Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Februar 2010 |
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Sektion 8.14. |
Gemeinschaft in Differenz: Kollektive Agenten im interkulturellen Kontext / Community in Difference: Collective Agents in Intercultural Contexts Sektionsleiter | Section Chair: Bertold Bernreuter (Universidad Intercontinental, Mexico City) |
Kollektive Agenten in der Organisation der Organisationsformen
und die politische Identität
Wolfgang Cernoch (Wien) [BIO]
Email: wolfgangcernoch@mac.com
Abstract
In this paper I try to describe three dimensions of society at large: a concept of parallel societies, a concept of the organisation of basic sozial configurations (group, organisation as an institution, public or market) and a concept of cognitive/affective-founded sociodynamic positions in a social field. I discuss these concepts with respect to the role of collective agents faced with questions of political constitution and multilingual societies, statebuilding and global governance.
1. Zum Zusammenhang von Multikulturalität und Interkulturalität.
Leitkultur, Integration und Assimilation
Das Konzept des kollektiven Agenten läßt sich auf eine Perspektive beziehen, welche das Menschenbild von der Verklammerung der Gesellschaftsorganisation nach Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Markt und Lebenswelt (Jürgen Habermas, Wissenschaft und Technik als Ideologie, 1968) in Richtung der Rahmenbedingungen der Multikulturalität durch Konstitutionsgeschichte und Migration verschiebt. Bertold Bernreuter hat das im Hinblick auf die politische Philosophie des mexikanischen Philosophen Luis Villoro folgendermaßen zusammengefaßt (Vortrag: Gemeinschaft und kulturelle Differenz in der politischen Philosophie von Luis Villoro, Vortrag in: Knowledge, Creativity and Transformations of Societies, Vienna, 7-9 December 2007, Sektion: Community in Difference. Collective Agents in Intercultural Contexts):
»Die Fundierung eines dynamischen Gemeinschaftsbegriffs abseits kultureller Homogenisierungen ist ein zentrales Anliegen der politischen Theorie des mexikanischen Philosophen Luis Villoro. Er versucht dabei, die Irrungen des liberalen Modells ebenso zu vermeiden wie die Zumutungen seines egalitären Gegenmodells. Stattdessen nimmt er die Anerkennung des konkreten Anderen zum Ausgangspunkt für einen Entwurf einer in sich differenzierten Gemeinschaft, die Identität nicht auf Kosten der Differenz gewinnt, sondern im solidarischen Ringen um Gerechtigkeit«.
Ich will in diesem Zusammenhang auf die Fruchtbarkeit dieser Perspektive für Migrationspolitik nicht näher eingehen. Zur Erörterung der Entstehung von Parallelgesellschaften durch Migration gehörte auch eine konstruktive Diskussion von Parallelgesellschaften und ihren positiv-schützenden und negativ-retardierenden Konsequenzen. Vielmehr sollen die Begriffe von Parallelgesellschaft, Integration und Assimilation im Rahmen bestehender multikultureller Gesellschaftsformen weiter ausgelegt werden.
Das Konzept des »kollektiven Subjekts« in der Philosophie Villoros berührt die Fragen der Integration, ohne sofort Integration mittels Konzepte der Assimilation operationalisieren zu müssen. An Stelle einer Leitkultur, in die sich Parallelgesellschaften assimilieren müssen, tritt das romantisch gewordene weltbürgerliche Individuum der Aufklärung auf, assimiliert sich teilweise in einigen kulturellen Parallelgesellschaften, integriert sich in anderen, und wird so zum Träger einer neuen Leitkultur, die Integration möglich macht, ohne vollständig eine konkrete, traditionelle Leitkultur assimilieren zu müssen. Assimilation betrifft nun die Aneignung von einem Set von Grundwerten. Integration sollte in einer kulturell komplexen Gesellschaft hingegen von »Eckwerten« ausgehen, die man auch als relevante, aber spezifische Auswahl aus dem Set der »Grundwerte« einer konkreten, historisch gewordenen Leitkultur und deren Leitbilder ansehen kann. Das Ergebnis kann als fraktale Leitkultur angesehen werden, die nie ohne regionale, traditionell entstandene Kultur auskommen kann, auch wenn diese fraktale Leitkultur eine neue Errungenschaft ist.
