Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | Februar 2010 | |
Sektion 8.9. | Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht Sektionsleiterinnen | Section Chairs: Andrea Horváth und Eszter Pabis (beide: Debrecen) |
„In dieser Heimat bin ich Schwabe”
Literatur als Mittel zur Aufrechterhaltung der ungarndeutschen Identität
in der Erziehung
Margit Daczi (Pte-Igyfk, Szekszárd) [BIO]
Email: daczi@igyfk.pte.hu
Abstract
Die ungarndeutsche Literatur ist ein eigenartiges „Zwischenprodukt” der ungarischen und deutschen Literatur, dessen Bedeutung weder in den zurückliegenden Jahrhunderten, noch heute von keinen bloßen ästhetischen Aspekten beurteilt werden konnte bzw. kann. Die deutsche Sprache, eine der wichtigsten Kommunikationsmedien in Politik, Wirtschaft und Kultur in Europa ist in Ungarn mehr als das: Sie ist die Sprache der größten nationalen Minderheit, und als solche der wichtigste Faktor in der Bewahrung der eigenen Identität einer von der Assimilation immer mehr bedrohten Volksgruppe.
Deutsch als von den Ahnen geerbte Muttersprache am Leben zu halten, dazu gehört sowohl eigene Werke zu schaffen, als auch ein Publikum, das sich angesprochen fühlt, und von dem die Werke gelesen werden. Mit der Förderung dieser Aktivitäten – nämlich der des Lesens und kreativen Schreibens – muss man bereits bei der jüngsten Generation anfangen. Eine Vielfalt von literarischen Gattungen ist in einem Quasi-Lehrbuch (Lies mit, denk mit! Ungarndeutsche Autoren im Unterricht) präsent, in dem die deutschsprachigen Texte nicht nur ästhetische Erlebnisse, sondern auch historische Kenntnisse vermitteln. Studierenden bzw. den jeweiligen LeserInnen soll auf diese Weise geholfen werden, sich mit eigenen Identitätsfragen bzw. mit denen der vorangegangenen Generationen auseinandersetzen zu können. Außerdem bietet sich im DaF-Unterricht Gelegenheit – neben der Erweiterung der Sprachkenntnisse – Vergangenheit und Gegenwart von einem multikulturellen Europa besser zu verstehen.
So eine Bestrebung manifestiert sich im genannten Lehrbuch, adressiert an alle Deutschsprechende und Deutschlerner von den Vorschulkindern bis zu den StudentInnen sowie ihren ErzieherInnen, LehrerInnen und DozentInnen. Es beabsichtigt, die BenutzerInnen nicht nur als Leser, also Empfänger, sondern auch als Pädagogen, also als Sprachvermittler, anzusprechen, und zwar durch eine eigenartige Mischung von traditionellen und neuen Methoden.
Einleitung
Am Anfang des 21. Jahrhunderts findet man kaum ein Land, das nicht von sprachlicher, kultureller Vielfalt geprägt ist. Zu diesen Ländern gehört auch Ungarn, wo seit der Verfassungsmodifizierung im Jahre 1989 bzw. der Verabschiedung des Minderheitengesetzes im Jahre 1993 dreizehn nationale/ethnische Minderheiten registriert sind. Von ihnen ist die zweitgrößte die deutsche Volksgruppe, deren Identität wegen des vorangeschrittenen Assimilationsprozesses nur im Sinne einer Doppelidentität behandelt werden kann. Die Behauptung, dass „ohne Sprache keine nationale Minderheit existiert“ (Erb-Knipf, 2001, 326), bezieht sich natürlich auch auf die Ungarndeutschen. Aber was für eine Rolle spielte das Deutsche als Minderheitensprache im Leben der deutschen Minorität und was für eine Rolle spielt sie heute in Betracht auf die Präsenz des Deutschen als „Weltsprache“ in unserem Land? Wie kann sie samt der von ihr getragenen Kultur den jüngeren Generationen vermittelt werden? Über die Probleme der Deutschen, die als Minderheit in einem anderssprachigen Raum mit einer anderen Kultur leben, gibt es viele Studien. Die vorliegende Arbeit sucht in erster Linie Antworten auf die oben gestellten Fragen, und berichtet über ein Modell, das Sprache und Kultur durch ein heutzutage als veraltet geltendes Medium, durch das Lesen, und zwar durch das Lesen von Werken ungarndeutscher Autoren zu vermitteln versucht.
