Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Februar 2010 |
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Sektion 8.13. | National Self-Identity in the Context of Global Events | Nationale Selbstidentität im Kontext der globalen Ereignisse Sektionsleiter | Section Chair: Dmitry Yurchenko (State Linguistic University Pyatigorsk, Russia) |
Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006: die deutsche nationale Präsentation und Identität im Rahmen dieses globalen Events
Dmitry Yurchenko (Staatliche Linguistische Universität Pjatigorsk, Russland) [BIO]
Email: dmitry_yurchenko@mail.ru
“Kluge Köpfe haben hierzulande immer weniger auf mysteriöse Verbindung zwischen dem Zustand des Landes und jenem der Fußball-Nationalmannschaft hingewiesen. “Das Wunder von Bern” 1954 fand seine Entsprechung im Wirtschaftswunder, der WM-Sieg 1990 in der Wiedervereinigung. Und 2006 lautet die Botschaft: Nicht nur die deutschen Fußballer sind viel besser als ihr Ruf, sondern irgendwie das ganze Land.
Kollektiv entspannt, feuerlaunig, herzlich, fair und emphatisch präsentieren sich die Deutschen als stolze Gastgeber eines der größten Volksfeste aller Zeiten“ [Focus, № 26, 2006, S. 8].
Mein Referat begann nicht zufällig mit diesen Worten. Zum ersten Mal kam ich auf diesen Gedanken vor 17 Jahren, dass es doch irgendeine Verbindung zwischen den deutschen Erfolgen, der nationalen Begeisterung und den Siegen der Nationalmannschaften besteht. Damals, als das deutsche Volk in beiden deutschen Staaten unter dem Motto “Wir sind ein Volk” für seine Einheit kämpfte, war der Sieg der deutschen Nationalelf am 8.Juli in Rom gerade das Richtige, was die nationale Identität des Volkes stärkte und die Vereinigung beschleunigte.
14 Jahre später in 2004 veranlasste mich der Dokumentarfilm über “Das Wunder von Bern” (ZDF, April 2004) dieses Referat zu schreiben. In diesem Film wurden die Ereignisse der WM-1954 und die begleitende Nationalstimmung gezeigt, der Film selbst wurde zum 50. Jahrestag des ersten deutschen WM-Titels gedreht. Die Begeisterung und aufrichtige Emotionen des deutschen Volkes stärkte eindeutig das nationale “Wir-Gefühl” und die nationale Identität, was, höchstwahrscheinlich, eine Basis für das deutsche Wirtschaftswunder geschaffen hatte.
Heute gehört es zu wissenschaftlichen Trends, die Problembereiche mit interdisziplinären Ansätzen zu erforschen. Der Sport wurde heute zu einem sehr wichtigen Instrument. Im Sport sind nicht nur sportliche Errungenschaften und Rekorde wichtig, er präsentiert ein bestimmtes Land auf der Weltarena. Der Sport ist mehr als Punkte und Sekunden. Er ist in der globalisierten Welt eine Ersatzform der nationalen Selbstbehauptung und Kriegsführung gegen andere geworden. Es ist in diesem Zusammenhang unbestritten, dass ein bestimmtes Wechselspiel zwischen Sport und Nationalgefühl besteht.
Mein Referat ist der diskursiven Analyse der Massenmedien gewidmet, die die Vorbereitungen Deutschlands auf die WM-06 und ihren Verlauf beleuchteten. Im Mittelpunkt nach den gesetzten Zielen stehen also solche Begriffe wie Selbstidentität und Selbstpräsentation im Kontext eines großen Fußballfestes. Die Quellen waren deutsche Nachrichtenmagazine Spiegel und Focus, Magazin Deutschland, die das Land nach außen offiziell präsentieren, die Frankfurter Allgemeine und Süddeutsche Zeitung, zahlreiche Broschüren, Reiseführer und andere Werbedruckproduktionen, die speziell zur WM aufgelegt wurden.