Dieser Entwurf von Villoro wird sich ohne historisch gewordene bürgerliche Leitkultur nicht umsetzen lassen, zumindest können Staaten mit Immigration auf die zusammenhängende Vorstellung einer in der Geschichte erworbenen, also insofern ihrerseits traditionellen Leitkultur auch dann nicht verzichten, wenn der kulturelle Pluralismus auf Grund historischer Erfahrung etwa mit der Internationalität von Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft, bereits zu einem Leitbildinhalt der Leitkultur geworden ist. Mit anderen Worten, hat z. B. der europäische Nationalstaat sowohl Geschichte und somit auch traditionelle Leitbilder, aber spätestens ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die Vorstellung des demokratisch legitimierten Rechtstaates durchgesetzt, und mit der Entwicklung der Wirtschaft und des Tourismus eine vorsichtige Öffnung zum kulturellen Pluralismus zumindest in der Konsumation hergestellt.
So beleuchtet Villoros Überlegungen auch die Gegliedertheit der modernen Gesellschaft eines europäischen Nationalstaates jenseits der institutionssoziologischen Perspektive. Die Gegliedertheit kann selbst aus historischen oder sozialen Gründen als System von parallelen Gesellschaften dargestellt werden. Diese sind allerdings durchwegs besser integriert als Parallelgesellschaften, die durch Kolonisierung oder Migration entstanden sind. Darüber hinaus wird damit auch die Frage nach einer internationalen fraktalen Leitkultur aufgeworfen, welche einen systematischen Aufbau des interkulturellen Austausches auf verschiedenen Ebenen verbindlich, also geregelt machen kann. Abgewandelt kann die Idee einer europäischen Leitkultur in der EU nur integrative Wirkung besitzen, eventuelle assimilierende Auswirkungen zwischen den Nationalstaaten könnten einstweilen nur in bestimmten Bereichen mit Hilfe der Einsicht in die Verschiedenheit in der Ähnlichkeit mit anderen großregionalen Kulturkreisen zu erwarten sein.
Die Abwandlung zur konzeptuellen Perspektive von relativ gleich berechtigten Parallelgesellschaften mit differenten historischen Wurzeln, ergänzt um die Frage vorhandener oder zu erzeugender Leitbilder einer fraktalen Leitkultur wird durch die Absehbarkeit des steigenden Bedürfnisses nach der Implementierung von Aspekten der Idee einer »Global Governance« immer wichtiger werden. Die gesuchte interkulturelle globale Leitkultur kann nun nicht alle bereits modernisierten, aber traditionell entstandenen Gesellschaften verdrängen oder assimilieren. Diese angedachte fraktale globale Leitkultur soll aber bestimmte Steuerungsfragen für verschiedene Kulturkreise nachvollziehbar und gleichermaßen verbindlich machen können. Aktuell steht die Finanzmarkt- und Lebensmittelmarktkrise ganz oben auf der Agenda globaler Regelungsdefzite. Ich betrachte diese Frage als Zielsetzung einer minimalen globalen Integrationsstrategie.
Ich werde das Konzept des nicht entindividualiserten bürgerlichen Subjekts, das in der vorrevolutionären Aufklärung wurzelt, in seiner kultursoziologischen und bildungssoziologischen Rollenmannigfaltigkeit im horizontalen Konzept der Parallelgesellschaften um eine vertikale Dimension erweitern, indem ich die Komplexität des Organisationsgrades über verschiedene Parallelgesellschaften hinweg als Darstellungsebene einführe. Unter dieser abstrakten Perspektive wird das von den traditionellen Parallelgesellschaften zugleich familiär gehaltene wie politisch davon befreite Individuum zum Mitglied der modernen Vergesellschaftung und bürgerlichen Individualisierung-
Der nächste Schritt der Erweiterung des Konzepts des »kollektiven Agenten« geht zum Problem der politischen Organisation einer multikulturellen (mehrsprachlichen) Gesellschaft über. Mit dem Staat als Rahmenbedingung der historischen gesellschaftlichen Entwicklung wie der soziologischen Theorieperspektive führt das zur abstrakten Bestimmbarkeit erster und einfachster Elemente der vertikalen Dimension der Gliederung der Gesellschaft, deren organisierter Zusammenhang ich mit dem Formenkreis von Individuen, Gruppen, Organisationen, und Öffentlichkeit oder Markt beschreiben möchte. Diese vertikale Dimension verläuft nicht nur entlang politischer Institutionen, sondern auch entlang den Organisationsformen verschiedener wirtschaftlicher Organisationen, und auch quer zu ouverten Parallelgesellschaften. Diese Art von Kulturation durch ein Produkt-, Markt- und Verbraucher-System hat die politische und militärische Konstitution in weiten Bereichen ersetzt.