Deutsch: Sprache der Selbstbestimmung, Sprache der Kommunikation, Prestigesprache
Während bei den Ungarndeutschen die deutsche Sprache – mit der nun die örtlichen Dialekte gemeint werden – bis 1945 nicht nur zur alltäglichen Kommunikation diente, sondern sie war ein Mittel der Selbstbestimmung (die Prestigesprache war und blieb bis zu den 50er / 60er Jahren das Ungarische), wurde sie bis zur Mitte der 70er Jahren praktisch in allen Bereichen des öffentlichen Lebens in immer größerem Maße zurückgedrängt (Das hing natürlich mit der Minderheitenpolitik der „härteren“ und später der „weicheren“ sozialistischen Regime zusammen. Aber auf dieses Thema einzugehen ist nicht die Aufgabe dieses Aufsatzes.) Örtliche Dialekte wurden nur noch im Privatbereich, und von den älteren Generationen gesprochen; im Beruf und überhaupt in der Öffentlichkeit konnte man sich nur mit der ungarischen Sprache durchsetzen. In den 80er, und nach der Wende, in den 90er Jahren erscheint dann als Prestigesprache neben dem Ungarischen auch die deutsche Standardsprache (Erb-Knipf, 2001, 316). Ein prägnantes Beispiel dafür ist eben das auch im Titel des Vortrages zitierte Gedicht von Engelbert Rittinger. Der Autor bekennt sich stolz zu seiner schwäbischen Herkunft – und er tut das in der deutschen Standardsprache.
Zur Zeit befinden sich die Ungarndeutschen im Zustand des allmählichen Sprachwechsels, wo die Sprachkenntnisse vorwiegend vom Alter determiniert sind: Je älter ein Angehöriger einer Minderheit ist, mit desto größerer Wahrscheinlichkeit spricht er die Minderheitensprache. Und im Gegenzug: Je jünger ein Angehöriger ist, desto weniger ist es wahrscheinlich, dass er die Mundart beherrscht (Klein 2004, 78). Ausnahmen gibt es natürlich sowohl bei den älteren, als auch bei den jüngeren Generationen. Da aber das Bedürfnis nach einem Bekenntnis zu zwei Nationen und somit nach der Zweisprachigkeit auch bei den jüngeren Nachkommen bestehen kann, darf man auf die Förderung der Sprachkenntnisse auch bei denjenigen nicht verzichten, die „von Haus aus“ keine oder nur sehr wenig Sprachkenntnisse mitbringen. Natürlich gibt es auch andere, wichtige Einflüsse auf die Kinder und Jugendlichen aus ihrer Umwelt, wie z. B. aus den Medien, doch der Unterricht ist pädagogisch geplant, und schafft so eine gemeinsame Basis, worauf die differenzierten Tätigkeiten der Lehrer und Schüler aufgebaut werden können (Klein 2004, 80). Und was die Ausbildung und Entwicklung der ethnischen Identität betrifft, spielt dabei die Sozialisation eine entscheidende Rolle. Neben (oder statt) der Familie gewinnen staatliche Bildungseinrichtungen als Sozialisationsinstanzen zunehmend an Bedeutung (Gerner 2004, 52).