Also, 2006 fand in Deutschland ein mit Ungeduld erwartetes Globalereignis – die Fußball-WM – statt. Im Jahre 2000 holte die deutsche Legende Franz Beckenbauer die Nachricht über dieses Fest nach Deutschland, und sechs Jahre lang liefen intensive Vorbereitungen auf vielen Gebieten. Großer Wert wurde in erster Linie bei den Vorbereitungen auf die Informationspolitik gelegt, um Land und Leute für die Weltöffentlichkeit attraktiv, positiv und neu ohne alte und verwurzelte Klischees zu präsentieren. Gleichzeitig wirkten die Vorbereitungen und der Verlauf der Meisterschaft selbst auf die Nation, ihr Selbstbewusstsein und das „Wir-Gefühl“. Der andere Begriff, der im diesem Referat als einer der Schlüsselbegriffe vorkommt, ist die Identität. Der hat vielseitige Definitionen, aber wir werden ihn vereinfacht und für unsere Forschung relevant, als das Gefühl der Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit verstehen, das sich einem Mensch von den Fremden innerlich abzugrenzen und sich als Bestandteil einer Gemeinschaft zu fühlen erlaubt.
Der Soziologe Mark-Andre Reinhard weist darauf hin, dass: “Menschen ein großes Bedürfnis nach sozialer Identität haben. Sie identifizieren sich mit den Erfolgen anderer. Bei den Deutschen funktionierte dieses rauschhafte Einswerden besonders gut beim Sport – und zwar beim Mannschaftsport. Der Einzelsportler vermittle eher den Eindruck, er kämpfe lediglich für sich selbst… Die Identifikation mit einem Team ist wesentlich stärker” [Mark-Andre Reinhard, Focus, № 25, 2006, S.57].
Um dieses Globalereignis diskursiv zu analysieren, muss man den Konzeptframe rekonstruieren, der diesem Event bei der Wahrnehmung zugrunde liegt. Deswegen wurde der Frame „Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland“ zur Analyse gewählt, und einige seiner Bestandteile wurden nach den von uns gesetzten Zielen beschrieben. Der Hauptframe (oder in unserer Arbeit weiter Frame) besteht aus Subframes, die, ihrerseits, aus den Mikroframes bestehen.
Unter dem den Konzeptframe im allgemein theoretischen Sinne verstehen wir die Gesamtheit allgemeiner Meinungen, Vorstellungen, Ansichten, die eine Präsupposion/Implikation für die Aktualisierung der Information bilden. Auf der sprachlichen Ebene wird der Frame durch Sätze und Texte zum Ausdruck gebracht. Unter dem Frame „Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland“ verstehen wir die Gesamtheit hierarchisch organisierter Mikroframes, solcher, wie „Deutschland als Land“, „Deutschland als Gastgeber“, „Fußball“ und andere. Eine allseitige Beschreibung des Konzeptframes erfordert eine größere Studie, wir bleiben unsererseits in den gesetzten Rahmen, die für das gewählte Thema relevant sind. Deshalb bleiben wir bei der Analyse der drei oben genannten Subframes und ihrer Inhalte.
Die Werbekampagne begann in Deutschland noch vor der FIFA-Entscheidung über den Austragungsort der WM-2006, nach der Entscheidung wurde sie massiv fortgesetzt. Das Konzept dieses Programms wurde vom OK-Leiter Franz Beckenbauer formuliert: „Natürlich soll diese WM in erster Linie ein Festval des Fussballs sein… Daneben aber ist dieses Turnier die ideale Plattform, um Deutschland in einer konzentrierten Aktion aller Bevölkerungs- und Gesellschaftsschichten als positiven und offenen Standort darzustellen. Diese WM bietet Deutschland die Riesenchance, sich der Welt als herzlicher Gastgeber zu präsentieren… Wir alle sind Gastgeber bei dem Vorhaben, dieses Mega-Event mit Herz, Humor und Heiterkeit zu präsentieren…
Die Stadien werden eine ideale Plattform sein, auf und mit der sich Deutschland als innovative und zukunftsorientierter Standort in frischer Aufbruchstimmung präsentieren kann“ [Franz Beckenbauer, Deutschland, № 1, 2006, S.4]. Daraus ausgehend wurde sehr aktiv das positive Image des Landes durchgesetzt. Es war nicht nur nach außen, sondern auch nach innen gerichtet, wovon zwei große Media-Kampagnien vor dem WM-Beginn zeugen – „Land der Ideen“ und „Du bist Deutschland“. Der Fußball selbst trat in der Kampagne „Land der Ideen“ oft in den Hintergrund, im Vordergrund standen solche Themen wie „Nobelpreisschmiede und Studienland“, „Exportchampion und attraktiver Standort“, „Kunstszene und Buchnation“, „Designhochburg und Genussregion“, „Städte und Stadien“ u.s.w. Eine besondere Bedeutung hatte die Präsentation der 12 WM-Städte, die als Hauptattraktionen auftreten sollten. Jede Stadt wurde sehr positiv charakterisiert und jeder wurde ein besonderer Charakter zugeschrieben, z.B. ist Berlin „Jung, lebendig und immer wieder neu“, Hamburg charakterisieren Hafen, Hanse und Handel, in Nürnberg scheint die Zeit geblieben zu sein, für München ist weltstädtischer Glanz und ländliche Charme typisch u.s.w. (Deutschland, N1, 2006, S.17-20), das heisst, Attraktionen für jeden Geschmack.
