TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Februar 2010

Sektion 8.3. Repräsentation von Transformationsprozessen in der Gegenwartsliteratur
Sektionsleiterin | Section Chair: Zalina Mardanova (Vladikavkaz, Nordossetien-Alanien/Russland)

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Die Literatur der „jungen Erzählerinnen“ als Repräsentationsmedium der Erlebnisgesellschaft

Katrin Blumenkamp (Göttingen)

Email: Katrin.Blumenkamp@phil.uni-goettingen.de

 

Die Bezeichnung „junge Erzählerinnen“ wurde im März 1999 von dem Kulturjournalisten Volker Hage für eine Reihe von zeitgenössischen Schriftstellerinnen gebraucht, die er im gleichen Artikel auch „Erzählerfrauen“ und „Literarisches Fräuleinwunder“ genannt hat(1) – unter der letzen Bezeichnung werden viele dieser Autorinnen bis in die heutige Zeit gehandelt. Hage stellt Nadine Barth mit ihrem 1998 erschienenen Debütroman Abgedreht als prototypisch für diese Gruppe von Schriftstellerinnen dar. Am Beispiel dieses Romans soll im Folgenden gezeigt werden, inwiefern die Literatur der „jungen Erzählerinnen“ Repräsentationsmedium der Erlebnisgesellschaft, oder konkreter: Repräsentationsmedium des Selbstverwirklichungsmilieus ist, das Schulze als eines von fünf Erlebnismilieus zur Strukturierung der Gesellschaft einführt.(2)

In Abgedreht berichtet ein heterodiegetischer Erzähler alternierend aus dem Leben von André, Carl, Nikita und Melanie. Die 18 Kapitel tragen Filmtitel als Überschriften und sind in Unterkapitel unterteilt, die wiederum mit Orten in L.A. überschrieben sind. Jedes Unterkapitel ist jeweils einer der vier Hauptfiguren gewidmet. Der Wahr­nehmungshorizont der erlebenden Figur wird nicht überschritten, die Präsentation der Worte und die Präsentation der Gedanken bewegen sich im Bereich des dramatischen Modus und zeugen von einer geringen Mittelbarkeit der Erzählung. Es ist außerdem typisch für Abgedreht, dass Rückwendungen, die für die Handlung wichtige Informationen liefern, als Gedankenrede wiedergegeben werden. Somit wird eine narrative Instanz, die Distanz zum Geschehen schaffen würde, unnötig.

In einem „Vorspann“, dessen einziges Unterkapitel die Überschrift „Filmhaus“ trägt, wird die Handlung von Abgedreht vorweggenommen und die Romanfiguren André, Carl und Nikita skizziert. Neben Figuren und Romanhandlung wird im „Vorspann“ das Referenzmedium Film eingeführt, das zum einen dazu dient, die Hauptfiguren und ihre Lebenswelt zu charakterisieren. Zum anderen sind die zahlreichen Bezüge zum Medium Film – darauf soll im Folgenden näher eingegangen werden – als alltagsästhetische Zeichen im Sinne Schulzes zu interpretieren. Schulze geht davon aus, dass man sich den gesellschaftlichen Milieus durch ästhetische Präferenzen zuwählt.

Mit Irina O. Rajewski wird Intermedialität hier als Forschungsrichtung verstanden, die „sich mit Mediengrenzen überschreitenden Phänomenen [beschäftigt], die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren.“(3) Neben diesem Intermedialitätsbegriff im weiteren Sinne unterscheidet Rajewski im engeren Sinne zwischen den intermedialen Phänomenbereichen „Medien­kombination“, „Medienwechsel“ und „intermediale Bezüge“. Sind die erstgenannten Bereiche an dieser Stelle irrelevant, so sind die intermedialen Bezüge(4) zum Medium Film in Abgedreht Programm.

