TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr.
Februar 2010

Sektion 8.3.
Repräsentation von Transformationsprozessen in der Gegenwartsliteratur
Sektionsleiterin | Section Chair: Zalina Mardanova (Vladikavkaz, Nordossetien-Alanien/Russland)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Die globalisierte Großstadt als Realität und Alptraum in Thomas Glavinic's
Die Arbeit der Nacht
und Marlene Streeruwitz' Entfernung.

 

Alessandra Schininà (Universität Catania/Ragusa) [BIO]

Email: a.schinina@unict.it

 

Das Leben in der Großstadt war schon immer ein beliebtes Thema der Literatur der Moderne. Auch wenn die deutschsprachige Erzählliteratur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher private und interne Konflikte als große soziale Fresken bevorzugte, blieb der oft als negativ empfundene Einfluß des Stadtlebens stets spürbar. Heute muß der Erzähler des Großstadtlebens auch mit globalen Phänomenen zurechtkommen. Im allgemeinen fragt man sich, ob und wie die Literatur der Gegenwart auf die Medienrevolution, auf die rasant steigende Mobilität von Menschen und weltweitem Waren-, Kapital- und Güteraustausch, auf die Veränderungen des Klimas und die Entwicklungen in der Medizin sowie in der Technologie, reagiert. In dieser Hinsicht sind Thomas Glavinic's Die Arbeit der Nacht (1) und Marlene Streeruwitz' Entfernung.(2) beispielhaft für eine literarische Bearbeitung der Auseinandersetzung des Individuums mit einer von der Globalisierung geprägten Stadterfahrung. Beide 2006 erschienenen Romane zeigen auf unterschiedliche Weise die Odyssee eines Menschen in der heutigen Zeit.

Glavinic verwendet u.a. die Mittel der Sciencefiction- und Horrorliteratur, um das Umherirren seines Protagonisten in einer menschenleeren, aber technisch perfekt funktionierenden Welt wiederzugeben, während Streeruwitz die Selbstbehauptungsversuche und Gedanken einer Frau im chaotischen London vor und nach dem U-Bahnattentat im Sommer 2005 beschreibt. In beiden Fällen sind Orte, oder besser Nicht-Orte der globalen Modernität, wie Flughäfen, Stationen, Hotels, Großmärkte determinierende Schauplätze der Ereignisse. Ähnlich bestimmen typische Objekte der weltweiten Kommunikation, vom Videorecorder zum Handy, teilweise die Handlung selbst. Sogar die Beschäftigung der zwei Protagonisten, der eine Einrichtungsberater bei Glavinic, der andere Kulturmanagerin bei Streeruwitz, weist auf eine Art Leben hin, symbolträchtig für dauernde Vermittlung und Bewegung, aber auch für eine prekäre und oberflächliche Lage. Für beide wird allmählich der Alltag zum Alptraum.

Zu Beginn des Romans Die Arbeit der Nacht bereitet sich Jonas auf einen ganz normalen Tag vor, der vom Erwachen bis hin zum Büro von elektronischen Geräten gekennzeichnet ist, von Handy, Fernsehen, Computer, Radio, Radarkasten, Ampeln. An jenem Morgen geschieht aber etwas Merkwürdiges. Alle Geräte schalten sich ein, jedoch ihre Bildschirme flimmern lediglich, senden keine Bilder, Nachrichten oder Musikprogramme. Bald stellt sich heraus, daß in der ganzen Stadt Wien weder Menschen noch Tiere zu sehen sind. Wie in einer Kafka-Erzählung findet sich Jonas mit der unbegreiflichen Situation eigentlich bald ab. Es kommt ihm z.B. nicht in den Sinn, sich zu fragen, wieso die ganze Energie- und Wasserversorgung weiter funktioniert. Auf der Suche nach Lebewesen beginnt er seine Reise durch die Nicht-Orte der globalen Stadt und Welt.

