Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 8.18. | Socio-cultural contexts of globalization process | Soziokulturelle Zusammenhänge des Globalisierungsprozesses Sektionsleiter | Section Chair: Mikhail Blumenkrantz (München, Deutschland) |
Die menschliche Güte und das unmenschliche „Gute“ –
Vassilij Grossman und Lev Šestov
Alexei Rybakov (Eichstädt, Deutschland) [BIO]
Email: Alexei.Rybakov@ku-eichstaett.de
Es liegen Welten zwischen diesen Autoren. Einer der brillantesten Vertreter der russischen religiös-philosophischen Renaissance, Vorläufer und Wegbereiter des Existentialismus, großartiger Stilist und bis zur letzter Konsequenz vordringender Ironiker einerseits und ein sowjetischer Schriftsteller andererseits, der trotz aller ideologischer Differenzen mit dem Sowjetsystem den durch den sozialistisch-realistischen Kanon vorgegebenen stilistischen Rahmen nie zu sprengen vermochte, noch eigentlich versuchte. Das letztere gilt auch für „Leben und Schicksal“, sein opus magnum. Auch dieses Werk, wie kritisch es sich auch mit den totalitären Ideologien und Praktiken des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen mag, bleibt der Ästhetik des Sozialistischen Realismus nicht weniger verpflichtet und verhaftet, als es die früheren, noch, zumindest oberflächlich gesehen, regimekonformen Werke Grossmans waren, sein „Stepan Kolčugin“ etwa (1937−1940) oder auch der Vorgängerroman von „Leben und Schicksal“ – „Für die gerechte Sache“ (1952). Diese Ästhetik, abgesehen von ihrer ideologischen, bzw. propagandistischen Komponente (der berüchtigten, bereits im Statut des sowjetischen Schriftstellerverbandes festgelegten Aufgabe „der ideologischen Umgestaltung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus“(1)) – einer Komponente, die bei Grossman selbstverständlich wegfällt (wie sie es im allgemeinen in einigen Werken der nicht ganz regimetreuen sowjetischen Schriftsteller, insbesondere der Nachstalinzeit, tut) – abgesehen also von dieser ideologisch-propagandistischen Komponente ist die sozialistisch-realistische Ästhetik epigonenhaft und stellt einen Versuch dar, die – sehr oberflächlich verstandene – realistische Kunst des 19. Jahrhunderts als die angeblich einzig „wahre“ Kunst neu zu beleben, was natürlich nur mit der Ausklammerung und Verteufelung der Moderne einhergehen konnte. Was der Sozialistische Realismus (im Bereich der Literatur) in seiner letzten Konsequenz anstrebte, war die Schaffung eines großen allumfassenden Epos, das eine end- und letztgültige, eine kanonische Darstellung der (in der sowjetischen Ideologie und „Kultur“ eigentlich als heilig empfundenen) Geschichte bieten sollte, sei es nun die Revolutionsgeschichte, oder, verstärkt in der Stalinzeit, die russische Geschichte im allgemeinen. Dem gleichen Zweck diente übrigens auch die historische Malerei, der Film, die Plastik usw. So ist es nicht verwunderlich, daß von den großen Werken des 19. Jahrhunderts es Tolstojs „Krieg und Frieden“, dieses, um auf die treffende Charakteristik Thomas Manns zurückzugreifen, „National-Epos in moderner Romangestalt“,(2) war, der es den Sowjetschriftstellern in einem besonderen Maße angetan hatte. Cum grano salis läßt sich die Geschichte der Sowjetliteratur als eine Geschichte der (mißlungenen) Versuche schreiben, einen „neuen“ „Krieg und Frieden“ zu schaffen. Auch Grossman war dieser Faszination durch Tolstojs „National-Epos“ durchaus, ja vielleicht sogar ganz besonders, verfallen; nicht zufällig wurde bereits sein Roman „Für die gerechte Sache“ immer wieder mit „Krieg und Frieden“ verglichen; um so mehr gilt das für „Leben und Schicksal“. Indessen ist es keinem sowjetischen Autor, weder einem regimekonformen noch einem regimekritischen, gelungen, diesem Anspruch auf die Schaffung „eines zweiten“ „Krieg und Frieden“ in einem diskutablen Maße gerecht zu werden; auch Grossman meines Erachtens nicht. Warum eigentlich nicht? Die einfachste Antwort auf diese Frage wäre natürlich ein Hinweis auf Tolstojs Genie, das seinen Nachahmern nicht zur Disposition stand. Nun glaube ich, daß hier noch einige, über die immer strittige Frage des individuellen Talents hinausführende Gründe vorliegen. Der eine ist eben der Nachahmungscharakter, bzw. jenes Epigonentum, die zum Wesen des Sozialistischen Realismus und der in seiner Tradition stehenden Werke gehören. Das was etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine von sich aus, „organisch“, entstandene und im Vergleich zum Vorhergehenden eventuell als neu und befreiend empfundene Stilrichtung war, ist im 20. Jahrhundert