2. Einfache soziale Formationen, deren Komplexitätsgrade, Organisation und Interpretation
in Hinblick auf politische Identität
Kollektive wie individuelle Agenten handeln in einen schon existierenden Sozialraum. Kollektive Agenten handeln über ihre Mitglieder nach außen und nach innen. Der individuelle Agent vermag bestehende Organisationen und Stabsstellen (Prä-Organisationen, Stabstellen von Organisationen) auch informell zu benutzen, wenn in der Interessenlage und Themenstellung Übereinstimmung besteht. Kognitiv geht es bereits nicht mehr um konkrete Zielsetzungen allein, sondern immer auch um eine Strategie der symbolischen Handlung (Metaphorik), von einer Liste möglicher Themen die als dringlich erkannten zu kombinieren, aber auch zu wechseln, da in einer mediatisierten Massengesellschaft der umfassende Sozialraum als Bedeutungsraum bereits über Negationen von Wesentlichkeit und Simulationen von Wichtigkeit durch Aktualität, nicht über die Vorstellung von allgemeiner Zweckrationalität identitätsstiftend wirkt.
Die Art der Entstehung kollektiver Agenten hängt von der Ausgangsformation ab: Gruppen und Großgruppen können spontan entstehen, Organisationen müssen geplant und gegründet werden, Massen benötigen eine Infrastruktur, einen Anlass, und ein spontanes Netzwerk, daß sich zu Bildung von Stabsstellen eignet. Bei Bestand gibt es je nach Organisationsform verschieden wahrscheinliche Felder möglicher Folgen, zur Identitätsstiftung ist die abermalige Organisation der verschiedenen sozialen Formationen (A) organisierten Gruppen, (B) Organisationen, und (C) Massenbewegungen einerseits, und deren kultursoziologische Beschreibung als (a) flanierende Trendsetter in Politik, Wirtschaft und Kultur, (b) Wirtschaftsunternehmen bzw. politische Organisationen und c) Öffentlichkeit bzw. Markt andererseits in einer Massengesellschaft Voraussetzung.
Die Zielsetzung von sozialen Agenten überhaupt ist erstens idealiter die Artikulation der allgemeinen Zweckrationalität in ihren Abstufungen der Staatsaufgaben eines zivilisierten Gemeinwesens und zweitens praktisch vorrangig die Betonung der jeweiligen Interessen und Wertsetzungen. Paternalismus als Rechtfertigung von Politik ist im Wesentlichen als antihumanistische Restform von Authentizität und Legitimität anzusehen. Allerdings können paternalistische Legitimierungen im Zusammenhang mit emanzipatorischen Wirkungen national wie sozial nicht gänzlich ausgeschlossen werden. So könnte man meinen, das Problem der Koordination verschiedener Agenten läge in der demokratischen Legitimierung, oder die Legitimität läge allein in der rechtsstaatlichen Form. Hier sagt uns die wirtschaftliche Rationalität der Politik manchmal etwas anderes als die historisch-soziologische Rationalität der Politikwissenschaft und Rechtsphilosophie.
Die Legitimität in rechtsstaatlicher Hinsicht rückt in soziologischer Perspektive ein in die Randbedingungen der umfassenden Gesamtgesellschaft, die nicht ident mit dem Staat ist. Damit wird die Frage der Legitimität eines Rechtsstaates in die Frage der Moral und der Bewertung verschiedener Agenten in der Geschichte überführt. Mit der Methode bloßer historischer und soziologischer Klassifikation wird Objektivität allerdings nur simuliert und bringt tendenziell eine Verharmlosung der politischen Dimension der demokratisch-rechtsstaatlich strukturierten Öffentlichkeit mit sich. Der Spielraum der Interpretation und Bewertung ergibt sich u. a. auch daraus, daß grob gesagt, zwischen Struktur- Ziel- und Leitbildbewußtsein verschiedene Rationalitätstypen zur Ausformulierung tätig sind, sodaß die allgemeine Zweckrationalität nicht grundsätzlich als System oder Handlungsanweisung oder Algorithmus zu behandeln sein kann, sondern nur punktuell aus Einsicht ins Mögliche und Notwendige (die eigentliche allgemeine Zweckrationalität) zu einem wechselseitig nachvollziehbaren Handeln als Gesamtgesellschaft im (innen-)politisch relevanten Sinn gelangen kann.
Im Zuge der Globalisierung setzt sich die nicht-staatliche Organisationsform von Interessenvertretung international fort. Vorläufer waren etwa Gewerkschaften, humanistische und politische Gesinnungsgemeinschaften. Allerdings benötigten diese neben nationaler und internationaler Organisation Anschluss an staatliche politische Institutionen, jedenfalls entsprechende Einflußmöglichkeiten, um die hier formulierten Bedingungen der Organisation der Organisationsformen ausreichend zu erfüllen. Das hat sich in den letzten dreißig Jahren des Zwanzigsten Jahrhundert insofern durch Weiterentwicklung des Sponsorings, der Werbewirtschaft und überhaupt mit dem Wandel der Publizistik zu einem Teil der Medienindustrie geändert.