Die ausführliche Infos im Rahmen der WM (auch über die in diesen Städten spielenden Mannschaften) wurde in erster Linie für den touristischen Besuch und Kulturprogramme gegeben. Das strukturiert den ersten Subframe „Deutschland als Land“, wo das Land innovativ, modern, leistungsfähig und dynamisch einerseits, und als ein attraktives Land mit einem sehr reichen und sorgfältig gepflegten Kulturerbe präsentiert wurde. Zu gebräuchlichsten meliorativen Schlüssellexemen, die den Inhalt dieses Subframes aufschließen, gehören positiv, offen, innovativ, zukunftsorientiert, frisch, präsentieren, neu, Qualitäten, Fortschritt, Talent, Wandel, unverwechselbar, kreativ, international, ambitioniert, am besten, modernisiert, sicher, schön, global u.s.w. Sehr oft treten im Text die Adjektive in Komparativ- und Superlativformen auf. Besonders werden die neuen und rekonstruierten Stadien beschrieben, die die neuen Leistungen, Qualitäten und Standards verkörpern und symbolisieren sollten. Es wurde auch viel Aufmerksamkeit einem umfangreicheren Kulturprogramm geschenkt, das vor oder während der WM stattfinden sollte.
Der zweite wichtige Subframe ist „Deutschland als Gastgeber“. Der ist mit dem vorigen eng verflochten, aber die inhaltliche Dominanz liegt hier bei der Atmosphäre, die bei der WM vorherrschte (oder von den Organisatoren im Vorfeld versprochen wurde) und bei der Einstellung der Einwohner zu den Gästen. Den Ton gibt in diesem Bereich der Slogan der Meisterschaft an: Die Welt zu Gast bei Freunden (A time to make friends). In diesem Subframe geht es sowohl um die offiziellen Gastgeber, als auch um die Leute, die sich als Gastgeber fühlen und auftreten, z.B. „Deutschland kann und sollte als Gastgeber den Freunden aus aller Welt auch seine neuen gesellschaftlichen Qualitäten vorführen. Dass wir eine offene, tolerante und moderne Gesellschaft sind. Dass wir stark sind bei der Organisation eines Festes, aber es gleichwohl mit Leben füllen können“ [Focus, №23, 2006, S.188].
Die Schlüssellexeme, die den Inhalt dieses Subframes präsentieren, sind Gastgeber, Gast, Freund, die Welt, offen, tolerant, modern, herzlich, Humor, Heiterkeit, Organisation, Fest, Fußballfest, Festival ,Begegnungen, Vorfreude. Eine besondere Schicht bildet hier die Lexik, die den emotionalen Zustand charakterisiert: optimistisch, großartig, unfasslich, Stimmung, Freude, feiern, Spaß, Begeisterung, jubeln, genießen, im vollen Zügen genießen, Teamgeist, staunen, Emotion, Emotion pur, Glück.