Bereits bei der Kapitelüberschrift „Vorspann“ handelt es sich um eine explizite Systemerwähnung, da eine Komponente des Referenzsystems Film ausdrücklich genannt wird. Die Ausdrücklichkeit, mit der auf das Referenzmedium Film verwiesen wird, setzt sich im Untertitel „Filmhaus“ und im Gesprächsgegenstand „Drehbuch“ fort. Wie der Vorspann haben auch die Filmtitel, die als Kapitelüberschriften dienen und in Rajewskis Systematik als explizite Systemerwähnungen des Fremdmediums zu identifizieren sind, vorausdeutende Funktion – allerdings nur, wenn der Leser den jeweiligen Film kennt. Greencard, Manche mögen's heiß, Zeit der Zärtlichkeit, Ein Mann für gewisse Stunden, Die Farbe des Geldes, Jung und unschuldig, Ist das Leben nicht schön?, Sex, Lügen & Videotapes, Wege zum Ruhm, Ärger im Paradies, Singles, Der große Frust, Moderne Zeiten, Der Duft der Frauen, Eine Klasse für sich, Dinner um acht, Die zweite Chance, Eine Frage der Ehre– man muss die Filme gesehen haben, um von der Überschrift auf die Handlung des jeweiligen Kapitels schließen zu können. Aus dem Titel allein lässt sich das folgende Geschehen nicht immer ablesen, zum Beispiel gibt der Titel Die Farbe des Geldes keinen Hinweis darauf, dass es zur Rivalität zwischen den Roman-Figuren Farun und Klaus kommen wird – eine Parallelsetzung zur Rivalität zwischen Eddie Felson, gespielt von Paul Newman, und Vincent Lauria, dargestellt von Tom Cruise. Dieses Verfahren – den kundigen Leser zu privilegieren – setzt sich innerhalb der Kapitel fort:

„Farun war unrasiert, lange über den Dreitagesbart hinaus, die Stoppeln schon weich, sie umrahmten seinen Mund, wie bei einem englischen Lord, nein wie Matt Dillon in Singles, Seattle Rock, Grunge, be an outlaw.“(5)

Das Aussehen der Figur Farun und seine Lebenseinstellung erschließen sich nur demjenigen völlig, der den Film Singles gesehen und ein Verständnis von der Philosophie des Grunge Rock hat. Im Grunde handelt es sich um eine kulturelle Codierung, deren Entschlüsselung Eingang zu einer Gemeinschaft, oder, nach Schulze, zu einem Milieu schafft. Der Unkundige kann den Roman nicht in seiner Gesamtheit durchdringen und wird zum Außenseiter.

In einigen Fällen werden die expliziten Systemerwähnungen um simulierende ergänzt. Eine Passage aus dem Unterkapitel „Billardhall“ des Kapitels „Die Farbe des Geldes“ ist dafür ein Beispiel:

„[...] Kleine grüne Vierecke im Teppichmuster, die Tische waren auch Vierecke, braun umrandet, dunkles Holz um dicken Filz. Ein großer Saal mit einer für Los Angeles ungewöhnlich hohen Decke. Eine alte Fabrikhalle mit gewölbter Holzrundung, schmale Galerie mit einer Reihe Grünpflanzen. Ein Ort der Schaukämpfe. Paul Newman als alternder Poolbillardspieler, Tom Cruise mit Holzfällerhemd, das nach amerikanischer Jungensart offen über der Jeans baumelte.“(6)

Die expliziten Systemerwähnungen „Paul Newman“ und „Tom Cruise“ fungieren neben den Überschriften „Die Farbe des Geldes“ und „Billard Hall“, die im Film wichtiger Handlungsort ist, als rezeptionssteuernde Markierungen. Zusammen mit der imitativen Gestaltung des narrativen Diskurses – die Aneinanderreihung von dem, was in der Billardhall zu sehen ist, imitiert die legendäre Kamerafahrt von Michael Ballhaus – wird eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Text und dem Fremdmedium Film nicht nur festgestellt, sondern diskursiv hergestellt.(7) Auch an diesen simulierenden Systemerwähnungen zeigt sich, dass für die Dekodierung ein bestimmtes kulturelles Wissen notwendig ist. Derjenige, der darüber verfügt, fühlt sich einer Gemeinschaft zugehörig. Durch ästhetische Entscheidungen hat er in der Vergangenheit mediale Erfahrungen gemacht, und nun erweist es sich, dass er diese Erfahrungen mit anderen teilt: Mit der Autorin sowie mit der poten­ziellen Zielgruppe des Buches, zu der er offensichtlich gehört.