Als Nicht-Ort bezeichnet der Anthropologe Marc Augé die für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen (Autobahnen, Flughäfen, aber auch die Verkehrsmittel selbst wie Autos, Flugzeuge) so wie Einkaufszentren, Raststationen, Hotelketten, Orte wo sich die einzelnen Menschen anonym und ohne jegliche Bindung zielgerichtet und schnell bewegen(3). Die Nicht-Orte haben keine Geschichte, sind überall gleich, in ihnen funktioniert fast alles automatisch durch elektronische Schalter und Selbstbedienungsmaschinen. Sie werden solitär erlebt, d.h. die Vermittlung zwischen dem Individuum und der Umgebung erfolgt durch auf Bildschirmen erscheinende Texte. Es handelt sich um Hinweise auf eine virtuelle,  dort nicht real präsente Realität (Verkehrsschilder mit Namen von  Städten, Flugdestinationen, Werbeplakate) oder um  Gebrauchsanleitungen, Informationen, Vorschriften. Um zu diesen  Nicht-Orten Zutritt zu erhalten, muß der "Kunde" – denn im Grunde sind  das typische Einrichtungen der Konsumgesellschaft – oft seine Identität beweisen. Im Raum des Nicht-Ortes wird der Zugelassene dann nur in der spezifischen Rolle als Passagier, Kunde, Autofahrer wahrgenommen. Der Raum des Nicht-Ortes läßt keine eigene Identität zu, keine reale Relation zur Umgebung, führt zur Einsamkeit, rein zur Wiederholung mechanischen Verhaltens. Die Beziehung zur Realität ist mittelbar, aber paradoxerweise beziehen sich alle Bilder und Botschaften, die den Einzelnen in den Nicht-Orten überfluten, auf eine durch Medien obsessiv verbreitete Aktualität. Der Passagier oder Kunde macht so die Erfahrung einer "ewigen Gegenwart" und zugleich des Alleinseins mit sich selbst(4). Er identifiziert sich mit dem Idealbild des Verbrauchers und auch in der Fremde findet er sich zurecht, da Autobahnraststätten, Einkaufszentren, Hotelketten, Flughafenhallen überall die gleichen globalverbreiteten Waren anbieten, die gleichen Verhaltensmuster erfordern, die gleichen räumlichen Teilungen vorweisen. Die "Übermoderne", die von der Überfülle der Ereignisse und der des Raumes bestimmt ist, findet daher ihren besten Ausdruck in den Nicht-Orten. Durch diese zirkulieren jedoch Worte und Bilder, die in Orten, d.h. in geschichtlich und sozial definierten Räumen wurzeln, in einem Ineinander von Altem und Neuem. Vor allem das Zusammenkommen von Individuen in den Nicht-Orten bringt dennoch Soziales hervor und kann dergestalt trotz allem Orte erzeugen.

Gerade diese Möglichkeit ist jedoch dem armen, auf sich selbst überlassenen Jonas verwehrt. Er erlebt die typischen Nicht-Orte der Übermoderne, diese Symbole der Globalisierung, als extreme Erfahrung von Einsamkeit, Gewalt und Selbstreferenz, die schließlich zur Selbstvernichtung führen. Um Menschen zu finden geht er zuerst gerade dorthin, wo sich sonst diese am häufigsten versammeln, auf Bahnhöfen und Flughäfen. Hier funktionieren alle technische Einrichtungen, alles ist in Ordnung aber eigentlich sinnlos, denn es findet überhaupt kein Verkehr statt. Es sind jetzt kalte und gespenstische Plätze, in die Jonas, um sich Nahrung und Waren zu verschaffen, meist mit Gewalt sich Zugang verschafft: mit einer Zange zerschlägt er Glasscheiben, plündert Geschäfte, hinterläßt hinter sich heulende Sirenen, in einem Wort Verwüstung. Mit dem Navigator im Auto fährt er zuerst nach Salzburg, nach Slowenen und Ungarn, später nach Deutschland, Frankreich, England, durch den Tunnel, besucht Raststätten, wohnt in Hotels, fährt tausende von Kilometern wie im Rausch. Überall macht er dieselbe trostlose Erfahrung von Einsamkeit. Allmählich steigt auch seine Gewaltätigkeit und er geht bewaffnet mit Messern umher, mit Beilen, sogar einem Gewehr, bricht in fremde Wohnungen ein, stiehlt Autos, hinterläßt jedoch überall Hilfebotschaften. Im Laufe der Zeit fühlt sich Jonas immer mehr bedroht und stellt bei sich zuhause und auf den Straßen Dutzende von Videokameras auf, um zu beobachten, was geschieht, während er schläft. In der Nacht wird er von entsetzlichen Alpträumen gequält, und morgens bemerkt er seltsame körperliche Veränderungen an sich oder verlegte und unbekannte Gegenstände um sich, die ihn (und den Leser?) immer mehr beunruhigen. Es stellt sich heraus, daß er schlafwandelt und schreckliche Dinge anrichtet. Das alte Motiv des Doppelgängers vermischt sich hier mit einer fiktiven Realität, die sich in Videoform kundtut und die Realität zu ersetzen droht. Jonas schaut stundenlang die aufgezeichneten Videos an, als ob, wie in Blow-up, die Wahrheit hier besser als in der Wirklichkeit zum Vorschein kommen könnte. Der "Schläfer", wie Jonas seinen nächtlichen Doppelgänger nennt, spielt mit ihm Katz und Maus, beschädigt seine Videos, versteckt sich, lacht ihn aus, wird mit der Zeit immer gewalttätiger, reißt ihm z.B. die schmerzenden Zähne aus, knebelt ihn, sperrt ihn in den Kofferraum seines Wagens ein. Um dieser Gewalt, um dieser Dr. Jekyll–Mr.Hyde-Dialektik ein Ende zu setzen, stürzt Jonas sich am Schluß vom Stephansdom in die Tiefe.