Der Beginn des Turniers wurde von sehr starker Euphorie in ganz Deutschland begleitet. Sie hielt im Laufe der ganzen Meisterschaft an, wovon sehr oft mit Bewunderung in der deutschen Presse in Juni-Juli 2006 geschrieben wurde. Es wurden sehr stark die Gefühle der Festteilnehmer angesprochen. Bei der diskursiven Analyse fiel auf, dass der Beschreibung der Gefühle der Menschen und der emotionalen Atmosphäre sehr oft mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde, als den Spielen. Die Begeisterung sowohl über die Spiele der deutschen Elf als auch über das Megaevent selbst war riesig. Besonders viel wurde vom Gemeinschaftserlebnis der deutschen Nation gesagt und geschrieben. Davon zeugen solche Schlagzeilen wie “Die Stunde der Patrioten”, “Das Wir-Gefühl der Deutschen”, “Blüht im Glanze dieses Glückes” u.a. In desem Zusammenhang wurde von einer neuen Form des Patriotismus von den Soziologen und Sozialpsychologen gesprochen, vom einem “lockeren, freundlichen Patriotismus “mit optimistischem Gestus”. Die nationale Begeisterung entwickelte überraschende Eigendynamik, es gehe um ein “gemeinsames Projekt” [Focus, № 25, 2006, S.57].
Die Lexik, die die WM und das Land in dieser Zeit beschreibt, charakterisiert sich durch die stärkere Expressivität im Vergleich zu der in den Werbeprodukten vor dem Turnier.
Dazu gehören die Lexeme sich berauschen, jubeln, anfeuern, Gänsehautstimmung, cool, die Wunder-WM, brüllen, kein Halten mehr haben, den Triumph feiern, noch nie gewesenes Fußballfestival, die Fußball-Love-Parade, im Glück versinken, das größte Fußballfest der Welt, Adrenalinschub, von guter Laune elektrisierte Menschen, Jubelorgie, Kicker-Rausch, WM-Fieber u.s.w. Zum Beispiel : „Das Land berauscht sich an einem gigantischen Fußballfest, einem strahlenden Sommer und an sich selber. Überall sind die Bilder der Freude. Und der Teamgeist, der das ganze Volk erfasst hat“ [Focus, № 26, 2006, S. 90].
Der Euphorie und guter Stimmung der ganzen Nation wurde eine psychologische Erklärung von den Fachleuten in den Massenmedien im Sommer 2006 gegeben, dass der Fußball eine Projektion darstellt, also, der Zuschauer nimmt sich als Mitspieler wahr, was Glück oder Frustration (je nach Spielergebnis) bewirken kann. Der Sonnenschein kann dazu beitragen, dass Serotonin oder Glückshormon vom Organismus produziert wird. „Der Start ins Glück, Glück, Glück.
Es ist ein Startschuss für ein noch nie gewesenes Fußballfestival, das Deutschland und die Welt einen ganzen Monat lang in einen Begeisterungstaumel stürzen wird. Bis zum Finale am 9. Juli in Berlin tanzen die Menschen – bei durchgehend tropischen Temperaturen – in den Stadien oder Straßen“ (Focus, N 50, 2006, S.108). Und das Wort „Glück“ kommt sehr oft vor und wird, wie am Beispiel gezeigt wurde, in der Schlüsselposition im Text gebraucht.
Eine Besonderheit der deutschen WM (sowie voriger großer Veranstaltungen Anfang 21. Jahrhunderts war die Tatsache, dass das Hauptmedium für die Spielverfolgungen nicht die heimischen Fernseher, sondern große Bildschirme waren. Das ist ein ziemlich neues Phänomen in der WM-Geschichte. Das Gefühl der Zugehörigkeit war in dieser Situation häufiger wichtiger, als der Fußball selbst. “Wenn auch die Videowand in weiterer Ferne leuchtet, hilft moderne Kommunikationstechnik: Ein junger Mann im Münchner Olympiapark türmt seinen Laptop auf einen Bierkasten… Andere lassen sich vis a vis auf dem Hügel nieder, tanken Sonne und stimmen in den Jubel der Massen ein: WM funktioniert auch ohne Fußball” [Focus, № 24, 2006, S.24].
Der Fußball selbst war doch ein wesentlicher Bestandteil der WM, und dementsprechend ein Subframe des WM-Konzeptframes sowohl auf der Vorbereitungsetappe, als auch während des Tourniers. In diesem Subframe sind zahlreiche Mikroframes vertreten, aber wir nahmen zur Analyse diejenigen, die für das gewählte Thema relevant sind. Sie sind metaphorisch aufgebaut und werden durch die expressiv starke und oft emotionell gefaerbte Lexik ausgedrückt.