Bei den bisher genannten Beispielen handelt es sich lediglich um punktuelle Bezugnahmen, auch wenn diese in hoher Frequenz auftreten. In der Struktur von Barths Roman findet sich zusätzlich ein kontinuierlicher Bezug zum Referenz­medium Film, der sich nach Rajewsky als „Systemkontamination qua Translation“ bezeichnen lässt. Der Text konstituiert sich durchgehend in Relation zum fremd­medialen System und macht sich bestimmte filmische Prinzipien zur Bedingung des Erzählens.(8) Die Systemkontamination zwischen kontaktnehmendem Medium Literatur und kontaktgebendem Medium Film ist in Abgedreht struktureller Art. Die Romankonstruktion erinnert an ein filmisches Konstruktionsprinzip wie Robert Altman es in Short Cuts 1993 realisiert hat. Dieser Film zeigt Szenen aus dem Leben von verschiedenen Figuren, die in den Vororten von Los Angeles wohnen. Die Szenen funktionieren wie Puzzleteilchen. Zu Beginn stehen sie noch unverbunden nebeneinander, nach für nach setzen sie sich aber zu einem Gesamtbild zusammen: Ein Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren entspinnt sich. Der Film Short Cuts hat durch den großen Erfolg seine literarische Vorlage, die gleichnamigen Erzählungen Short Cuts. Selected Stories von Raymond Carver, populär gemacht, fungierte also in gewisser Weise als deren Vermittlungstext. Vielen jungen erfolgreichen Schriftstellern der 1990er-Jahre, darunter zum Beispiel Judith Hermann, wird nachgesagt, ihre literarischen Texte seien von denen Carvers beeinflusst. Barth bezieht sich in Abgedreht nur indirekt, über den Vermittlungstext Film, auf Carvers Erzählungen, denn der Roman imitiert die Struktur der filmischen Bearbeitung und nicht die der literarischen Vorlage. Carvers Erzählungen sind in sich abgeschlossen, erst Altman schafft Verbindungen zwischen den einzelnen Geschichten, wie sie auch bei Barth zu finden sind.

In einem Interview, das sich als Bonusmaterial auf der DVD des Filmes befindet, entgegnet der Regisseur Robert Altmann auf die Frage, auf welche Weise sich Short Cuts auf die Gesellschaft in Vororten beziehe:

„Es ist einfach das Leben. Das Dach eines Hauses abnehmen, hineinsehen ... und ein bestimmtes Verhalten sehen. Das Dach wieder draufsetzen, ein anderes Dach abnehmen und dieses Verhalten sehen.“(9)

Das Short Cuts-Prinzip eines „zufälligen Voyeurismus“ hat Barth auf ihren Roman übertragen. Die Reihenfolge, in der der Erzähler von einer Hauptfigur zur nächsten „schwenkt“, folgt keiner Regelmäßigkeit, so als wären die erzählten Geschehnisse aus dem Leben von André, Carl, Melanie und Nikita zufällig gewählt. Um die Geschichte von vier jungen Menschen zu erzählen, die ihr Glück in Los Angeles suchen, hat Nadine Barth auf eine filmische Struktur zurückgegriffen, über die sie durch ihre Medienerfahrung verfügte.