Deutschsprachige Literatur
Zum wichtigsten Bestandteil der Kultur der Ungarndeutschen – und zum wichtigsten Träger der Sprache – gehört die Literatur. Diese Literatur – nach einem Vierteljahrhundert erzwungenen Schweigens – hat eine existenzielle Bedeutung beim Erhalt der deutschen Minderheit in Ungarn. Außerdem bedeutet die Literatur einer Minderheit sehr oft die einzige Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart (Crystal, 1998).
Die deutschsprachige Literatur in Ungarn musste aber aus den Trümmern neu erweckt werden. Die früher blühende deutschsprachige Kultur Ungarns erreichte in der Zwischenkriegszeit einen Tiefpunkt, dem während des zweiten Weltkrieges und durch die Aussiedlungen ein noch tieferer folgte. Das Prinzip der kollektiven Schuld legte die sowieso dezimierte Literatur lahm (Balogh 2004, 40), die dann nach dem oben bereits erwähnten Vierteljahrhundert Schweigen wieder seine Töne zu suchen begann: In einer kleinen deutschsprachigen Zeitung, der Neuen Zeitung, wurden die Leser mit literarischen Interessen aufgefordert zu schreiben und ihre Werke einzusenden. „»Greift zur Feder!« wurde zur Parole, und bemerkenswerterweise vermehrten sich nicht nur die ersten Versuche, sondern es tauchten auch interessante, emotionale und reife Werke auf. Das erste Ergebnis der Anregungen zum Schreiben zeitigte die Anthologie mit dem Titel Tiefe Wurzeln, die mit den Werken von 13 Autoren den Eindruck eines geradezu regen literarischen Lebens erweckte, obwohl die Schriftsteller noch nicht nach Qualität, sondern erst nach der Sprache und nach dem Thema suchten“ (Balogh 2004, 40).
Der zukunftsträchtige Anfang seitens der Autoren brachte aber notwendigerweise auch Probleme mit – seitens der Empfänger. Wie der oben genannte Autor darauf hinweist: „Obwohl die Dichter und die Leser ihre Muttersprache zurückerobert hatten, konnten die Schriftsteller die breitere deutsche Leserschaft in Ungarn trotzdem nicht erreichen, denn diese hatte sich das Lesen auf Deutsch abgewöhnt“ (Balogh 2004, 42). Dass die Probleme noch größer sind, wird im Weiteren noch erörtert, dennoch muss festgelegt werden: In der Sprachvermittlung kommt dem Literaturunterricht eine bedeutende Aufgabe zu, die man ohne Übertreibung eine Mission nennen kann. Er muss nämlich einerseits die Werke des Mutterlandes, andererseits die eigenen Werke der Minderheit vermitteln. Aber Literatur zu verstehen, zu genießen, überhaupt zum „Literaturkonsumenten“ zu werden, das muss unterrichtet werden.
Herausbildung und Entwicklung der Fähigkeiten in der Textanalyse und Textbildung gehören zum Aufgabenbereich des Literaturunterrichts. Insofern bedeutet Minderheitenliteraturunterricht also die Möglichkeit, Sprachkenntnisse zu vermitteln bzw. zu vertiefen, und durch die Vermittlung von Werten einer anderen Kultur zur Entwicklung der Persönlichkeit und zur Förderung des Identitätsbewusstseins beizutragen. Auf die Verbreitung der Kultur und Literatur der Ungarndeutschen in Ungarn an Schulen und in Schulklassen, in denen Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wird, sollte auch nicht verzichtet werden, denn das gegenseitige Kennenlernen hilft beim Zusammenleben (Klein 2004, 81).
Empirische Forschungen zum Thema Identität der Ungarndeutschen von Zs. Gerner(1) hatten aber zum Ergebnis, dass „...ungarndeutsche Literatur von niemandem regelmäßig gelesen wird. 15 Gymnasiasten und 49 Grundschüler konnten keinen einzigen ungarndeutschen Schriftsteller nennen. Mehr als einen Vertreter der ungarndeutschen Literatur haben nur acht von den 90 Schülern nennen können“ (Gerner 2004, 63).