Das sind drei Mikroframes: „Fußball als Krieg“, „Fußball als Religion“ und „Fußball als Kunst“. Der Ausdruck kam sowohl in der Thematik der Artikel, als auch in den gezogenen metaphorischen Parallelen zum Ausdruck. Besonders viel und intensiv wurde vom Fußball vor dem WM-Beginn in der Presse in vielen Zusammenhängen geschrieben und eine Sonderrolle dieser Sportart wurde von verschiedenen Standpunkten aus erklärt. Zum Wort kamen Fachleute aus verschiedenen Gebieten, Prominente, Fußballspieler, WM-Macher u.s.w. Bei der Charakteristik der WM-Mannschaften wurden in Werbemedien unter anderem die Gefühle angesprochen, wozu folgende Lexik diente: Dynamik, Gefühl, Technik, Temperament, Kunst, Magie. Die WM-Euphorie, über die oben gesagt wurde, betraf auch das, was sich unmittelbar auf den Rasen ereignete. Aber die expressive Lexik spiegelt auch die Stimmung und den emotionalen Zustand der Fans wider: Volksfest Nummer 1, eine Leidenschaft für Millionen, König Fußball, der Fußballboom, sich Fußball wie ein Musical ansehen, Fußball ist viel mehr als Sport, weltweit beliebtester Sport, der schöne Fußball u.s.w.
Es charakterisiert den ersten Mikroframe „Fußball als Krieg“, dass der Fußball als Kampf metaphorisch dargestellt wird, wo die Spieler (oder Krieger) den Sieg im harten Kampf erkämpfen müssen. „Fußball ist lebenswichtig. Fußball befriedigt viele Wünsche und Sehnsüchte: Religion, Zusammengehörigkeit, Kommunikation, Kampf, Sex, Agression, Sieg. Fußball spielen ist eine archaische Lust [Focus, №23, 2006, S.50]. Die Spieler selbst werden oft als Krieger dargestellt. Sehr gut ist dieses Phänomen im Interview mit einem Psychologen erklärt. „Focus: Kaiser Franz, König Otto, Prinz Poldi – warum erreichen manche nur den Adelsrang?
Tschuschke: Auch das ist eine Auszeichnung, denn geadelt werden nur Sieger. Die Medien vergeben die Titel, aber die Fans müssen die Wahl akzeptieren. Zwischen dem kultischen Aberglauben vor Tausend Jahren und den Schlagzeilen der Boulevardzeitungen besteht im Kern kein Unterschied… Fußball reduziert die Welt auf das Wesentliche: auf Gut und Böse, Feind und Freund, Sieg und Niederlage. Die Masse identifiziert sich mit den Kämpfern. Sie ziehen mit ihnen symbolisch in die Schlacht. Gesänge sollen die Helden aufmuntern und Geschlossenheit demonstrieren. Verlieren die Kämpfer das Spiel, empfinden es viele Fans als Kränkung und reagieren mit Gewalt…
Männer verfügen in ihrem genetischen Programm über eine Urlust auf Kampf und Aggressivität… Die brauchen sie, um zu gewinnen, denn nur Sieger haben Erfolg bei den Frauen… Nur der Sieg zählt“ [Focus, № 23, 2006, S.50-51]. Die Lexik aus diesem Mikroframe bezeichnet und charakterisiert den Kampf und alles, was den Kampf begleitet. Die häufigsten Lexeme, die diesen Frame in Texten zum Ausdruck bringen sind Kampf, Sieg, Agression, Sieger, Gegner, Niederlage, die Schlacht, Gesänge, Entschlossenheit, Held, gewinnen, siegen, verlieren, aufmuntern, u.s.w.
Der zweite Mikroframe ist „Der Fußball als Religion“. Es ist schon eine Tatsache in der Soziologie, dass der Fußball die kirchlichen Ritualen ersetzt oder mit ihnen viel Gemeinsames hat:
„Warten auf das Wunder.