Rajewski geht in ihrer Intermedialitäts-Theorie immer noch von einem kontakt­nehmenden und einem kontaktgebenden Medium aus, also davon, dass man sich zwischen zwei Medien befindet, wobei das eine Medium das andere deutlich dominiert. Der Roman Abgedreht zeigt aber, dass man zunehmend von einer Medienkonvergenz sprechen kann. Um es einmal provokant zu formulieren: Abgedreht ist im Grunde eher Film als Literatur – das hat die Darstellung der verschiedenen filmischen Referenzen gezeigt. Hinzu kommt die Handlung, die in ihrer Trivialität an einen Hollywood-Film erinnert und zudem innerhalb der filmischen Sphäre – es geht um Schauspieler, Kameramänner und Drehbuchschreiber in der Filmhauptstadt L.A. – angesiedelt ist. Trotzdem würde man aufgrund der materiellen Erscheinungsform Buch und der Schriftlichkeit immer noch von Literatur, nicht von Film, sprechen. Ist das noch zeitgemäß? Daran ist zu zweifeln, denn Medien sind heutzutage offenbar nur noch aufgrund ihrer Form unter­scheidbar, das, was damit gemacht wird, ist längst eine Medienkumulation, man denke nur an Bildtelefone, Handys, die als Videokamera dienen, das Internet, in dem man Zeitung liest, dessen Möglichkeiten unbegrenzt scheinen. Für unsere Gesellschaft ist gerade die Auflösung verschiedener Medien symptomatisch, hin zu einer globalen medialen Umgebung.

Die intermedialen Bezüge zum Fremdmedium Film – jetzt besser zu bezeichnen als unterschiedlich ausgestaltete Verweise auf Medienkonvergenz – fungieren in Abgedreht als alltagsäshetische Zeichen, die dem Selbstverwirklichungsmilieu zuzuordnen sind. Durch Verweise auf Erfahrungen mit Konsum und Medien wird Gemeinschaft gestiftet, wobei diese „kulturellen Codierungen“ auf eine ambivalente Weise funktionieren. Durch Identifikation der Leser mit dem von Nadine Barth bereitgestellten Kanon von Filmen zeigt der Leser seine Zugehörigkeit zum Selbstverwirklichungsmilieu. Durch seine Annahme der von Barth gesetzten alltagsästhetischen Zeichen, bestätigt der Leser dann wiederum, dass diese richtig sind und weist dann auch die Autorin als dem Selbstverwirklichungsmilieu zugehörig aus. Damit ist die Literatur der „jungen Erzählerinnen“ einerseits Repräsentations­medium der Erlebnisgesellschaft, zum anderen gestaltet sie diese Erlebnisgesellschaft auch aktiv mit.

Natürlich bestehen die in Abgedreht eingesetzten alltags­ästhetischen Zeichen nicht nur aus Bezügen zum Film, daneben gibt es noch eine Reihe weiterer Aspekte, zum Beispiel Markenprodukte – André raucht Zigaretten der Firma Benson, Melanie trägt grüne Turnschuhe der Firma Superga. Zudem werden typische Handlungen beschrieben, neben Fitnesskult in Form von Rollerblading, Basketball oder Fitnessstudio ist dies vor allem die Cafékultur, die die Romanfiguren pflegen. Es stimmt auch nicht, dass allein die Literatur der „jungen Erzählerinnen“ das Selbstverwirklichungsmilieu repräsentiert und mitgestaltet. Die Musik in Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Soloalbum(10) hat eine ähnliche Funktion wie der Film in Barths Roman – um nur einen männlichen Autor als Beispiel zu nennen. Und auch populäre Sachbücher wie Florian Illies Generation Golf(11) und Katja Kuhlmanns Generation Ally(12) funktionieren ähnlich, sie rekurrieren auf Medienerfahrungen oder Erfahrungen, die in Verbindung mit verschiedenen Markenartikeln stehen.