eine künstlich aufgezwungene, die lebendige Entwicklung der Literatur nur noch behindernde Hohlform. Nicht, daß ich etwa an den „Fortschritt“ in der Kunst glauben würde oder mich dem „avantgardistischen“ Pathos der permanenten Erneuerung (sozusagen der permanenten Kunstrevolution) verbunden fühlte. Keineswegs (eher im Gegenteil); ich behaupte bloß, daß die Kunstformen sich einerseits im Laufe der Zeit immer verändern, daß es andererseits zu jeder gegebenen Zeit eine Vielfalt von ästhetischen Formen und Richtungen gibt, die sich gegenseitig beeinflussen und befruchten, und daß es deshalb immer verhängnisvoll ist und zum künstlerischen Scheitern quasi von sich aus führen muß, wenn aus ideologischen Gründen nur eine einzige Stilrichtung zugelassen wird, noch dazu eine solche, deren eigentliche Blüte- und Vorherrschaftszeit bereits der Vergangenheit angehört. Das ist der eine Grund; nun der andere. Die von Tolstoj in „Krieg und Frieden“ gestaltete Welt erscheint im Vergleich zur totalitären Alptraumwelt Grossmans fast idyllisch; trotz aller Greuel des Krieges, die bei Tolstoj selbstverständlich auch nicht fehlen, ist diese Welt sozusagen noch „in Ordnung“ (vielleicht nur in einigen Szenen der Gefangenschaft Pierre Besuchovs wird so etwas wie ein Hauch der bereits unmenschlichen, latent totalitären Grausamkeit spürbar); ansonsten ist es (noch) eine „menschliche“ Welt, die weitgehend ihre eigenen tradierten Wege geht ohne viel Rücksicht auf Politik und Ideologie. Lediglich der Krieg von 1812 zieht alle, auch die russische Zivilbevölkerung, in seinen Bann; ansonsten braucht sich der private Mensch bei Tolstoj um die Politik kaum zu kümmern. Um eine in dieser Hinsicht sehr charakteristische Passage zu zitieren:
„Und das Leben selbst [schreibt Tolstoj, nachdem er von der Innen- und Außenpolitik kurz vor dem Ausbruch des „Vaterländischen Krieges“ von 1812 gesprochen hat], das eigentliche menschliche Leben, mit allen seinen natürlichen Interessen wie Gesundheit, Krankheit, Arbeit, Erholung, und mit seinen gedanklich verfeinerten Interessen wie Wissenschaft, Poesie, Musik, Liebe, Freundschaft, Haß, Leidenschaft, dieses Leben ging seinen Gang wie immer, unabhängig von den politischen Verhältnissen, die bald eine größere, bald eine geringere Annäherung an Napoleon Bonaparte mit sich brachten, und unabhängig von den auf allen möglichen Gebieten vorgenommenen Reformen.“(3)
Deshalb steht auch die Auseinandersetzung mit konkreten politischen Phänomenen in „Krieg und Frieden“ höchstens am Rande von Tolstojs Interessen. Er entwickelt eine allgemeine Geschichtskonzeption, eine allgemeine Geschichtsphilosophie, die sehr wohl auch an anderen Beispielen hätte demonstriert werden können; keineswegs könnte man behaupten, es gehe Tolstoj hauptsächlich um Verständnis etwa der Napoleonischen Epoche in ihrer Konkretheit.
Ganz anders bei Grossman, dem es ja ganz primär um das Verständnis politischer Phänomene des 20. Jahrhunderts geht – was seinen Roman dazu verurteilt, sub specie politicae, oder, anders gesagt, in erster Linie als Roman über den Krieg und Totalitarismus gelesen zu werden (im krassen Unterschied zu Tolstojs Epos, das – wie jede „große Kunst“ – nicht über etwas ist, sondern selbst etwas ist). Den totalitären politischen und ideologischen Phänomenen des 20. Jahrhunderts entzieht sich keiner; keineswegs kann man in Grossmans Welt behaupten, „das eigentliche Leben der Menschen mit allen seinen natürlichen Interessen“ gehe einfach weiter, ohne sich um die Politik zu kümmern, sondern diese Politik verwandelt dieses wirkliche Leben immer wieder in etwas Alptraumhaft-Unwirkliches. Nicht nur geht also Grossman Tolstojs plastische Kraft ab, so daß der Leser die von ihm dargestellten Ereignisse und vorgeführten Personen, meiner Meinung nach, kaum zu sehen vermag, sondern die schattenhaft-irreale Welt des Romans trotzt sozusagen von sich aus einer realistischen Darstellung. Deshalb neige ich zu der Meinung, daß die künstlerische Gestaltung totalitärer Phänomene eher solchen Autoren des nunmehr vergangenen Jahrhunderts gelungen ist, die es wagten, die „realistische“ Oberfläche der Erscheinungen aufzubrechen, um zu ihrem verborgenen „Kern“, ihrem „Wesen“, man kann vielleicht sogar sagen – zu ihrer „Idee“ (im platonischen Sinne) vorzudringen; ich meine dabei nicht so sehr die sogenannten Antiutopien, deren ästhetischer Wert fraglich ist, als vielmehr (bei allen Unterschieden zwischen ihnen) solche Werke wie etwa Nabokovs „Einladung zur Enthauptung“ oder „Auf den Marmorklippen“ von Ernst Jünger.