Im Herumirren des Protagonisten des Romans durch die von Technik und Unmenschlichkeit bestimmten Nicht-Orten vermischen sich auch die historischen Orte Wiens, vom Prater zum Donauturm, vom Zentralfriedhof zum Belvedere. Diese gewinnen aber keine echte Substanz, bleiben nur Zitate im Meer der entfremdenden Nicht-Orte und bieten dem verzweifelten Jonas keinen Schutz. Jonas versucht aber dennoch die Nicht-Orte der Gegenwart mit einzigartigen und bedeutenden Orten zu ersetzen, mit der Erinnerung an die Orte der Kindheit. Da die neue Wohnung des Vaters ihm nicht die gesuchte Geborgenheit vermittelt, transportiert er die alten Möbeln der neuen Wohnung in die alte, um dort die Atmosphäre der Kindheit zu rekonstruieren, um endlich ruhig schlafen zu können. Es gelingt ihm aber nicht. Auch das Aufsuchen des abgelegenen Waldhotels, wo er als Kind mit der Familie die Ferien verbrachte, entpuppt sich als fruchtlos. Auch hier tauchen Doppelgänger, Monstererscheinungen auf und treiben ihn in die Flucht. Dasselbe gilt für die im Keller gefundenen Photos aus seiner Kindheit, der längst verstorbenen Mutter und Großmutter. Sie sollten ihm die eigene Lebensgeschichte und Identität wiederherstellen, werden aber ebenfalls eher zu drohenden Geistern.

Unerträglich und unheimlich wird ihm vor allem die eigene Wohnung. In seinen immer wilder werdenden Streifzügen besucht Jonas ein Apartement am anderen Ende der Stadt, wo er von seinem Fenster aus ein Licht brennen sah. Es handelt sich um eine schlechte Kopie der eigenen Wohnung, in allem gleich, aber abgewetzter. In ihrer Normalität, geschichtslosen Durchschnittlichkeit ist diese banale, aber fremde und unheimliche Wohnung doch die eigene, bezeugt die Selbstentfremdung des Einrichtungsberaters von seiner Umgebung, seine Isolierung in der Welt der Nicht-Orte, die auch seine private Sphäre erobert hat. Auf der Suche nach den Gründen seiner absurden Lage versucht Jonas vergebens die eigene Geschichte, so wie die Weltgeschichte zu verstehen. Er liest immer wieder Zeitungen, aber es ist immer und überall die jeweilige Tageszeitung vom 4. Juli, dem Tag als sein Alptraum begann, in einer ständigen Gegenwart, in der die Aktualität der Nicht-Orte sich auch als Betrug herausstellt. Nur im Haus des Vaters, einem Ort mit Geschichte, ticken noch immer die Uhren. Überall woanders kann Jonas die Zeit nicht mehr präzise bestimmen, wie dies das mehrmalige Versagen seiner nächtlichen Videoprogrammierungen beweist. Nur die Liebessehnsucht zu seiner Lebensgefährtin Marie, einer Hostess, die er vergebens in England sucht, gibt ihm bis zum Schluß einen gewissen Halt und ihre Figur verschmilzt mit den Erinnerungsbildern aus der Kindheit, die den vom Stephansturm Stürzenden zum letzten Mal glücklich machen. Jonas, der Einrichtungsberater, der sich überall auskennt und nirgends Rast findet, der frei über Güter und Räume verfügt, erlebt in extremer Form eine entmenschlichte Welt, in der sich die Orte auflösen, zu Räumen werden, die zu einfachen Passagen degradiert werden, ohne einen Rest von sozialem Gefüge.