An dieser Stelle soll aber noch ein Schritt weitergegangen werden, und das, was bisher entlang von Schulzes soziologischer Untersuchung der Erlebnisgesellschaft gezeigt worden ist, auf die Theorie einer anderen wissenschaftlichen Disziplin übertragen werden. Der Mechanismus, dass ästhetische Zeichen die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft markieren, wird auch in neueren historischen Theorien von Generationenbildung vertreten. Lange Zeit machte man überwiegend historische Großereignisse dafür verantwortlich, dass sich Gleichaltrige generationell verbinden. Ulrike Jureit jedoch optiert dafür, Generationengeschichte als Erfahrungsgeschichte zu konzipieren. Es seien ganz offensichtlich nicht mehr historische Zäsuren, sondern lebensweltliche Bezugsgrößen wie ökonomische und soziale Bedingungen, die für die generationelle Verortung als ausschlaggebend empfunden würden. Für einige postheroische Generationsentwürfe, so Jureit weiter, markierten deshalb Konsumgewohnheiten oder Medienereignisse die entscheidenden Differenzerfahrungen.(13) Die Funktion der alltagsästhetischen Zeichen bei Schulze nehmen bei Jureit die „Generationenobjekte“ ein, zu denen eine emotionale Bindung besteht. „[Z]um Generationsobjekt kann nahezu alles werden: Personen, Ereignisse oder alltagskulturelle Phänomene werden zu Objekten gemacht, indem ihnen im Zuge der Vergemeinschaftung eine spezifische Bedeutung zuwächst.“(14)

„Als Kind hatte sie in den Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter allen Anschuldigungen eine unbewegliche Miene entgegengesetzt. Was den Streit regelmäßig eskalieren ließ. Jetzt sag was dazu, rechtfertige dich, bezieh Stellung. Genau dieses Stellung-beziehen-müssen zu allem und jedem stieß ihr sauer auf. Sozialpolitischer Anspruch. Die stundenlangen Diskussionen der 68er, Alptraum ihrer Kindheit. Abgegessene Teller und reden, reden, reden. Probleme der Parteien, Strategien, Ostpolitik. Strauß, Brokdorf, deutscher Herbst.“(15)

In diesem Zitat aus Abgedreht erfolgt eine explizite Abgrenzung von der politischen Elterngeneration, durch die Setzung von Generationsobjekten wird den verworfenen politischen Idealen der Eltern ein Panoptikum der eigenen ästhetischen Generation entgegengesetzt. Am deutlichsten wird dies in Abgedreht anhand des bereitgestellten Kanons an Filmen, den man sich bereits angeeignet haben muss, um sich der Gemeinschaft von Autorin und anderen Lesern zugehörig zu fühlen.

Ulrike Jureit betont aber auch, dass der Generationenbegriff nicht allein ein Erfahrungsbegriff, sondern ebenfalls eine Verarbeitungskategorie sei. Die Aneignung von alltäglichen Erfahrungen vollziehe sich nicht nur als innere Selbstbefragung, sondern als soziale Vergewisserung. Der einzelne wolle wissen, wie andere mit vergleichbaren Erfahrungen umgingen.(16) Eine Reihe von Erfahrungen, die die Protagonisten des Romans machen, besitzt dieses „generationelle Identifikationspotenzial“, wie es hier genannt werden soll. Sie alle haben ihr Land verlassen, um in L.A. ihr Glück in der Filmbranche zu suchen, spielen aber auch mit dem Gedanken wieder aufzubrechen, um etwas Neues zu versuchen. Wenn sie nicht mit einem ihrer Jobs beschäftigt sind, verbringen sie den Großteil ihrer Zeit in Cafés, Kneipen oder auf Partys. Sie haben sich gerade von jemandem getrennt, haben gerade eine neue Partnerschaft begonnen oder befinden sich im Stadium der Suche. Das Verhalten und die Erfahrungen, die die Protagonisten in Abgedreht machen, entspricht dem, was Gerhard Schulze als typisch für das Selbstverwirklichungsmilieu beschreibt: Ein wichtiger Typ dieses Milieus sei die Sozialfigur des Studenten. Auch nach Beendigung des Studiums lebten viele noch über Jahre hinweg studentenähnlich, eine Existenzform, die sich in der Alltagserfahrung durch die Teilnahme an neuer Kulturszene und Kneipenszene, der Rhetorik der Selbstverwirklichung und der Symbolik der unabgeschlossenen Entwicklung – Zeichenwechsel, Ortswechsel, Beziehungswechsel, Karrierewechsel, Einsteigen, Umsteigen, Aussteigen – manifestiere.(17) Vor allem aber ist der Roman aus einer globalen medialen Umgebung heraus entstanden und führt vor, wie die Autorin Nadine Barth die für die heutige Gesellschaft prägende Medienkonvergenz verarbeitet – der Leser kann seine eigenen diesbezüglichen Erfahrungen dann mit denen der Autorin abgleichen. Bezogen auf die Autorin ist der Roman demnach Resultat eines Verarbeitungsprozesses, bezogen auf den Leser gibt er erst Anstoß dazu.