Trotz all dieser Einschränkungen ist der Roman selbstverständlich nicht nur vom literarhistorischen Interesse. Im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ist Grossman eine breit angelegte Schilderung des Lebens und Sterbens, Leidens und Kämpfens unzähliger, ganz unterschiedlicher Menschen unter den beiden wichtigsten totalitären Regime des 20er Jahrhunderts gelungen. Die Ähnlichkeiten zwischen diesen Regime kommen dabei scharf profiliert zum Vorschein; zwar sprengt Grossman den ästhetischen Rahmen der Sowjetliteratur, wie gesagt, nicht, die ideologischen Schranken des Sowjetischen werden auf jeden Fall, und sehr entschieden, überwunden. Es ist in diesem Kontext, daß die Frage interessant wird, inwiefern Grossman die Kritik an den totalitären Ideologien, wie sie u.a. von den Vertretern der russischen religiös-philosophischen Renaissance bereits zu Beginn des Jahrhunderts, und dann verstärkt nach der Revolution, hauptsächlich in der Emigration, vorgebracht wurde, vertraut, oder überhaupt bekannt, war. Inwiefern waren Grossman die Schriften der russischen Denker des Silbernen Zeitalters überhaupt vertraut? In seinen Erinnerungen an Grossman berichtet der Dichter Semen Lipkin über dessen Interesse für die Schriftsteller des Silbernen Zeitalters, sowie für die Autoren, die sich in der frühen, von der stalinistischen Gleichmacherei noch nicht beherrschten Sowjetzeit hervorgetan haben, einige von denen Lipkin persönlich kannte und über die er seinem Freund Grossman erzählen konnte (u.a. Osip Mandelštam, Marina Cvetaeva, Isaak Babel’, Michail Bulgakov).(4) Auch bei der Lektüre von “Leben und Schicksal” wird einem die Bekanntschaft Grossmanns mit der Literatur des Silbernen Zeitalters bewußt (so – um nur ein Beispiel anzuführen – zitiert er ein Gedicht von Vladislav Chodasevič, der zu der Zeit der Verfassung des Romans in der Sowjetunion noch als persona non grata galt und erst viel später, im Züge der Gorbačevschen Perestrojka, erwähnt und veröffentlicht werden durfte; genauso – ein weiteres Beispiel – wird Maksimilian Vološin zitiert). Das alles bezieht sich nun aber auf die Literatur; inwiefern Grossman auch die Philosophie des Silbernen Zeitalters vertraut war, bleibt ungeklärt. Auch die Gespräche mit einigen seinen Verwandten und Bekannten, die ich führen durfte, haben mir darüber keinen Aufschluß verschafft; eine allgemeine Bekanntschaft etwa mit den Vechi-Autoren, ob nun durch eigene Lektüre oder nicht, dürfte man voraussetzen; ob er sich je mit den Schriften Šestovs beschäftigte, konnte ich nicht herausfinden. Es ist aber ausgerechnet Šestov, der unter den Denkern seiner Epoche vielleicht unpolitischste, zu dessen Gedankenwelt man bei Grossman eine überraschende Parallele findet; auf diese möchte ich hier eingehen.
Die Leser von „Leben und Schicksal“ erinnern sich vielleicht an eine Gestalt namens Ikonnikov, einen, zumindest aus der Sicht seiner Mitgefangenen, Halbwahnsinnigen, dem wir bereits auf den ersten Seiten des Romans, und zwar im deutschen Konzentrationslager begegnen, wo er mit dem alten Kommunisten Mostovskoj ein für diesen eher unerwartetes Gespräch beginnt. Gleich in seinem ersten Satz ist vom „Guten“ die Rede; auf die ironische Frage Mostovskojs, was „der Genosse“ ihm Gutes sagen könne, antwortet Ikonnikov mit der Gegenfrage, was denn das Gute überhaupt sei.(5) Durch diese Frage fühlt sich Mostovskoj in seine Kindheit versetzt, in die Zeit, als sein Vater und sein in einem Priesterseminar studierender älterer Bruder theologische Streitgespräche zu führen pflegten. Somit wird von Anfang an eine Verbindung Ikonnikovs zu der durch religiöse Interessen geprägten vorrevolutionären Welt hergestellt. Auch er selbst stammt aus einer Familie von Geistlichen, die auf eine lange Priestertradition („seit Peter dem Großen“) zurückblicken kann; selbstverständlich deutet auch sein Familienname, der sich ja von „Ikone“ ableitet, auf die geistliche Herkunft (zugleich aber – als „sprechender Name“ – auf eine ideelle Verbindung mit der religiösen Sphäre); nur die letzte Generation von Ikonnikovs, er und seine Brüder, bekamen eine „mondäne“ Erziehung. Wie wir auch auf den ersten Seiten des Romans erfahren, wurde Ikonnikov noch während seiner Studienzeit Tolstojaner, engagierte sich als Volkslehrer im Norden Rußlands, führte dann ein Wanderdasein, auch als Mechaniker auf einem Kargoschiff, mit dem er bis nach Indien und China gekommen ist; später, bereits nach der Revolution, versuchte er, wohl immer noch unter dem Einfluß von Tolstojs