, und Gott lenkt).
    Diese Schicksalsergebenheit führt zu einer übermäßigen Duldsamkeit gegenüber Menschenverachtung, sozialen Missständen und bürokratischer Schikane, die sich  in Passivität, ja  Apathie äußert. Das Schicksal des einzelnen spielte in der gesamten russischen Geschichte eine untergeordnete Rolle gegenüber dem „Schicksal der Gemeinschaft“ (was auch immer dafür gehalten wurde). Es gibt so gut wie keine  demokratische Kultur, und  wenn wirklich einmal Widerstand geleistet wird, dann entlädt er sich allzu oft  in blinder Wut und Verbitterung. „Der russische Aufruhr sei „sinnlos und erbarmungslos“ A. Puschkin.
  2. Der ausgeprägte Hang zur Geduld – Gabe oder Fluch? (Geduld, Kosak – dann wirst du Ataman). (Kommt Zeit – kommt Rat).
    Geduld und Ungeduld liegen oft dicht beieinander und sind nicht selten von Extremen geprägt. Die Mehrzahl der Russen erträgt viele Situationen mit stoischer Geduld. Um so mehr verwundert es Ausländer zu beobachten, wie viele  Autofahrer  russische Straßen zu ihrem  „Jagtrevier“  erklären und ein so unglaublich egoistisches, verantwortungsloses Verhalten an den Tag legen, als wollten sie sich auf der Straße für alle im Alltag erlittene Unbill und Erniedrigung rächen.
  3. Die Neigung zum Aberglauben und zur Mystik. (Scherben bringen Glück).
    Eine gewisse Neigung zu Aberglauben und Mystik haben die Bewohner ländlicher Gegenden. Z.B.: Miauzt der Kater auf dem Ofen und kratzt dabei  mit der Pfote, so bedeutet das, dass Gäste  kommen. Beim Anblick einer Sternschuppe kann man, während der Stern fällt,  einen geheimen Herzenswunsch flüstern, und er wird in Erfüllung gehen. Bleibt im Feld ein Hase stehen und versperrt er einem (vor Angst) den Weg, so braucht man nur noch auf sein Unglück warten. Neujahrsbrauch: man gießt Wachs und versucht mit der so entstandenen Figur sein Schicksal zu deuten. Junge Mädchen  werfen in der Neujahrsnacht ihren Stiefel über das Tor. Wohin die Spitze zeigt, von dort kommt der Bräutigam. Die Menschen in den Städten weichen schwarzen Katzen aus, geben sich nicht die Hand über die Türschwelle und deuten einen zerbrochenen Spiegel als Vorboten des Unglücks. Montag, der 13. (nicht Freitag!) gilt als Unglückstag.
    Astrologische Zentren, Okkultismus- Schulen und andere schillernde Gebilde schossen wie Pilze aus dem Boden und buhlen inzwischen zu Hunderten um die Gunst der Kunden In einer Zeit der Orientierungslosigkeit suchen immer mehr Menschen nach einem neuen Halt – nicht wenige glauben, ihn im Überirdischen, Übernatürlichen zu finden.
  4. Das ertragen von Leid und die große Bereitschaft zum Leiden. (Selbst wenn man auf dem Friedhof lebt, kann man nicht alle beweinen). (Sorgen versilbern den Bart).
    Die Fähigkeit zu einem sehr gefühlsbetonten, expressiven Ausleben von Leid, das Teilen des Leids mit anderen (nicht selten sogar Fremden) hat dem russischen Volk stets die Kraft gegeben, wiederholt mit furchtbaren Schicksalsschlägen fertig zu werden. Vielleicht ist sie zugleich auch eine Ursache dafür, dass sich die russische Geschichte in vielen Punkten mit erschreckender Kontinuität zu wiederholen scheint, dass Geschichtsbewältigung rein emotional und nicht rational erfolgt. Es ist eine  verbreitet Haltung, sich in der Opferrolle zu gefallen und für alle Missstände und Unbill einen imaginären Schuldigen zu suchen (sei es der jüdische Nachbar oder die „schwarzen Visagen“ aus dem Kaukasus). Weit verbreitet ist vielmehr die Auffassung, dass sich der Mensch an alles gewöhnen könne – wenn er nur will, und dass  jeder das bekommt, was er verdient.