3. »Kollektive Agenten« am Beispiel des Problems der Vielsprachlichkeit als innerstaatliches und interkulturelles Organisationsproblem.
Konstruktion und Destruktion von Rationalitätstypen
Ausgangspunkt dieses Abschnitts ist die Aussterberate der Sprachen und der teilweise Erfolg des Modells vom modernen europäischen Nationalstaat mit einer Hauptsprache und einer Leitkultur.
Zwei- oder mehrsprachliche Kulturen trennen die Bevölkerung mit der Herrschaftsfunktion der Verkehrssprache. Insofern besteht ein Vorteil der europäischen Nationen gegenüber manchen anderen Kulturnationen, weil sie im Zuge der Industrialisierung und verzögert auch der Demokratisierung die paternalistisch-feudale Phase der Konstitution (Herrschafts- und Verkehrssprache versus Vielsprachlichkeit, Leitkultur versus multikulturellen Ansatz) im historischen Maßstab weitgehend hinter sich gelassen haben. Doch ist eine Engführung im aufgeklärten Absolutismus des 18. Jahrhunderts von Reichsidee (Herrschafts- und Verkehrssprache) und ein Übergang zur zentralen Nationalstaatlichkeit (Nation als politischer Ausdruck einer Sprach- und Kulturgemeinschaft) vorangegangen, die, trotzdem nur eine Minderheit der europäischen Nationalstaaten im Feudalismus zentralstaatlich organisiert waren, dem modernen Staatsbegriff mit zugrunde liegt.
Die Frage kann demnach nur sein, wie kann bei vielsprachigen Staaten die angezeigte Konstitutionsphase hinsichtlich der Einführung einer allgemeinverständlichen Verkehrssprache intelligent ersetzt oder umgangen werden. Die USA hat durch eine Volksabstimmung Englisch als Landessprache gewählt, vergleichbare Akzeptanz scheint für viele Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas nicht vorstellbar, auch nicht für Europa. Die EU hat das Problem der Vielsprachigkeit noch nicht wirklich gelöst.
Die Probleme der Konstitutionsleistung, die ich in der Installierung einer Verkehrssprache noch erkennen kann, scheinen mir mit der Auswahl einiger wichtiger Sprachen, die die Vorherrschaft einer Verkehrssprache ergänzen und einschränken, letztlich nur verschoben worden zu sein. Ich ersehe daraus, daß die Vielsprachlichkeit ungeachtet der berechtigten Forderung nach Erhaltung von Kulturräumen weiterhin auch als Problem in der Organisation eines Staatswesens angesehen werden muß.
Die Frage, die sich mir stellt, ist also doppelt gefaßt:
Wie bereits deutlich geworden ist, liegt die eigentliche Schwierigkeit darin, was man jeweils als »angemessen« ansehen will. Die militärische Konstitution ist weitgehend zu recht geächtet, ähnlich zwangsweise Assimilierungsmethoden, obwohl weltweit in verschiedenen Formen verbreitet.
Meine erste globale These ist nun, daß die Organisationsformen von Wissenschaft, Bildung und Wirtschaft, auch lokale soziale Institutionen, in einer gewissen Unabhängigkeit von politischen Institutionen die Aufgabe der Vereinfachung der Sprachenmannigfaltigkeit übernehmen. Das kann nicht ohne entsprechende politische Willensbildung erfolgen, sehe ich aber grundsätzlich als Verlagerung der Aufgabenstellung von staatlichen zu nicht-staatlichen Organisationen, die allerdings dann auch staatlich aus verschiedenen Gründen und im verschiedenen Ausmaß unterstützt werden müssen.
Meine zweite, speziellere These zur Vereinfachung der Sprachmannigfaltigkeit zu einem System von Verkehrssprachen ist, daß eine Organisationsform der Grundformen der sozialen Interaktion gefunden werden muß, welche also Gruppe, Großgruppe, Organisation und Öffentlichkeit bzw. Markt umfaßt, um nachhaltig eine große Zahl in der Bevölkerung zu erreichen. Unter diesem Aspekt kann man die Computerbranche betrachten, indem sowohl mehrere Sprachen, aber eben nicht alle, ein muttersprachliches Betriebssystem haben. Insofern fungiert die Computerbranche als »kollektiver Agent« hinsichtlich der Selektion der Vielsprachlichkeit zur Mehrsprachlichkeit.