Ideen, eine landwirtschaftliche Kommune aufzubauen. Während der Zwangskollektivierung, deren Schrecknisse ihn tief getroffen hatten, beginnt er das Evangelium, diesmal wohl ausdrücklich nicht mehr nach Leo Tolstoj, zu predigen, wird verhaftet, im Haft für wahnsinnig erklärt und lebt dann bei einem seiner Brüder in Weißrußland, wo ihn auch der Krieg überrascht. Auch dessen Schrecknisse versetzen ihn in einen „hysterischen Zustand“, er versucht selbst und stiftet andere dazu an, die Juden zu retten, wird denunziert und erneut, diesmal von den deutschen Besatzungsbehörden, verhaftet und gerät so in das Lager, wo wir ihm begegnen. Bereits im ersten Gespräch mit Mostovskoj wird die Grundopposition aufgestellt, die seine Gedanken offensichtlich bestimmt und später in der kleinen Abhandlung entfaltet wird, von der unten auch hauptsächlich die Rede sein wird. „Ich habe großes Leiden der Bauern gesehen“, sagt er Mostovskoj, „die Kollektivierung wurde aber im Namen des Guten durchgeführt. Ich glaube nicht an das Gute, ich glaube an die Güte“. Dann müsse er auch schrecklich finden, erwidert der alte Kommunist, daß man Hitler und Himmler im Namen des Guten auf den Galgen bringen werde. „Fragen Sie Hitler“, antwortet Ikonnikov, „er wird Ihnen erklären, daß auch dieses Lager des Guten willen [radi dobra] da ist.“(6) Worauf Mostovskoj nichts mehr antwortet, und zwar mit dem Gefühl, seine „Logik“ sei hier eigentlich macht- und sinnlos, wie etwa ein Messer, das „gegen eine Meduse kämpft“. Die Reflexion Ikonnikovs bewegt sich sozusagen auf einer ganz anderen Ebene als die seines Gesprächspartners – genau wie Ikonnikov selbst ein Mensch aus einer anderen Welt ist, dem die sowjetischen Kriegsgefangenen im Lager deshalb auch mit Befremden und Mißtrauen begegnen. In einer der späteren Partien des Romans hören wir einem Gespräch der Lagerinsassen zu, aus dem hervorgeht, daß sie dem Gerücht nach am Bau einer Gaskammer arbeiten; Ikonnikov ist dabei der einzige, der seinen Wunsch bekundet, diese Arbeit zu verweigern, was, wie alle andere wissen, den sicheren Tod bedeuten würde. Auch der italienische Priester Gardi, der die gleiche Arbeit verrichten muß, behauptet, er sei ja dazu gezwungen und Gott werde es ihm verzeihen. Ikonnikov erwidert darauf: „Sagt nicht, diejenigen seien schuld, die dich zwingen, du bist ein Sklave, du bist nicht schuld, weil du nicht frei bist. Nein! Ich bin frei. Ich baue ein Vernichtungslager, ich bin für die Menschen verantwortlich, die man dort mit Gas ersticken wird. Ich kann nein sagen!“ Woraufhin Gardi ihm, zur Verblüffung der anwesenden Marxisten, die „schmutzige Hand“ küßt.(7) Eher beiläufig erfahren wir später, daß Ikonnikov diese Arbeit tatsächlich verweigert hat und daraufhin erschossen wurde.(8)
Soviel zu dieser Gestalt; wirklich sichtbar wird sie, wie die meisten Gestalten bei Grossman, m. E. nicht; es sind also in erster Linie die Gedanken Ikonnikovs, die für die Gesamtkonzeption des Romans von nicht unbeträchtlicher Bedeutung zu sein scheinen, Gedanken, die er, wie gesagt, in einer kleinen Abhandlung entwickelt, welche er Mostovskoj übergibt, bevor dieser im Isolator eingesperrt wird. Mostovskoj liest sie nun unmittelbar nach dem Gespräch mit dem Lagerkommandanten Liss – eine der Schlüsselszenen des Romans -, in welchem dieser letztere auf der Wesensverwandtschaft beider sich bekämpfender totalitärer Systeme besteht; die kleine Schrift Ikonnikovs, die er auch kennt, ruft bei Liss nur Verachtung hervor, wobei er auf die prinzipielle Gegnerschaft zwischen den beiden totalitären Ideologien einerseits und der in dieser Schrift vertretenen Position andererseits hinweist („Ihr und wir stehen zusammen und auf der anderen Seite dieser Dreck hier!“, sagt er, auf die Blätter Ikonnikovs deutend – S. 324). Der These von der Wesensverwandtschaft des Kommunismus und des Nationalsozialismus stimmt Mostovskoj, die eigenen Zweifel unterdrückend, selbstverständlich nicht zu; aber die Schrift Ikonnikovs ruft bei ihm eine ähnliche Reaktion hervor, wie bei dem Obersturmbandführer SS Liss, wodurch ja diese These – noch einmal – indirekt bestätigt und erhärtet wird. Interessanterweise bleiben diese Kommentare der totalitären Kontrahenten auch die einzigen, die die Abhandlung Ikonnikovs, vielleicht das Herzstück des ganzen Buches, im Roman selbst bekommt; auf einen eigenen Kommentar verzichtet Grossman – die Gegenposition zum totalitären ideologischen Wahn steht sozusagen allein da, nur auf sich selbst angewiesen und für sich selbst sprechend.