  5. Die Fähigkeit zum Mitgefühl und zur Solidarität. (Ein guter Mensch nimmt sich auch fremdes Leid zu Herzen).
    Einerseits entspringen die Fähigkeit zum Mitleid, ein starkes Solidaritätsgefühl und ein ausgeprägter Gemeinschaftssinn  dem  traditionell ländlichen, egalitären Grundcharakter der russischen Gesellschaft. Andererseits ist das öffentliche Bewusstsein für die Probleme sozialer Randgruppen und Härtefälle mangelhaft sensibilisiert und nicht selten wird die Meinung vertreten, dass es die Sache des Staates sei, sich um alle sozialen Probleme zu kümmern. Oft spielen auch elementare Wissensdefizite und Mangel an Aufklärung (z.B. im Falle Aids – oder Alkoholkranker) eine nicht unwesentliche Rolle.
  6. Ein gewisser Hang zur Grausamkeit.  (Es ist nicht meine Karre – nicht ich muss sie ziehen). (Ein fremder Zahn tut mir nicht weh).
    Die historisch verwurzelte Missachtung des einzelnen, die Geringschätzung des menschlichen Lebens haben dazu geführt, dass das Gefühl für den Preis des eigenen Lebens und das  anderer oft verloren geht. Am bezeichnendsten in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass sich immer noch 70% der Russen für den Erhalt der Todesstrafe aussprechen. Aus einer die soziale Gleichheit aller postulierenden Kollektivgesellschaft ist über Nacht eine Ellenbogengesellschaft geworden, in der einzig das Gesetz des Stärkeren zu gelten scheint. Da übermäßige Härte, ja Grausamkeit im öffentlichen Bewusstsein nicht als barbarisch geächtet sind, erscheinen sie manchem als zumindest legitimes mittel im Kampf ums Überleben in der „Wolfsgesellschaft“.
  7. Heimatverbundenheit. (In der Fremde ist auch der Frühling nicht schön, in der Fremde ist  auch der Adler ein Rabe). (Hinter dem Meer ist es wärmer, aber bei uns ist es schöner).
    Der russische Volkscharakter zeichnet sich durch einen hohen Grad an „Bodenständigkeit“ und Heimatverbundenheit (Ursache für eine begrenzte Mobilitätsbereitschaft) aus. Es besteht eine emotionale Bindung an die Heimatstadt oder – Region.
  8. Neid und Missgunst. (Dem Nachbarn ist die Kuh verreckt. Es geht mich nichts an – aber es ist erfreulich!) (Kaufe nicht den Hof, sondern den Nachbarn).
    Der Gedanke von der Gleichheit aller, der im Sozialismus zur Gleichmacherei verkam,  ist Ursache für einen tiefen Abscheu gegen jede Art sozialer Differenzierung, unanhängig davon, ob sie auf individueller Leistung, auf Protektion oder Geld beruht. Die rapide soziale Polarisierung in der Gegenwart – grenzenloser, offen zur Schau gestellter Reichtum, dessen Quellen oft im Dunkeln liegen, einerseits und die Verelendung großer Teile der Bevölkerung andererseits, sowie das Fehlen einer breiten Mittelschicht – all das verstärkt, insbesondere in der jüngeren Generation, auch solch negative Tendenzen, wie Neid und Missgunst.
  9. Der Hang zur Maßlosigkeit (die „Alles -  oder – nichts – Mentalität“). (Alles oder nichts).  (Entweder den Fuß im Steigbügel oder den Kopf auf dem Hackklotz).
    Maßhalten, sparsamer Umgang mit Ressourcen und Selbstbeschränkung sind nicht typische Eigenschaften vieler Russen. Auch die staatliche Wirtschaftspolitik zielte auf eine extensive Ausbeutung von Ressourcen (einschließlich der Ressource Mensch) und war darauf orientiert, „aus dem  Vollen“ zu schöpfen – Quantität ging stets über Qualität.
  10. Großzügigkeit im Verhalten – im Positiven wie im Negativen. (Wer Gutes tut, dem Gutes widerfährt).
    Diese Großzügigkeit im Verhalten trägt sowohl positive als auch negative Züge.
    Positiv sind: a. die auf Großzügigkeit basierende Bereitschaft zu teilen; b. Offenheit und Toleranz gegenüber Ausländern; c.die Fähigkeit „über den eigenen Tellerrand hinwegzusehen“.