Wie zu beobachten ist, unterliegen auch europäische Sprachen in Bereichen der Wissenschaft und der Wirtschaft der Verdrängung der einzelnen National- und Kultursprachen. Mit anderen Worten, die Konstitution erfolgt nach Branchen entlang der Vorstellungen der Wissenschaftsrationalität und der Wirtschaftsrationalität. Somit kann ohne weiters gesagt werden, daß wissenschaftliche und wirtschaftliche Organisationen nicht nur die Rolle von »kollektiven Agenten« wahrnehmen und historisch wahrgenommen haben, sondern auch als Teil dieser intelligenteren Weise der Konstitution angesehen werden können. Dazu ist unabhängig vom Ausgangsinteresse der Konstitution einer interkulturellen Ebene der Widerstreit von Konstitution und Regionalkultur in den Blick zu nehmen und in welcher Hinsicht die Argumente der einen wie der anderen Seite zumindest funktional sind. Grundsätzlich ist für eine Mischung von Leitsprachen je nach Kulturbereich zu plädieren.
An dieser Stelle der Überlegung halte ich es auch für angebracht, auf die Verschiedenheit von Rationalitätstypen hinzuweisen, was aber nicht dazu führen soll, die mit dem Widerstreit von allgemeineren Konstitutionsinteresse und besonderen Regionalinteresse aufgetane Problematik nur unter der Perspektive des Übersetzungsproblems behandeln zu wollen, oder vorzugeben, es ließe sich dieser Widerstreit grundsätzlich durch Analyse so weit bringen, daß es einfache Lösungsmodelle für die aufgeworfenen Fragen geben könnte, die befriedigend sein könnte. Der Gebrauch des Konzepts von Rationalitätstypen kann hier nicht vollständig erörtert werden, doch es gibt zwei Richtungen weiterer Differenzierung: Die eine Klassifizierung beruht auf historische Gemeinbilder, und ist veränderbar, die andere Klassifizierung versucht, geregelt kommunizierbare und formalisierbare Typen von Vorgangsweisen zu vergleichen und nach Adäquanz der Kriterien der Erfüllung einzuteilen. Doch sind letztere ebenfalls veränderlich und im Nachhinein als Reaktion auf das Gewöhnte (Rupert Riedel: ratiomorphically), vielleicht sogar als Reflexion auf Verhaltensmuster, deren Prinzipien und Konsequenzen zu denken.
Dazu querstehend bleibt meiner Einschätzung nach grundsätzlich zum interdisziplinären Aspekt in aller Kürze nur zu sagen übrig, daß die Verwandtschaft und Verknüpfungen zwischen Wirtschaftsrationalität und Wissenschaftsrationalität keineswegs so durchgehend sind, daraus auf einen gemeinsamen Rationalitätstypus schließen zu können; ich hielte dergleichen, erst recht eine Identifikation, für eine erkenntnisidealistische Übertreibung. Zum Beispiel: Nachdem Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Markt organisatorisch zusammengeschlossen worden sind, wird Wirtschaftsrationalität mit wissenschaftlichen Rationalitätsformen, insbesondere mit der Rationalität der mathematischen Naturwissenschaften identifiziert. Das sind drei grobe Mißverständnisse.
Allerdings spricht auf niedrigerer Anspruchsebene für die organisatorische Verlagerung der Konstitution vom Staat zu Wirtschaft die Eigenschaft, gesellschaftliche Probleme nicht zu analysieren, sondern in der Reihenfolge des Auftretens pragmatisch zu lösen. Diese allgemein aus bildungssoziologischer Sicht beklagenswerte Tendenz kann im Sinne der Beteiligten funktional sein, schon allein dadurch, indem auch durch diesen blinden Prozess das Problem in Teilprobleme zerlegt wird.
4. Kognitiv-affektive Positionen im affektiven Feld der Gesellschaft
unter einer Staatsidee.
State-building in schwachen Staaten.
Im Fall eines einfachen Staates mit hinreichend erfüllten Funktionen (insbes. Ulrich Schneckener: States at Risk, FoS Staatsbildung und Staatszerfall, Eva Kreisky, SoSe 2007. Zur Analyse fragiler Staatlichkeit) behaupte ich ein affektives Feld zwischen Individuen und Gruppen und dem Staatswesen, das zugleich ein Integrationsfaktor der Gesellschaft ist. Die Bindung ist einerseits an den Erwartungshaltungen an die Gesellschaft und an den Staat zu ersehen und wird andererseits kognitiv mit Vorstellungen von der eigenen Position in der Gesellschaft nach Struktur (Organisationsform), Zielsetzungen in Gesellschaft und im Staatswesen und geschichtlichem Leitbild ausgedrückt (nach Struktur, Ziel, Leitbild als symbolisches »Meta-Alpha« einer Organisation, in: Herbert Rauch, Prinzip der Herausforderung — in Gruppe, Masse, Organisation und Gesellschaft. Entwurf einer psychosozialen Theorie des „Politischen“, 1986). Ich verknüpfe damit idealiter die Idee der politischen Identität.