Es wird in der Abhandlung die gleiche Frage nach dem Wesen des „Guten“ gestellt, eine Frage, über die sich alle, behauptet Ikonnikov, nicht nur Philosophen und Prediger, Gedanken machen, da ja die „Zeit des letzten Gerichts“ nun komme.(9) Was Ikonnikov zunächst feststellt, ist die Verengung der Vorstellungen von dem „Guten“ im Laufe der Menschheitsgeschichte: Dehnte der Buddhismus den Begriff des Guten auf alles Lebendige aus, so enge ihn das Christentum auf den Menschen ein; das Gute der ersten Christen, das allen Menschen gegolten habe, werde durch das Gute nur für die Christen selbst ersetzt, das neben dem Guten der Moslems und den der Juden bestehe; das Gute der Christen wiederum zerfalle in das Gute der Katholiken, der Protestanten, der Orthodoxie usw.
„Daneben existierte das Gute der Reichen und das der Armen, das Gute der Gelben, der Schwarzen und der Weißen.
Immer kleiner und kleiner wurden die Stückchen – Sekten, Rassen, Klassen; alles, was außerhalb des geschlossenen Kreises lag, konnte nicht das Gute sein.
Und die Menschen sahen, daß viel Blut für dieses kleine, ungute Gute vergossen wurde; im Namen eben dieses Guten wurde alles bekämpft, was in seinem Lichte böse war.
So wurde der Begriff des Guten nicht selten zu einem größeren Übel für die Menschheit als das bekämpfte Übel selbst.
Das so begriffene Gute ist weiter nichts als eine leere Hülse, aus der die heilige Frucht herausgefallen ist. Wer gibt den Menschen die verlorene Frucht wieder?“ (Dt. Übersetzung, S. 426).
Dieses kleine partielle Gute muß sich nun aber den Anschein der Allgemeinheit geben, eine „absolute Gültigkeit [ … ] die den Kampf gegen all das, was in seinen Augen [dlja nego] böse ist, rechtfertigt.“ Somit braucht das Gute geradezu das Böse, ohne das es nicht „gut“ sein kann. Denn „so ist nun einmal die Natur des Guten: wer nicht dafür ist, ist dawider! Und jeder, der die Souveränität des Guten anerkennt, ist gezwungen, seine Mitmenschen in Gute und Böse, d.h. in Freunde und Feinde zu teilen.“ Dieses letzte Zitat stammt nun aber aus einem ganz anderen Buch, zwar auch aus einer Abhandlung über die Natur des „Guten“, aber aus einer, die viel früher und in einem völlig anderen geistigen Kontext verfaßt wurde – aus dem Buch von Lev Šestov „Das Gute in der Lehre des Grafen Tolstoj und F. Nietzsches. Philosophie und Predigt“ (1900).(10) Es ist auch hier, wie der Titel schon zeigt, vom „Guten“ die Rede, und es wird genauso vehement demaskiert und verworfen. Dabei ergeben sich Parallelen, die diese beiden so unterschiedlichen Texte sich gegenseitig erhellen lassen und den Leser, könnte man sagen, zum Weiterdenken einladen.
Es gehörte bekanntlich zu Šestovs Eigenart (wie man heutzutage gerne sagt – zu seiner „Strategie“), die ihn verfolgenden Probleme nicht direkt, sondern immer am Beispiel von bestimmten Autoren zu erörtern, bzw. in Auseinandersetzung mit diesen Autoren die Klärung seines Themas zu suchen. Deshalb präsentieren sich seine Texte fast immer als Essays über einen bestimmten Autor, ob es nun Tolstoj, Dostoevskij oder Nietzsche, oder auch, später, Pascal, Plotin, Luther oder Kirkegaard sind. So auch diesmal, wobei es vor allem Tolstoj ist, mit dessen moralischer Lehre (dessen „Predigt“) Šestov sich auseinandersetzt, wobei er nicht so sehr den berühmten Bruch, die so oft beschriebene Wende in Tolstojs Laufbahn, den Übergang also vom künstlerischen Schaffen zur moralischen Predigt, in den Vordergrund rückt, sondern vielmehr auf der Kontinuität, der Einheit im Tolstojs Denken und Schaffen besteht. „Alle Wandlungen in seiner Philosophie gingen nie über die Grenzen des „Lebens im Zeichen des Guten“ hinaus: die Wandlungen bezogen sich nur auf die Vorstellungen vom Guten und dessen, was zu tun sei, um das Gute auf seiner Seite zu haben.“ (S. 63). Daraus erklärt sich nach Šestov Tolstojs sektiererische Unduldsamkeit in bezug auf jene, die anderer Meinung sind als er selbst – wie schon gesagt, wer nicht für das Gute ist, ist dawider. Das Gute ist aggressiv, es impliziert ein Freund-Feind Denken, es behauptet sich im ständigen Kampf gegen das Böse, das es allerdings, wie diesmal nicht Šestov, sondern Ikonnikov bei Grossman ausführt, nie besiegen kann; ganz im Gegenteil: dort, wo das Gute es versucht, „dort sterben Alte und Junge, und das Blut wird vergossen“.