    Negativ sind: a. Hang zur Maßlosigkeit; b. eine sehr lockere Haltung zu Qualitätsnormen und Sicherheitsstandards und zu den Begriffen wie „Zeit“ und „Pünktlichkeit“
  11. Die Fähigkeit zu  großen, ungebändigten Gefühlen.
    Gefühle, wie Freude, Trauer, Zustimmung oder Ablehnung werden offener und direkter gezeigt als in den meisten westeuropäischen Kulturen, was Ausländer nicht selten irritiert. Menschliche, emotionale Momente einer Beziehung werden – auch im Geschäftsleben – mindestens als ebenso wesentlich erachtet wie rein rationale.
  12. Der Hang zum Autoritären.
    Russland wurde jahrhundertelang  im Rahmen einer Monarchie von den Zaren absolutistisch regiert. Erst 1905 wurde Saatsduma (Volksvertretung in Form eines Parlaments) gegründet und seit  Annahme der jetzt geltenden Verfassung im Dezember 1993 ist Demokratie erklärtes Grundprinzip der Staatsordnung.  Der Ruf nach der „starken Hand“, die die Schuldigen an der jetzigen Misere bestrafen, „Ordnung schaffen“ und die soziale Gerechtigkeit wiederherstellen soll, hat Tradition und wird sicher nicht von heute auf morgen verstummen. Der Autoritätsglaube, die Überzeugung, dass „irgendwo da oben“ jemand sein müsse, der die alleinige Verantwortung „für alles“ zu übernehmen habe, ist bis auf den heutigen Tag stark ausgeprägt.
  13. Die Scheu vor Verantwortung. (Nicht durch uns hat es begonnen, nicht durch uns wird es enden).
    Die Scheu zur Übernahme von Verantwortung und die Tendenz, im Falle des Auseinanderklaffens von Wunsch und Realität einen Schuldigen am Misserfolg zu suchen, haben historische Wurzeln (z.B. Jagd auf „Volksfeinde“ und „Saboteure“ als ideologische Begründung für die Stalinschen Massenrepressalien). Der Ruf nach der „starken Hand“, die die alleinige Verantwortung übernimmt, ist zugleich auch der Wunsch, sich von der eigenen Verantwortung freizusprechen, sich an der unbequemen Suche nach Ursachen für eigenes Fehlverhalten und Versagen „vorbeizumogeln“.
  14. Die Gabe der Genügsamkeit. (Was wir haben, macht uns glücklich).
    Die Fähigkeit des russischen Volkes, sich in seinen Bedürfnissen auf das Allernotwendigste zu  beschränken, mit noch so wenig auszukommen, und das Wenige, das man hat, noch mit anderen zu teilen, ist gerade legendär. Bekannt ist die weitverbreitete Gewohnheit vieler Eltern, sich das letzte vom Munde abzusparen, um ihren Sprösslingen jeden noch so teuren Wunsch zu erfüllen.
  15. Die berühmte russische Gastfreundschaft. (Platz ist in der kleinsten Hütte).  (Was der Herd hergibt, kommt auf den Tisch!)
    Die Russen verfügen über unglaubliche Kreativität und Improvisationstalent, um selbst zu Zeiten, als in Geschäften und Kühlschränken gähnende Leere herrschte, den Tisch so aufzudecken, dass er sich bog, wenn Gäste erwartet wurden.  Die russische Gastfreundschaft hat eine lange Tradition. Sie ist Ausdruck des Gemeinschaftssinns der Russen, ihrer Weltoffenheit, Aufgeschlossenheit gegenüber Fremdem und Unbekanntem und ihres Wunsches nach Geselligkeit.
  16. Der Freundschaftsbegriff im Russischen. (Ein alter Freund ist besser, als zwei neue). (Ein treuer Freund ist besser, als hundert Diener).