Letztlich, so stellen die Anthropologen fest, entwickeln sich die Nicht-Orte der Globalisierung zu Überorten, wo doch ein gewisser sozialer Kontakt stattfindet, obwohl stets im Rahmen eines auf Konsum ausgerichteten Denkens. So werden Einkaufszentren oder Flughäfen sogar zu "Ausflugs- und Aufenthaltsorten", die eine Art Ersatz von städtischer Architektur, städtischen Lebens anbieten, wo Menschen verschiedenster Herkunft zusammenkommen. Der soziale Kontakt erweist sich jedoch vorwiegend als unpersönlich und eher kommerziell und strikt zweckgebundener Natur. Auch die Nicht-Orte bleiben nicht verschont von einer unterschwelligen Gewalt in den menschlichen Beziehungen, die allzuoft bis zum Terrorakt eskaliert. Augé bemerkt wie Flughäfen, Einkaufszentren, Bahnhöfe häufig zum Ziel terroristischer Anschläge gemacht werden, und fragt sich, ob dies nicht geschieht, um die meisten Schäden zu verursachen, sondern auch dadurch, daß der Nicht-Ort das Gegenstück zur Utopie ist: "er existiert, und er beherbergt keinerlei organische Gesellschaft"(5).

Während Die Arbeit der Nacht die Einsamkeit und Geschichtslosigkeit der globalen Großstadt ad absurdum führt, erscheinen im Roman Entfernung. von Streeruwitz diese gewalttätigen und menschenfeindlichen Aspekte der Nicht-Orte. Selma, die Protagonistin, bewegt sich in einer menschenüberfüllten Großstadt wie London, in der nur vorübergehend und oberflächlich menschliche Beziehungen stattfinden. Im Unterschied zu Jonas, der bis zum Schluß an die Möglichkeit einer Rettung durch die Erinnerung glaubt, ist für Selma die Rückehr zum väterlichen Haus von Anfang an ausgeschlossen. Die 49jährige, von ihrem Mann verlassene und in Depressionen und Arbeitsschwierigkeiten steckende Wiener Kulturmanagerin, verläßt im ersten Abschnitt des Romans die elterliche Wohnung, wo sie im ersten Moment Zuflucht gesucht hat, und beginnt ihre Reise durch die globalisierte Welt.

Schon in Wien, auf dem Weg zum Flughafen, beschreibt die Autorin minuziös, wie Selma ganz in den Verkehrssog der Großstadt hineingezogen wird. Ihre Versuche sich zu erinnern, sich zu besinnen, über ihre Lage nachzudenken, bringen sie in ständigen Kontrast mit der "vorgesehenen" Effizienz, mit ihrer Rolle als Kundin, Fahrerin oder Passagierin, die sich schnell und gezielt bewegen soll. Im Verkehrsfluß, beim Parken, im Supermarkt, im Flughafen, im Flugzeug, vor den verschiedenen automatischen Einrichtungen und Kontrollen wirkt sie unbeholfen, von allen Seiten gedrängt. Sie besitzt nicht den "eilige(n) Schritt der welterfahrenen Reisenden. Dieses zielsichere rasche Gehen. Eine Person. Zu Hause auf allen Flughäfen dieser Welt"(6). Als dann die unbehagliche Vergangenheit in der Figur eines verhaßten, jahrelang nicht gesehenen Cousins, der in demselben Flugzeug sitzt, auftaucht, wird die Verwirrung noch stärker: schließlich findet sie ihre boarding card nicht. "Als flöge sie das erste Mal. Als hätte sie keine Routine. Eine Provinzlerin"(7). Die arme Selma fühlt sich immer wieder als Provinzlerin, als jemand der sich im Zentrum der Welt nicht richtig bewegen kann. Sie wurde plötzlich aus der Rolle von der glücklichen Ehefrau, der effizienten Kultureventsorganisatorin verlustigt. Sie hat noch keine neue Identität, fühlt sich völlig verloren in einer Reihe von Nicht-Orten und unter den vielen fremden oder nur anscheinend gekannten Menschen. Ihre zwei Alternativen sind: "Sich in die Flut werfen. Oder sich überfluten lassen"(8). In London kommt sie sich total deplaziert vor: "Sie war eine richtige Provinzlerin. Sie dachte sich immer noch etwas Persönliches in diesen Handlungen. […] Dieser Härte war sie gar nicht gewachsen. Mit ihrer Mittelstandshöflichkeit. Mit ihrer Mittelstandsfreundlichkeit. Lächerlich war sie. […] In einem Land wie England. 2005. Total durchglobalisiert. Sie war ein alien. Ein alien vom Stern der Hinterwäldler"(9).