Schon ab dem 17. Jahrhundert wurde die Frage nach der Herrschaftsform allmählich im Zusammenhang mit der Frage nach der allgemeinen Zweckmäßigkeit gestellt. Die Modernisierung der traditionellen Gesellschaften in Europa ab dem späten 18. Jahrhundert, die bis in das frühe und mittlere 20. Jahrhundert gedauert hat, hat auch gezeigt, daß sich die Fragen der Organisation von Wirtschaft und politischen Entscheidungsfindungsprozessen entlang von Strukturfragen und Zielsetzungsfragen entwickelt haben (Adam Smith in England, Quasnay in Frankreich). Das aber berührt die zentralen Fragen, die zum politischen Kern des Leitbilds einer Gesellschaft gehört.
Insofern ist die bürgerliche Existenz, obwohl als universelles Menschenrecht proklamiert, schon in sich selbst in der Krise: Das europäische Bürgertum hat die Spaltung in idealistisches vorindustrielles und vorrevolutionäres Bürgertum und in zuerst romantisches, industrielles, politisch nur teilweise postrevolutionäres Bürgertum offenbar nicht ganz überwunden, und exportiert eine bleibende politische Dissoziation zwischen vorindustrieller Aufklärung und postindustriellem Kapitalismus in der westlichen Gesellschaft als Modell eines Staates, der nicht nur an den Leistungen nach innen gemessen wird, sondern in Hinsicht seiner Funktionalität für die Nachbarn und nunmehr insbesondere für die Weltwirtschaft zu beurteilen ist (vgl. auch Kalevi J. Holsti: The strenght of states, 6. perils of the weak, in: Eva Kreisky, FoS Staatsbildung und Staatszerfall, ebenda).
Dieser Druck von Außen kann nun helfen, die Kohärenz der Gesellschaften in eher schwachen Staatswesen, aber mit Ressourcen als gemeinsame Herausforderung zu sehen, die innerstaatliche Vielsprachlichkeit und Multikulturalität (ob historisch gegeben oder durch Migration innerhalb der letzten drei bis vier Generationen entstanden) durch eine Prioritätenliste den Identitätskonflikt als Staatswesen gegenüber den Parallelgesellschaften aufzuschieben, und zu vereinbaren, diesen Konflikt nicht aggressiv und gewaltsam auszutragen, sondern in Teilkonflikte zu zerlegen, die wenigstens teilweise lösbar sein sollten.
Wie ersichtlich geworden ist, gibt es schon vorneweg verschiedene Rationalitätstypen zu beachten, die zum State-Building benötigt werden, bevor noch historisch gegebene regionale Binnenunterschiede zur Interpretation herangezogen werden. Kann man nun ein gemeinsames affektives Feld um die Idee eines gemeinsamen Staatswesen annehmen, möchte ich damit auch eine Topologie der affektiv-kognitiven Orientierbarkeit annehmen, ohne wie Herbert Rauch noch eine bestimmte soziale Organisationsform (Gruppe, Großgruppe, Organisation und Stab, Masse und Öffentlichkeit) konkret weiters anzusprechen. Ich muß ein Mindestmaß an Organisiertheit der Gesellschaft über die gruppale Organisiertheit der Familie und Sippengesellschaft hinaus voraussetzen können, damit auch ein Mindestmaß der Organisiertheit der verschiedenen grundlegenden sozialen Formationen. — Ich will nun von einer Situation ausgehen, die zwischen dem idealisierten Staat, der selbst schon zwischen Gewaltmonopol nach innen und dessen Legitimationsproblematik einerseits und völkerrechtlichen und weltwirtschaftlichen äußeren Bedingungen als Idee eine dissoziative Vorstellungsmasse ist, und der Vorstellung eines »failured state« liegt (risk state). Ich will mich desweiteren wieder vorwiegend auf die inneren gesellschaftsbauenden Funktionen eines Staatswesens abstrakt beziehen.
Das vorher postulierte affektive Feld einer Staatsidee kann nun nach den gruppendynamischen und soziodynamischen Positionen (nach Raoul Schindler und Herbert Rauch) von Alpha, Beta, Gamma und Omega (hier A, B, C, D) orientiert werden. Hiebei verstehe ich folgende soziodynamische Orientierungsachsen im Falle erkennbarer Aktivität als Faktoren stabilisierender Beziehungspotentalitäten:
A — C : Mainstream
A — B : Stab, Bürokratie als Herrschaftsinstrument
B — C : Bürokratie als Dienstleistung
Folgende aktive soziodynamische Achsen sind als Hinweise auf destabilisierende Konfliktzonen zu betrachten:
A — O : Vorherrschaft oder Versagen
B — O : Verschwörung oder Ausschluß
C — O : Rebellion oder Pogrom
In Folge eines Mangels von A — C kann es zu A — O unter Drohung von C — O oder beiden kommen, wobei B — O nur eine Durchgangsphase wäre. Dieser Mangel von A — C kann durch einen Mangel von B — C und/oder A — B hervorgerufen worden sein.