Zwischen den Ritualen der katholischen Kirche und dem Fankult im Stadion erkennen Sportsoziologen viele Parallelen. Spieler werden wie Heilige verehrt, verschwitzte Trikots als Reliquien. Hymnen beschwören das ersehnte Mirakel: ein Tor [Focus, № 16, 2006, S.88].“
Die Lexik, die für die Beschreibung der Stadien und Spiele dient, kann auch aus dem kirchlichen Bereich kommen und wird in der übertragenden Bedeutung gebraucht, zum Beispiel “Kathedrale”, “Tempel”, pilgern, das Urteil erwarten,“die Hand Gottes”, Fußballgott, Titan. Die Denotate sind meistens massenhaftes Zusammenkommen (in der Kirche oder auf dem Stadion), Prozesse, die dieses Zusammenkommen begleiten, bestimmte Rituale, die Erwartung des Wunders u.s.w.
Der dritte Mikroframe ist Fußball als Kunst. Es werden zahlreiche Parallelen zwischen dem Fußball und anderen Kunstarten gezogen, die Gemeinsamkeiten werden hervorgehoben und verglichen. Fußball wird mit Ballett verglichen, die Technik der Spieler ähnelt der Balletttechnik und die Plastik in beiden Fällen schafft eine Grundlage für die ästhetische Wahrnehmung der Schau.
„Brasiliens Fußball beispielsweise ähnelt der Capoeira, dem brasilianischen Nationaltanz aus Spiel und Kampfkunst. … Die Brasilianer stehen mit dem Kontrahenten in stetem lustvollen Dialog… Die Niederländer haben kürzere Beine, sind aber dribbelstark. Aber … ihr Stil ist nicht wirklich elegant….
Die Körper haben den Jive, den Rhythmus verinnerlicht. Der Ball ist der Reiz, der ihnen den Impuls zur Bewegung lässt“ [Focus, № 24, 2006, S.24].
Es werden Parallelen zwischen dem Orchester und dem Team, dem Dirigenten und dem Trainer gezogen. Der Fußball wird als Kunstobjekt beschrieben „Das Museum und das Fußballstadion liegen enger beieinander, als man im ersten Moment vermuten könnte: an beiden Orten wird den Zuschauern vorgeführt, wie das wahre Leben funktioniert – und manchmal entsteht daraus eine wunderbare Beziehung. Die zwischen Kunst und Fußball [Willkommen, 2004, S.46].
Zu und während der WM wurden mehrere Ausstellungen und Kulturveranstaltungen organisiert, wo der Fußball selbst als Kunstobjekt auftrat.
Die Lexik, die diesen Mikroframe erläutert ist Kunst und Ball, Künstler am Ball, Fußball als Kulturmuster, Auftakt zum Anstoss, Opernball, Spielanalyse, im Abseits, die fortschreitende Fußballiesierung der Opernwelt, den Doppelpass zwischen Kick und Klassik üben u.s.w.
Neben den beschriebenen Einheiten, die den Frame WM in Deutschland (oder genauer gesagt die Themen der nationalen Präsentation) charakterisieren, wurde ständig in der Presse das Thema der nationalen Identität angesprochen, es wurde zu einem sehr relevanten Thema während der WM. Das Gefühl der Zugehörigkeit entsteht aufgrund des Basiskonzeptes „das Eigene“ – „das Fremde“ und war als ein Begleitfaktor des anderen Konzeptframes „WM“ vertreten. Die nationale Identität kam durch Attribute und Benehmen zum Ausdruck, wovon zahlreichen Beispiele zeugen, z.B. „Eine Nation feiert die Welt und sich selbst. Ebenso verschwenderisch wie selbstverständlich tragen die Deutschen Schwarz-Rot-Gold. Afro-, Zottel- oder Irokesenperücken, jede denkbare und auch undenkbare Art von Hut, Zylinder oder Narrenkappe sowie aufblas- und auffaltbare Jubel-, Klappe- und Winkehände – alles in den deutschen Farben… Und natürlich ein Meer von den stolz geschwenkt, hektisch gefächelt, als Schal gewickelt, als Poncho überworfen, zum Stirnband oder Kopftuch und von jungen Mädchen auch als Top gebunden“ [Focus, № 24, 2006, S.23].