Man kann dahingestellt lassen, inwiefern Šestovs Ausführungen auf Tolstoj wirklich zutreffen (ich glaube übrigens, daß sie das alles in allem tun – abgesehen freilich davon, daß es viele andere Facetten im Tolstojs Schaffen gibt, eben die „künstlerischen“, die weit über dieses Streben, „das Gute auf seine Seite zu ziehen“, hinausgehen, bzw. damit gar oder fast nichts zu tun haben; dieser Umstand war übrigens auch Šestov sicherlich bewußt). Letztendlich sind Tolstoj und seine Ansichten für Šestov nur ein Beispiel, an dem er seine Gedanken entfalten kann; noch mehr ist es für uns jetzt der Fall. Es geht nicht um Tolstoj, sondern um dieses sektiererisch-aggressive „Gute“, das nicht unbedingt und nicht nur im Gewand des Tolstojanertums auftreten muß, sondern auch andere Ausprägungen kennt (das suggeriert Šestov immer wieder), obwohl es in der Lehre Tolstojs tatsächlich eine seiner reinsten Verkörperungen gefunden hat – wodurch übrigens der Umstand, daß Ikonnikov in Grossmans Roman eine Zeitlang Tolstojaner war, um sich von dieser Lehre später abzuwenden, eine für das Verständnis seiner (bzw. Grossmans) Ansichten nicht unerhebliche Bedeutung bekommt.
Was ist also dieses „Gute“, in dessen Namen man seine „Feinde“ (ohne die das „Gute“ eben nicht auskommt) bezwingen und richten kann, in dessen Namen Blut vergossen wird und Millionen sterben müssen? Ikonnikov beginnt seine Abhandlung mit dieser Frage und stellt sie auch immer wieder, ohne sie zu beantworten. Bei Šestov hingegen finden wir eine Antwort. Allerdings liegt diese Antwort nicht auf der Oberfläche und wird auch nicht so klar ausgesprochen, wie ich es hier machen möchte. Denn zur Denkungsart Šestovs gehört eine Art Indirektheit, welche direkte Antworten auf direkte Fragen eigentlich ausschließt, sein Gedanke beschreibt sozusagen nicht eine Gerade, sondern eher die Tangente zu einer vom Leser erwarteten und vorausgesetzten, aber vom Autor selber nie wirklich gezeichneten Geraden, was die Lektüre seiner Texte so spannend macht, gleichzeitig aber auch einen eigentümlichen Eindruck der Verschwommenheit und Unabgeschlossenheit hinterläßt. Erst in der Mitte des Buches macht Šestov die, wie ich meine, entscheidende Aussage. Die Ausführungen Tolstojs zitierend, wonach „unser Leben doch nichts anderes [ist], als das Streben nach dem Guten, d.h. nach Gott“, verwirft Šestov diese Gleichsetzung (Das Gute = Gott) in aller Schärfe: „Wir wissen aus der Bibel, daß Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, das Evangelium bezeichnet Gott als unseren himmlischen Vater. Aber nirgendwo wird in diesen Büchern gesagt, daß das Gute Gott sei.“ (S. 121). Das Gute ist somit ein falscher Gott, ein Pseudogott (das sagt Šestov in dieser Ausdrücklichkeit nicht, aber wir wollen es aussprechen), genauso wie die Religion des Guten eine Pseudoreligion, eine Ersatz- und Täuschungsreligion ist. Diese Pseudoreligion ist ihrem Wesen nach gottlos, was für diesmal auch ausdrücklich ausgesprochen wird: „Solcher Glaube“, schreibt Šestov weiter, „schließt eigentlich den vollständigen Atheismus, den vollständigen Unglauben nicht aus und führt unbedingt zum Streben nach Vernichtung, nach Erdrosselung der anderen Menschen im Namen eines Prinzips, das als verpflichtend anerkannt wird.“ (S. 124). Diese den Atheismus nicht ausschließende Unterschiebung des Guten an die Stelle Gottes, bedeute dessen Vernichtung; der Tolstojsche Satz „Gott ist das Gute“ und der Nietzschesche „Gott ist gestorben“ seien somit „gleichwertig“ (S. 126).