Ein Mangel von A — B kann aber auch zu B — O –Potentialität führen, wenn A — C noch hinreichend funktioniert (vielleicht weil B — C noch funktioniert oder ein politischer Wechsel für diesen Bereich als noch schlimmer dargestellt werden kann). Dann gerät A — B wegen des Mangels genügend unter internen Druck und B unter verstärktem Druck von A, sodaß eben B — O Potentialität aufbaut, ohne das ein offener A — O – Konflikt ausbricht und/oder C — O – Potentialität aktualisiert wird.
Ein Mangel von B — C führt zur einseitigen A-lastigen Stärkung von A — B, die zwar C — O – Potentialität aufbaut, aber ohne B — O zu schwache Konzepte oder eine zu schwache Position für die Aktualisierung, oder der Drohung mit Aktualisierung besitzt (vgl. hingegen Carl Schmitts Definition des Machtzentrums).
Entlang dieser soziodynamischen Orientierungsachsen, die selbst strikt inhaltsneutral zu denken sind, kann man wieder von Rationalitätsmuster sprechen, woraus sich eine konkrete Rationalitätsform der Kommunikation über die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den genannten Dimensionen des kollektiven Selbstverständnisses erst zusammensetzen läßt. In der idealen Zusammensetzung dieser Rationalitätsmuster entlang A — C kommen verschiedene Rationalitätstypen vor: Leitbild beinhaltet historische und wertende Überlegungen, Ziel beinhaltet teleologische, ökonomische und betriebswirtschaftliche Ziele (aktive soziale Erwartungshaltungen), Struktur beinhaltet passiv soziale Erwartungshaltungen und hat selbst wieder starke Anteile bloß gewohnheitsmäßiger Erwartung (ratiomorphically). Aus dieser Zusammenfassung geht zwanglos hervor, daß verschiedene Rationalitätstypen in den jeweiligen Feldern der Überlegungen vorkommen, und daß diese entlang der inneren Bezogenheit der Reflexionsstruktur auf Leitbild, Ziel, Struktur in verschiedenen (nicht in allen denkmöglichen) Kombinationen vorkommen.
Bewegt sich nun ein risk state mit Mängel in Funktion und Legitimation in Richtung failured state, so gibt es ein privilegiertes Staatsvolk, daß zum realpolitischen A die A — C – Achse ergibt, und eine institutionalisierte Tendenz, diejenigen, die nicht zum Staatsvolk gezählt werden, zu diskriminieren., also in Richtung O zu verschieben. Das betrifft zuerst A — B und B — C, und geht im Falle von Widerstand bis zur eingeschränkten territorialen Verfügung, was das Potential von A — O gefährlich hoch schraubt, auch wenn O keine reelle Chance hat, selbst die Position von A einzunehmen, oder sich territorial wie der Staatsidee nach vom Ausgangsstaat zu trennen.
Auf dieser theoretischen Abstraktionsebene lassen sich nun entlang der Verhältnisse der Achsen zwischen den aus der Gruppendynamik gewonnenen dynamischen Positionen ein Gerüst affektiv-kognitiver Orientierung konstruieren, das erst erkenntlich machen soll, wann die allgemeinen Vorbedingungen für einen wirksamen rationalen Diskurs eingetreten sind, und bei welchen Themenkreisen der Diskurs zu beginnen hat.
5. Skizze einer dreidimensionalen Dynamik des Gesellschaftsmodells.
Bildung und bürgerliche Individualität
Das angestrebte Modell soll die horizontale Ebene der Parallelgesellschaften und die vertikale Ebene der Organisationsformen mit dem Feld der affektiv-kognitiven Orientierung verbinden. Letzteres ist unter diesen Voraussetzungen immer das der selbst fraktalen Leitkultur.
Ich formuliere drei Ziele der projektierten Theoriezusammenführung:
Diese grobe Vorplanung hat die Neigung, konsensuale Projekte zu begünstigen, was als Rahmenbedingung des jeweiligen Maßnahmenkatalogs diesen auch zu sehr beschneiden könnte. Allerdings ist der Horizont der Themenstellung hier ein besonderer: Es geht gerade um die Organisation der Gliederung der Gesellschaft, und derjenigen Problemstellungen, die diese Gliederung jeweils mit sich bringt. Geht man vom extremen Fall eines Übergangs von risk state zu failured state aus, versteht sich von selbst, daß koordinierte integrative Maßnahmen Priorität besitzen.