    Persönliche und informelle Beziehungen in allen Sphären der russischen Gesellschaft spielten schon immer eine exponierte Rolle. Freundschaften haben einen sehr großen Stellenwert, was  mit dem russischen Sprichwort „Hab nicht 100 Rubel, sondern 100 Freunde“ sehr anschaulich illustriert wird. Es ist sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, eine klare Trennung zwischen „rein“ privaten und „rein“ geschäftlichen Beziehungen vorzunehmen. Aufgeschlossenheit, Offenheit und Kontaktfreudigkeit lässt es vielen Russen nicht schwer fallen, mit jemandem „ins Gespräch zu kommen“ und neue Beziehungen zu knüpfen. Generell wird Freundschaften eine wichtige Bedeutung beigemessen; von wahren Freunden erwartet man unbedingte Loyalität und auch Opferbereitschaft. Es gibt sogar eine Meinung, dass die wirkliche Stabilität das russische Business dadurch erlangt, dass ständige Partner in der Regel sehr schnell zu persönlichen Freunden werden. Einen Klienten übers Ohr zu hauen wird nicht gerade als große Sünde angesehen – aber einen Freund zu betrügen ist einfach undenkbar.
  17. Die „Milde-Gaben-Mentalität“
    Die sogenannte „Milde-Gaben-Mentalität“ trifft nur auf einen Teil der russischen Bevölkerung zu. Als in den Hungerjahren 1990-1991 vom Westen humanitäre Hilfe geleistet wurde, war die Resonanz darauf zweigeteilt. Während ein Teil der Bevölkerung das durchaus in Ordnung fand (schließlich lebe der Westen im Überfluss), äußerte ein anderer teil Ablehnung, ja Scham, dass die eigene Regierung  ihr Volk nicht mehr ausreichend kleiden und ernähren könne; dass es soweit gekommen sei, dass man jetzt schon im Westen um milde Gaben betteln müsse.
  18. Die Angst vor Gesichtsverlust. (Stürze dich nicht ins Wasser, wenn du die Furt nicht kennst.).  (Miss lieber siebenmal, ehe du einmal schneidest).
    Die Angst vor persönlichem Gesichtsverlust ist in einer Gesellschaft, in der direkte persönliche Kontakte eine herausragende Rolle spielen, besonders ausgeprägt  In diesem Punkt besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit den asiatischen Kulturen. Die Angst vor einem Gesichtsverlust ist es auch, die es Vorgesetzten und Entscheidungsträgern schwer macht, Fehler offen einzugestehen und Entscheidungen zu korrigieren.
    19. Die Neigung zu vorschnellen Urteilen. (Wir wundern uns nicht im Geringsten, wenn langhaarige Jünglinge in abgewetzten Jeans, mit Ringen an den Fingern und an den Ohren eine Sache vermasseln, während wir einem elegant gekleideten jungen Mann denselben Fehltritt verzeihen).
     Russen neigen zu vorschnellen Urteilen. Der erste direkte persönliche Eindruck, den man von jemandem gewinnt, ist ausschlaggebend. „Mehr –Schein-als Sein-Gesetz“ gilt . Meist ist es nicht einfach, einen einmal entstandenen Eindruck, ein einmal getroffenes Urteil zu revidieren.
  19. Im Dickicht russischer Bürokratie. (Wer nicht schmiert, der nicht fährt).
    Die russische Bürokratie ist ein allgegenwärtiger, alles durchdringender Moloch, der nicht nur für Ausländer schwer durchschaubar ist, sondern die eigenen Bürger selbst vor immer neue, oft schwer verdauliche Überraschungen stellt. Auch wenn die russische Bürokratie historisch gesehen zu einem guten Teil auf deutschen Wurzeln fußt (liegen doch ihre Anfänge in der Vorliebe Peter des Großen für alles (West) Europäische – darunter auch für die deutsche Verwaltung – begründet), so hat sie längst einen unverwechselbaren eigenen Charakter angenommen und wurde in den letzten 250 Jahren seit Peters Regierung mit russischer Kreativität zu wahrer Vollkommenheit geführt. Selbst die Kunst hat der berühmt-berüchtigen russischen Bürokratie in Gestalt von Gogols weltbekanntem „Revisor“ ein bleibendes Denkmal gesetzt. Die Größe  Russlands und die streng zentralistische administrative Leitung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in den sowjetischen Zeiten hat dazu geführt, dass ein riesiger Verwaltungsapparat aufgebaut wurde, der kaum geschrumpft ist, sondern, im Gegenteil, ständig neue Kinder und Kindeskinder hervorzubringen scheint. Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft sind die bürokratischen Hürden, mit denen man sowohl im Alltags- als auch im Geschäftsleben auf Schritt und Tritt konfrontiert wird, eher noch größer und undurchschaubarer geworden.