Kehren wir noch einmal zu Tolstoj selbst zurück, so kann man sagen, daß diese gottvernichtende Unterschiebung des Guten an Gottes Stelle ihn (den Prediger und Moralisten Tolstoj) letztendlich zu einem geistigen Wegbereiter des Bolschewismus macht, wenn wir diesen letzteren, in der Tradition übrigens auch des russischen religiös-philosophischen Denkens, eben als eine Pseudoreligion verstehen, die den „entthronten Gott“ und das bekämpfte Christentum durch die eigenen Kulte, die eigenen „heiligen Schriften“ und chilistiastischen Lehren zu ersetzen trachtet.(11) Davon konnte Šestov im Jahre 1900 selbstverständlich nichts wissen. Überhaupt bleibt er unpolitisch; es ist vor allem seine Sprache, seine Wortwahl, mit solchen Ausdrücken wie die soeben zitierten „Vernichtung“ und „Erdrosselung“, welche die politischen Implikationen der von ihm freigelegten Unterschiebung deutlich macht.
Was wird nun aber diesem Götzen des Guten entgegengestellt? Bei Ikonnikov-Grossman ist es die „schlichte menschliche Güte“, jene irrationale, oder, wie Grossman schreibt, unbedachte [bessmyslennaja] Güte, die nicht zwischen Freund und Feind unterscheidet, sondern ihr Mitleid auf alle, unter Umständen auch ohne Rücksicht auf eigene Interessen, ausdehnt.
„Es ist die Güte der Greisin, die dem Gefangenen ein Stück Brot zusteckt, die Güte des Soldaten, der einem verwundeten Feind seine Feldflasche reicht, die Güte der Jugend gegenüber dem Alter, die Güte des Bauern, der einen alten Juden in der Scheune versteckt. Es ist die Güte jener Wächter, die ihre eigene Freiheit aufs Spiel gesetzt haben, um nicht etwa Gesinnungsgenossen, sondern Müttern und Frauen die Briefe ihrer gefangenen Männer und Söhne zu überbringen.“ (Grossman, dt. Übersetzung, S. 428)
Diese Güte ist zwar „machtlos“ – aber gerade in ihrer Machtlosigkeit liegt ihre Stärke, ihre eigene und eigentliche Macht, vor der „die Macht des Bösen schwindet“. Darum ist sie „unbesiegbar“; nicht der Mensch ist machtlos gegenüber dem Bösen, sondern „das mächtige Böse ist machtlos gegenüber dem Menschen“. Mehr noch: „Je einfältiger, unbedachter und hilfloser“ diese Güte ist, „desto mächtiger ist sie.“ Zwar spricht Ikonnikov nur vom „Menschlichen“, nicht vom „Göttlichen“ im Menschen, aber dieser untilgbare menschliche Funke kann durchaus als der göttliche Funke im Menschen interpretiert werden – wobei man sich nicht zuletzt an die Machtlosigkeit Gottes erinnert fühlt, wie sie Nikolaj Berdjaev, nicht zufällig der engste Freund Šestovs, insbesondere in seinem Spätwerk postulierte („Gott hat überhaupt keine Macht, Er hat weniger Macht als ein Polizist“).(12) So ist diese durch die irdische Macht nicht korrumpierte Güte auf eine paradoxe, irrationale Art und Weise mächtig. Sie läßt sich nicht in einem das „Gute“ anstrebenden System (religiöser oder sozialer Art), in einer politischen oder auch in einer Tugendlehre einfangen, vielmehr vergeht sie darin – ziemlich genau wie die von Šestov in fast allen seinen Werken gesuchte irrationale Größe sich nicht in einem rationalen Denksystem einfangen läßt. Nur solange sie völlig spontan, irrational und frei, in der späteren Sprache Šestovs – absurd ist, bleibt sie sich selbst treu, mächtig durch ihre Machtlosigkeit.
Šestov wiederum spricht nirgendwo von der „Güte“; daß aber seine Gedanken, zumindest teilweise, in eine ähnliche Richtung gehen, wird in einem der eindruckvollsten Kapitel seines Buches sichtbar (Kapitel 6), in dem er, etwas unvermittelt, Tolstoj und auch Nietzsche für eine Zeitlang verläßt, um einen Vergleich zwischen Dostoevskijs „Schuld und Sühne“ und Shakespeares „Macbeth“ zu ziehen. Auch hier beschäftigt ihn natürlich das gleiche Thema, jenes (in der letzten Konsequenz – gottvernichtende) „Gute“, das Dostoevskij seiner Meinung nach nicht weniger entschieden „predigt“ als Tolstoj das tut, wobei dieses „Gute“ als eine „Regel“ auftritt, die der Mensch auf keinen Fall verletzen darf, auch wenn er ihre Notwendigkeit nicht einsieht. In einer literaturgeschichtlich und literaturpsychologisch etwas fragwürdigen Gleichsetzung Dostoevskijs mit seinem Helden wird die Geschichte Raskol’nikovs als die Antwort auf die Frage Dostoevskijs dargestellt, wieso andere Menschen das zu tun wagen, was er nicht zu tun wagt, wie können sie die „Regel“ brechen, die er nicht bricht. Das Verbrechen werde für Dostoevskij zum Verbrechen, weil es die „Regel“ verletze; da nun er selber das nicht tue, so sei das „Gute“ auf seiner Seite. Und das sei doch die Hauptsache: Genau wie Tolstoj, behauptet Šestov, strebe Dostoevskij vor allem daran, „sein Recht auf Tugend“ zu beweisen, im Kampf um dieses Recht sei er unerbittlich. Deshalb quäle er auch so grausam sein „Opfer“, sprich seinen Helden, deshalb zwinge er ihn auch, sein Verbrechen einzugestehen und zu bereuen. Von den wirklichen Opfern sei dabei kaum die Rede, sie interessieren Dostoevskij genauso wenig wie sie Raskol’nikov interessieren. Ganz anders bei Shakespeare: Zwar denke Macbeth immer nur an sich selbst und seine Seele, Shakespeare selbst vergesse aber niemals die Opfer des Verbrechens – das bei ihm nicht dadurch zum Verbrechen werde, weil es eine „Regel“ verletze, sondern lediglich und allein weil es anderen Menschen Böses antue. Deshalb brauche er auch seinen Macbeth nicht zu „quälen“ und ihn zum Eingeständnis seiner Schuld zu zwingen. Trotz all seiner Greueltaten bleibe Macbeth für seinen Schöpfer ein Mensch, ein Nächster, dem er auch sein Recht auf Revolte, auf den letzten Rest von Selbstachtung nicht streitig mache. Wer sei nun christlicher, fragt Šestov, der Tugendprediger Dostoevskij oder Shakespeare, der mitfühle ohne zu verdammen?(13)
Das ist nicht die „Güte“ von Ikonnikov, aber es bringt eine gewisse Einstellung ins Spiel, ohne die die Güte nicht auskommt und die vom „Guten“ ausgeschlossen wird. Man kann es christlich nennen, wie Šestov es hier auch tut, obwohl er ja, genau wie Grossman, zum historischen, institutionalisierten Christentum ein durchaus angespanntes Verhältnis hatte. Denn, um es noch einmal zu wiederholen, das, worum sich das Denken Šestovs immer kreist, kann als eine irrationale Größe beschrieben werden, die sich eben deswegen mit den rationalen Mitteln nicht einfangen läßt, sich dem begrifflichen Denken entzieht,(14) genau wie sich die „Güte“ bei Grossman nicht in einem System, einer „Lehre“ einfangen läßt, sich nicht in das „Gute“ umwandeln läßt – da verschwindet sie wieder, wie das nach Meinung Grossmans (oder zumindest Ikonnikovs) bereits im Christentum geschieht:
„Sie, diese unbedachte Güte, ist das Menschliche im Menschen. [ … ] Sie ist stumm und unbedacht, instinktiv und blind. Sobald das Christentum sie in die Lehre der Kirchenväter einzubeziehen versuchte, begann sie zu verblassen; das Korn kehrte in seine Hülse zurück. Sie ist mächtig, diese Güte, solange sie in der Verborgenheit des menschlichen Herzens wohnt und nicht zur Waffe und Ware der Prediger wird, solange ihr Gold nicht zur Münze der Heiligkeit geprägt wird. Sie ist so einfach wie das Leben. Selbst Jesus hat ihr durch seine Worte die Kraft genommen.“ (S. 430-431).
So bleibt es etwas Unfaßbares, etwas mit den „Worten“ (um so mehr mit den „Predigten“) Inkommensurables. Darum sei auch die Geschichte der Menschheit, behauptet Ikonnikov, nicht „die des Kampfes zwischen Gut und Böse, sondern die des Kampfes zwischen dem sogenannten Guten und jenem kleinen Körnchen Menschlichkeit“. Genauso, kann man sagen, führte Šestov einen lebenslangen Kampf gegen rationale Systeme und idealistische (Tugend)lehren, gegen jenes „Gute“, das das Böse braucht und darum hervorbringt, im Namen eines spontanen, „absurden“ Glaubens, der mit dem Ratio immer inkommensurabel bleibt.(15) Zwar hätten die berühmten Worte, mit denen Šestov sein Buch über Tolstoj und Nietzsche beendet – „Man soll das suchen, was höher ist als das Mitleiden, höher als das „Gute“: Mann soll Gott suchen“ (S. 258), – Grossman wohl wenig beeindruckt, erstens weil sie die „Nietzscheanische“ Ablehnung des (mit dem „Guten“ gleichgesetzten) „Mitleids“ ins Spiel bringen, zweitens und vor allem weil ja die hier programmatisch angekündigte „Gottsuche“, wie sie für das Jahrhundertwende typisch war, Grossman nach allem, was wir über ihn wissen, fremd blieb. Tatsache bleibt aber, daß die irrationale Größe, die in beiden Fällen gesucht wird, ob sie nun als Gott oder schlicht als Güte bezeichnet wird, etwas ist, das ihrem Wesen nach aller Rationalisierung und vor allem jeglicher Indienstnahme durch die Beglückungslehren welcher Art auch immer widerstrebt, etwas, das zwar immer wieder durch solche Lehren (durch das „Gute“) für sich beansprucht, profaniert und zugrundegerichtet wird, das aber auch immer wieder aufersteht, auch in jener totalitären Hölle, aus der Vasilij Grossman die Stimme dieser „Güte“ zu uns kommen läßt.
Anmerkungen:
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