Weiterhin bleiben aber gewisse zentrale Vorstellungen mit dem bereits erreichten Problembewußtsein der Organisation von modernen Massengesellschaften notwendigerweise verbunden, die nur durch persönliche Überzeugungskraft zustande kommen. Insofern krankt das Konzept an der nämlichen Stelle wie der Entwurf von Villoro. Es reicht nicht aus, Konzepte der Organisation zu implementieren, es muß auch an den Gründen der Motivation gearbeitet werden.
Man kann aus der oben gegebenen Darstellung verschiedene Schichten postulieren, die eine bestimmte Variation von Motiven erwarten lassen. So ist anzunehmen, daß die sozial besser ausgerüsteten Schichten durchwegs einen höheren Anteil an Motivation aus Inhalten der Leitbilder der fraktalen Leitkultur besitzen. Man ersieht daraus, wie die Leitbilder der fraktalen Leitkultur in einer Gesellschaft mit funktionierendem Staat auch aus einen inhaltlichen, konzeptuellen Grund einen politischen Anteil, nicht nur eine politische Funktion haben.
Aus einer ganz anderen theoretischen Perspektive könnte man auch von Flächen von Werthaltungen sprechen, die negativ durch Gewichtung oder Ausblendung von Themenkreisen, positiv durch Hervorhebung von Themenkreisen und Personalisierungen umrissen werden können. — Die historische Dimension der Werthaltungen und der Gründen deren Veränderungen führt zum nächsten Perspektivenwechsel: Bildung ist keinesfalls nur Ausbildung in Techniken der Organisation von Organisationsformen, Bildung ist auch nicht einfach gleich zu setzen mit Wissen (als geordnete und prüfbare Kenntnis). Bildung benötigt einen Standpunkt und Wissen, das in der Welt orientiert ist. Aber obwohl ich mich um eine allgemeine, kulturinvariante Terminologie der Bildungssoziologie bemühe, ist doch klar, daß damit Varianten des westlichen demokratisch legitimierten Rechtstaates (interne) mit liberalen Wirtschaftsgesetzen (externe Herausforderung) anvisiert werden.
Kultursoziologisch und bildungssoziologisch muß gesagt werden, daß das Ideal des unternehmenden, selbstständigen Bürgers nach wie vor im Menschenbild dieser Konstruktion einen zentralen Platz einnimmt. Allerdings muß auch gesagt werden, daß die für den verstärkten Konkurrenzdruck im Zuge der neuen Qualitäten der Globalisierung (Tempo, Vernetztheit) passende neoliberale Konzepte die Globalisierung noch schneller vorantreiben. Das läßt zweierlei erkennen:
Wie schon vorbereitet, driftet die Bildung, die zur Innovationen im Bereich des Formenkreises der Parallelgesellschaften zwischen Multikulturalität und Interkulturalität vorausgesetzt ist, von der Bildung des nach Kriterien der wirtschaftlichen Rationalität ausgebildeten Bürgers zunehmend weg. Das ist eine Kritik an der globalen interkulturellen Leitkultur, die vom Westen ausgeht (Max Webers Hypothese der protestantischen Wirtschaftsethik hat sich insofern indirekt historisch bestätigt). Bleibt die Frage, die ich im ersten Punkt aufgeworfen habe. Das Konzept der Parallelgesellschaften als Gliederungskriterium der Gesellschaft befähigt die moderne bis postmoderne Bildungsidee damit auch Konzepte nur für »implizite Bürger« zu entwerfen, die, von der gesellschaftlichen Dynamik weitgehend abgekoppelt, als Parallelgesellschaft nur mehr mit einer noch weiter eingeschränkten Solidarität rechnen dürfen. Diese Auslagerung entzieht öffentliche Aufmerksamkeit, somit in Folge auch tendenziell soziale Solidarität. Das berührt entscheidend die Frage nach der Gewichtung und Ausblendung von Leitbildinhalten der Leitkultur.
Diese Kritik soll nicht davon ablenken, daß die Nachhaltigkeit der Themenstellung der Multikulturalität und Interkulturalität von der Wirtschaftsdynamik der Globalisierung zugleich befördert wird. Das kann man als Rückkoppelung verstehen, die der historischen und humanistischen Bildungstradition im Verbund mit der kritischen Betrachtung aller Gründe der gesellschaftlichen Dynamik anhand der Perspektive der Gegliedertheit der Gesellschaft in Parallelgesellschaften einen neuen Ansatz erlauben könnte.
Literatur:
8.14. Gemeinschaft in Differenz: Kollektive Agenten im interkulturellen Kontext / Community in Difference: Collective Agents in Intercultural Contexts
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