  20. Die Vernachlässigung öffentlichen Eigentums. (Es ist alles erlaubt, man darf sich nur nicht erwischen lassen).
    Die Ursache für die beispiellose Vernachlässigung öffentlichen Eigentums ist in dem fehlenden Eigentümerbewusstsein weiter Teile der Bevölkerung und einer eng damit verbundenen allgemeinen Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Umwelt zu suchen.
  21. Die Neigung zur Unberechenbarkeit.
    Spontane, oft gefühlsmäßig gefärbte Entscheidungen, die nicht selten von extremen Standpunkten geprägt sind, lassen Russen in ihren  Ansichten und Handlungen unberechenbar erscheinen. „Die russische Denkart orientiert sich nicht vorrangig an Fakten. Sie operiert mit schönen Worten… Es gibt viele, die einer bestimmten Idee anhängen. Aber eine absolut nüchterne Betrachtung gibt es nicht. Wir lassen weder Einwände Andersdenkender gelten, noch hören wir auf die Realität“. (I.P.Pawlow). Im Westen gilt Russland als politisch wenig berechenbar, weil die russische Geschichtsbewältigung überwiegend emotional und weniger rational erfolgte.
  22. Das Talent zum Improvisieren. (Not macht erfinderisch).
    Einer der herausragendsten Züge des russischen Volkscharakters ist ein unglaubliches Improvisationstalent, die Fähigkeit zu ungewöhnlichen, originellen Lösungen. Das Improvisationstalent hat auch eine Kehrseite. Immer dann, wenn aus Faulheit, Gedankenlosigkeit oder Trägheit „eben mal schnell improvisiert wird“, da, wo sich Improvisation von selbst verbietet, verkehrt sich diese positive Eigenschaft in ihr Gegenteil.
  23. Innovationsfähigkeit und strategisches Denken.
    Wirkliche Eigeninitiative und innovatives Denken waren im öffentlichen und beruflichen Leben wenig gefragt. Innovative  Mitarbeiter wurden in der Regel mit Misstrauen behandelt, da sie „jahrelang Bewährtes“ in Frage zu stellen drohten und für Unruhe sorgten. Eine individuelle Leistungsstimulierung ist den meisten Unternehmen bis heute ein Fremdwort. Die Schicksalsergebenheit und die tiefe Überzeugung, dass nichts wirklich planbar ist, haben zur Auffassung geführt, dass strategische Pläne das Papier nicht wert seien, auf dem sie stehen. Der Glaube an die Zukunft ist weitgehend erschüttert. Man lebt und plant für den heutigen Tag – morgen kann alles schon wieder ganz anders sein.
  24. Die leidige Unentschlossenheit. (Die Großmutter sprach doppelsinnig: soll es regnen, soll es schnei`n; tun wir`s oder lassen wir`s sein).
    Als Gründe für eine verbreitete Unentschlossenheit dürfen Instabilität, geringe Planbarkeit, rotierende „Kaderkarusselle“ in Ämtern und Behörden, Angst vor Gesichtsverlust und die Scheu vor individueller Verantwortung anzusehen sein. Die Folge ist eine oft fatale Abwartehaltung. Entscheidungen, darunter auch wirklich dringende, werden „auf die lange Bank geschoben“. Diese Haltung ist mit einer „Vogel-Strauß-Taktik“ vergleichbar.
  25. Unzulänglichkeiten in der russischen Arbeitsethik. (Arbeit liebt die Dummen).  (Wer schlecht arbeitet, soll wenigstens gut essen).