Autoren wie Barth, Kuhlmann, Illies oder Stuckrad-Barre entwerfen bestimmte Generationsvorstellungen, indem sie jeweils einen anderen, beschränkten Zugriff auf dieselben, vielfältigen Konsum- und Medienerfahrungen vornehmen. Die Identifikation der Leser mit diesen unterschiedlichen Vorstellungen bestätigt dann nachträglich, dass diese richtig sind und weist die Autoren damit als Mitglieder der von ihnen mitentworfenen ästhetischen Generation aus. Generationenbildung fungiert somit vor dem Hintergrund eines ausdifferenzierten Systems von Massenmedien als ein Akt von Autorisierung. Es entsteht nicht mehr eine Generation, sondern viele ästhetische Generationen können nebeneinander bestehen. Dies ist dann auch ein entscheidender Unterschied zu Schulzes Erlebnisgesellschaft, in der alle unter 40-Jährigen sich entweder dem Selbstverwirklichungsmilieu oder dem Unterhaltungs­milieu zuwählen.

 


Anmerkungen:

1 Hage, Volker: Ganz schön abgedreht. In: Spiegel, Nr. 12, 22.03.99, S. 244246.
2 Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M.: Campus 2005 (1992).
3 Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen und Basel: A. Francke Verlag 2002, S. 199. Vgl. hierzu auch Wolf, Werner: Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs „The String Quartet“. In: AAA – Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 21/1 (1996), S. 85–116.
4 „Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt [...] oder das semiotische System bzw. bestimmte Subsysteme [...] eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums. ‚Intermedialität‘ wird hier zu einem kommunikativ-semiotischen Begriff, wobei per definitionem immer nur ein Medium [...] in seiner Materialität präsent ist. Spezifikum intermedialer Bezüge ist die Überschreitung von Mediengrenzen. [...]“ (Rajewsky: Intermedialität, S. 199).
5 Barth, Nadine: Abgedreht. München: Manhattan 1998, S. 163.
6 Barth: Abgedreht, S. 75.
7 Vgl. Rajewsky: Intermedialität, S. 94–103, S. 160 und S. 204.
8 Vgl. Rajewsky: Intermedialität, S. 125.
9 Bonusmaterial. Robert Altman und seine Schauspieler über den Film. Hier: Interview mit Robert Altman. In: Altman, Robert: Short Cuts. Mit Tim Robbins, Julianne Moore, Chris Penn, Andie McDowell, Jeniffer Jason Leigh.
10 Stuckrad-Barre, Benjamin: Soloalbum. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998.
11 Illies, Florian: Generation Golf. Eine Inspektion. Berlin: Argon 2000.
12 Kuhlmann, Katja: Generation Ally. Warum es so kompliziert ist, eine Frau zu sein. Frankfurt/M.: Eichborn 2002.
13 Jureit, Ulrike: Generationenforschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 97.
14 Jureit: Generationenforschung, S. 92. Übergreifend spricht Jureit von Generationenobjekten, bezogen auf eine bestimmte Generation von Generationsobjekten.
15 Barth: Abgedreht, S. 165.
16 Jureit: Generationenforschung, S. 128.
17 Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, S. 312f.

8.3. Repräsentation von Transformationsprozessen in der Gegenwartsliteratur

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For quotation purposes:
Katrin Blumenkamp: Die Literatur der „jungen Erzählerinnen“ als Repräsentationsmedium der Erlebnisgesellschaft - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/8-3//8-3_blumenkamp.htm

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