Die Lexik, die diese Aufregung widerspiegelt, bezieht sich einerseits auf die nationale Symbole (Farben), andererseits auf die Charakteristik und Intensität der Gefühle (in verschiedener Gradation. Die Beispiele der Lexik aus der ersten Gruppe sind Schwarz, Rot, Gold, Deutschlandfahne, stolz geschwenkt, hektisch gefächelt, als Schal gewickelt, als Poncho überworfen, zum Stirnband oder Kopftuch und von jungen Mädchen auch als Top gebunden.
Die Beispiele der Lexik aus der zweiten Gruppe sind: die wichtigste und umfassende Veränderung, die Grundeinstellung. Nationalstolz, Selbstbewusstsein, einen Schub für das Wir-Gefühl, das Nationalbewusstsein stärken u.s.w.
Durch dieses Ereignis und das Ungewöhnliche des für die Nation Auftreten, wurden viele Stereotype über die Deutschen zerstört. „Die wichtigste und umfassende Veränderung, über die wir alle in diesen Tagen staunen, ist aber die der Grundeinstellung. Wie sehr neigten wir aber dazu, uns auf das Negative zu fokusieren…. In vielen Augen waren wir Weltmeister im Granteln und Nörgeln.
Und jetzt?... Wir mögen uns. Dabei geht es nicht um dumpfen Nationalstolz. Nein, vielmehr um ein wunderbar lässiges Selbstbewusstsein ohne unnötiges Sich-in-die-Brust-Werfen. Wir sind im 21. Jahrhundert angekommen. [Focus, № 26, 2006, S.95].
Von diesen positiven Änderungen zeugt eine soziologische Studie, die nach der WM vom Focus-Magazin durchgeführt wurde. „Die WM-2006 gab eien Schub für das Wir-Gefühl: Die Fußball-WM stärkte ihre Nationalbewusstsein, sagten 43 Prozent der Deutschen in einer FOCUS-Umfrage“ [Focus, № 50, 2006, S.108].
Aus dem gesagten kann man einige Schlussfolgerungen ziehen.
Die Globalereignisse, die eine oder mehrere Nationen betreffen, können das nationale Bewusstsein, Grundeinstellung und die Wahrnehmung von sich selbst und der anderen beeinflussen, die Grundwerte, die das Leben der Nation prägen, können in einem neuen Licht auftreten. Dabei gibt es eine Möglichkeit, während der Vorbereitung oder während dieses Events sich selbst als Land und Nation zu präsentieren, alte und verwurzelte Klischees oder Vorstellungen abzubauen und sich in einer neuen Rolle zu etablieren.
Diese dynamischen Prozesse werden im Diskurs in einer Reihe von Texten und unterschiedlichen Textsorten, die sich auf dieses Ereignis inhaltlich oder semantisch beziehen, ausgedrückt. Die diskursive Analyse erlaubt einige Konzeptframes zu rekonstruieren, die diesen Ereignissen und der Selbstpräsentation zugrunde liegen. Diese Frames haben in der Regel eine komplizierte Struktur, und können auf den lexikalischen, semantischen und pragmatischen Ebenen ausgedrückt werden.
Das in dieser Arbeit analysiertes Konzept „Weltmeisterschaft in Deutschland“ besteht aus drei Subframes und einer Reihe von Mikroframes, die den Inhalt des Konzeptframes und seine Ausdrucksmöglichkeiten erschließen lassen.
Und mein Referat möchte ich mit den Worten eines Focus-Magazin-Lesers enden, dessen Brief unter dem Titel “Vorreiter Fussball” veröffentlicht wurde:
„Als täglicher Besucher des Fifa-Fanfestes stellte ich fest: die WM ist mehr als eine große Party. Sie zeigt, dass das interkulturelle Zusammenleben weitaus besser funktioniert, als es gern behauptet wird. Denn viele Fahnenschwenker sind in Deutschland lebende Auslaender. Der Fussball hat geschafft, wovon die Politik noch meilenweit entfernt ist. Er hat die Menschen so nah wie noch nie zusammengebracht. (Focus, N 26, 2006, S.99)
Quellenverzeichnis
8.13. National Self-Identity in the Context of Global Events | Nationale Selbstidentität im Kontext der globalen Ereignisse
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