    Unter dem Einfluss jahrzehntelanger Misswirtschaft in der Vergangenheit, katastrophalen Managements, fehlender Leistungsstimulation und mangelnden Zukunftsglaubens in der Gegenwart, ist die russische Arbeitsethik mit einer Reihe ernster Unzulänglichkeiten behaftet: ineffizienter Personaleinsatz, sinnlose Arbeitsinhalte, miserable und unregelmäßige Entlohnung – all das hat dazu geführt , dass Gleichgültigkeit, Schlamperei, Disziplinlosigkeit und Abgestumpftheit keine Ausnahmen sind. Auf einem sehr hohen Niveau befanden sich Disziplin und Qualitätsbewusstsein im elektronischen, elektrotechnischen, im optischen Bereich, in der Maschinen- oder Gerätebau  und in der Weltraumindustrie. Die genannten Bereiche gehörten zum militärisch-industriellen Komplex. Sie sind deshalb nicht mit der verarbeitenden oder der Verbrauchsgüterindustrie, mit der Landwirtschaft oder dem Bauwesen zu vergleichen, die sich stets auf einem sehr niedrigen technologischen Niveau befanden. Gerade für diese Bereiche sind die Unzulänglichkeiten russischer Arbeitsethik besonders charakteristisch. Nur selten hat jemand das Gefühl dass von seiner Arbeit „wirklich etwas abhängt“, dass es sich lohnt sich anzustrengen.
  26. Beziehungen hinter den Kulissen. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. (Eine  Krähe hackt der anderen kein Auge aus). (Spucke nicht in den Brunnen, wenn du noch daraus trinken musst).
    Was in den Augen von Ausländern als „Korruptionssumpf“ erscheint, ist für viele Russen ein System  gegenseitiger „Hilfsangebote“, gegenseitiger Dienstleistungen. Der Schritt von „Beziehungen hinter den Kulissen“ zur aktiven Bestechung ist nicht groß. Recht verbreitet ist die Auffassung, für Schmiergelder sei in Russland alles zu haben. Bestechung auf russisch – ist eine Erscheinung, die reich an Nuancen ist: der Schmiergeldempfänger möchte in der Regel als ehrlicher Mensch dastehen. Die möglichen Bestechungsformen sind erfindungsreich und mannigfaltig. Das „eine-Hand-wäscht-die-andere-Prinzip“  ist bis heute allgegenwärtig im russischen Leben.

In einer Untersuchung zu westlichen Vorstellungen über den russischen Nationalcharakter kommt die russische Kulturologin A.Pawlowskaja zu dem Schluss, dass bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts die gleichen Eigenschaften der Russen als herausragend genannt wurden wie heute. Dazu gehören: Gastfreundschaft; eine nach innen gekehrte Religiosität, die nicht mit kirchlichen Dogmen behaftet ist: Ehrlichkeit und Offenheit, die jedoch häufig unter Verschlossenheit und Verdrießlichkeit verborgen sind; Güte und gleichzeitig Misstrauen; das Gefühl der Brüderlichkeit und Solidarität; das Fehlen von Individualismus; Geduld und Ausdauer; Gewandtheit; Schurkerei („Man sollte keinem Russen vertrauen…“); angeborene Faulheit; Gleichgültigkeit gegenüber politischer Freiheit;  angeborener Konservatismus und Fatalismus; Unbekümmertheit und Leichtsinn (besonders im Umgang mit der Zeit); die Fähigkeit, sich vollständig einem Gefühl, einer Idee hinzugeben, auch wenn diese  Idee oder dieses Gefühl nichts als Ärger und zuweilen sogar den Tod  bringen können; Gleichgültigkeit gegenüber Privatbesitz;  eine Vorliebe für die angenehmen Seiten des Lebens; Geschäftigkeit. (Baumgart A., 1997).

Die Interkulturalisten sind zur Schlussfolgerung gekommen, dass die interkulturelle Kompetenz, die nicht nur aus Wissen, sondern auch aus Persönlichkeitsmerkmalen wie Empathie, der Fähigkeit, zeitlich parallel auftretende unterschiedliche Erwartungen  auszuhalten (Ambiguitätstoleranz) besteht, lernbar ist. Man muss 2 Regeln des interkulturellen Lernens beachten:

  1. Jeder Teilnehmer soll die Normen der anderen verstehen.
  2. Jeder soll seinen Kommunikationsstil an die Normen der anderen Seite anpassen. (Handbuch zur interkulturellen Kommunikation, 1979).

 

Quellenverzeichnis


8.13. National Self-Identity in the Context of Global Events | Nationale Selbstidentität im Kontext der globalen Ereignisse

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TRANS
INST

For quotation purposes:
Natalia Wassiljewa: Interkulturelle Kompetenz als Voraussetzung für Selbstkritik - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/8-13/8-13_wassiljewa17.htm

Webmeister:Gerald Mach     last change: 2010-02-09