Auf der Suche nach einer Kooperation mit einem englischen Regisseur für eine Veranstaltung, die sie vielleicht in den Kulturbetrieb wieder integrieren würde, erlebt sie eine Reihe von skurrilen, durch Gewalt und Erniedrigung gekennzeichneten Abenteuern bis hin zur Verwicklung und Verletzung während eines Bombenattentats. Ihre Erfahrung in London ist einerseits realistisch, andererseits grotesk. Selma kennt die Stadt "nur von den U-Bahnstationen aus" und es fehlt ihr ein zusammenhängendes Bild von dieser "Hauptstadt der Härte"(10). So sind, wie in Glavinic, die Monumente der Stadt im Grunde nur Kulissen. In den U-Bahnstationen, in den Zügen, in den Gängen, auf den Rolltreppen, auf den Straßen wird Selma dauernd gedrängt, weggeschoben, sogar beschimpft wegen ihrer Verträumtheit. Sie kann nur Fetzen von Unterhaltungen, von Geschichten der vielen multiethnischen Mitfahrern aufnehmen, alles in dauerndem Fluß.

Gegen die sie überfallende Lähmung versucht Selma Distanz zu nehmen, Entfernung von allem und allen, um sich Klarheit über ihre Lage zu verschaffen, obwohl die Gewalt der Großstadt und die Zudringlichkeit einer unverarbeiteten Vergangenheit, (der Cousin spürt sie auch in London überall auf, um sie zu einem Gentest zu überzeugen, der feststellen soll, ob sie doch Geschwister sind!) sie immer wieder einholt. Langsam wird sie sich bewußt, ein Scheinleben gelebt zu haben. Ein "postmodernes Leben", ein elegant dahinfließendes Leben in einem "Geflecht von horizontalen Beziehungen"(11), ohne Tiefgang, von außen bestimmt, völlig dem Fluß der medialen Bilder folgend. Als sie sich entschließt, nach Wien zurückzukehren und sich vielleicht ihre Identität einfach als eigenständige Frau und geschichtlich als Österreicherin wierderzufinden, wird sie zum Opfer des Weltterrors im U-Bahntunnel. Sie schafft es aber doch, verwundet, zersaust, verrußt aus Trümmern und Rauch auf die Straße hinaufzukommen. Sie entfernt sich vom Ort des Geschehens und ihr verwildeter Anblick erschreckt die Passanten: sie wird als Betrunkene oder Verrückte beschimpft und vertrieben. Die Konsumgesellschaft der Supermärkte und die Fernsehnachrichten, die gierig die Bilder des Attentats aufsaugen, nimmt von ihr keine Notiz und verjagt sie sogar. Sie ist endgültig zum Opfer geworden. Es gibt aber doch noch die Möglichkeit oder die Hoffnung auf menschliche Solidarität und auf menschliches Verständnis. Am Schluß finden wir Selma, endlich lächelnd, im Park, in einem, in ihrem "Ort" der Besinnlichkeit. Hier, zusammen mit einem halbnackten Afrikaner, den sie vor dem allgemeinen Spott gerettet hat, und einem toleranten indisch-englischen Paar, bestaunt sie einen Stein mit einem blauen Stern in der Mitte, der auf der Hand des Afrikaners in der Sonne glitzert, ein Sinnbild für den Sternenhimmel, für eine, wenn auch entfernte, alternative Welt.

Entfernung. und Die Arbeit der Nacht handeln von der widersprüchlichen Beziehung der Menschen zu Zeit und Raum in einer globalisierten Welt. Die Zeit ist von einer unkontrollierbaren Beschleunigung und Überfülle von Ereignissen bestimmt, und der Raum, wird immer mehr nur partiell oder indirekt erlebt, indem man nicht mehr zwischen Realität und hergestellen Bildern unterscheiden kann. Die teilweise schrecklichen, teilweise humoristischen Geschichten von Jonas und Selma, zwei Verlorene in der Großstadt des "dritten Milleniums", zeigen der Versuch Nicht-Orte durch Orten zu ersetzen, in denen man die eigene psychophysische wie historisch-geographische Identität vielleicht wiedergewinnen könnte.

 


Anmerkungen:

1 Th. Glavinic: Die Arbeit der Nacht, Carl Hanser Verlag, München, Wien 2006.
2 M.Streeruwitz: Entfernung., S.Fischer, Frankfurt am Main 2006.
3 M.Augé: Orte und Nicht-Orte, S.Fischer, Frankfurt am Main 1994.
4 Ebenda, S.123.
5 Ebenda, cit S.130-131.
6 M.Streeruwitz: cit S.41.
7 Ebenda, S.77.
8 Ebenda, S.93.
9 Ebenda, S.104 -105.
10 Ebenda, S.144.
11 Ebenda, S. 339.

8.3. Repräsentation von Transformationsprozessen in der Gegenwartsliteratur

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS
 Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Alessandra Schininà: Die globalisierte Großstadt als Realität und Alptraum in Thomas Glavinic's Die Arbeit der Nacht und Marlene Streeruwitz' Entfernung - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/8-3//8-3_schinina.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-02-17