Als Sprach- und Literaturlehrer macht man jeden Tag die Erfahrung, dass das Lesen als Alltagsbeschäftigung im Leben der Studenten nicht mehr präsent ist. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, aber auf die Belesenheit als Basis kann man heutzutage kaum weitere Kenntnisse bauen. Die Jugendlichen verfügen heutzutage über Informationen anderer Art, genauer gesagt, sie kommen auf eine andere Weise zu Informationen, die nicht unbedingt weniger oder minderwertiger, sondern einfach anders sind als diejenige, welche die früheren Generationen gewöhnt sind, und welche man vom Lesen gewinnen kann. Es wäre zu überlegen, ob es richtig ist, auf etwas zu verzichten, was über Jahrhunderte wichtige Tradition war.
Als wir mit meinen Kolleginnen unser Lehrbuch LIES MIT, DENK MIT! zusammenstellten, wollten wir den oben aufgelisteten wichtigen Aufgaben gerecht werden, das heißt Literatur vermitteln, und zwar Werke von ungarndeutschen Autoren, Sprachkenntnisse fördern, zur Diskussion anregen und dabei Themen angehen, die heutzutage nicht unbedingt zur Allgemeinbildung eines Teenagers gehören. (Wie z. B. religiöse Kenntnisse in einer säkularisierten Umwelt, „wahre Geschichten“ aus der nahen Vergangenheit usw.)
Die Inhalte
Bei der Auswahl der Werke haben wir vor allem pädagogische Aspekte in Betracht gezogen, indem wir nämlich nach Themen suchten, die auch die Jugend von heute ansprechen und so eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft herstellen. Wir fanden auch die Aufnahme von Mundarttexten wichtig. Sie treten überwiegend in den Werken der älteren Autoren häufiger auf. Damit sollte zu einem kleinen Teil zur Mundartpflege der jüngeren Generation beigetragen werden. Außerdem legten wir großen Wert darauf, diese Texte als Querschnitt ungarndeutscher Literatur in den Lehrstoff einzusetzen. Wir haben die ausgewählten Werke um fünf Themenfelder herum gruppiert.
Das Kapitel Zeitfragen befasst sich mit den Problemen der verschiedenen Generationen. Autoren im unterschiedlichsten Lebensalter erinnern sich an ihre Kindheit, an die Zeit, wo sie jung oder noch jünger waren: Manche setzen sich mit dem Problem des Altwerdens auseinander bzw. mit dem Erlebnis, wie sehr sich die Welt um sie herum verändert hat. Im Kapitel Der Weg zu dir haben wir Werke ausgewählt, welche die unterschiedlichsten menschlichen Beziehungen je nach Temperament oder Lebensalter des Autors darstellen. „In dieser Heimat bin ich Schwabe“ – so lautet der Titel eines Gedichtes von E. Rittinger, und er ist gleichzeitig die Überschrift des dritten Kapitels. Kein Zufall, dass dies die zentrale Stelle unter den anderen einnimmt: jahrhundertealtes Deutschtum bewahren in einer nichtdeutschen Heimat. Um diese Situation kreisen die Gedanken in den Werken. Die Autoren der in dieses Kapitel aufgenommenen Werke weisen je nach ihrem Lebensalter bzw. ihrer Mentalität auf die Gefahr hin, welche die Muttersprache und damit die deutsche „Hälfte“ ihrer Doppelidentität bedroht. Das tut auch Valeria Koch, die talentierte und tragisch jung verstorbene zweisprachige Dichterin in ihrem Zweizeiler, der eigentlich aus drei Zeilen besteht. (Text 1.) Der Titel gehört nämlich zum ersten Satz:
Ungarndeutsch
ist das Maß
des tüchtigen Aussterbens
Hier haben wir es mit einem einzigen Satz zu tun, und der ist das Gedicht selbst. Aber was ist das für ein Satz? In der modernen Poesie ist die Unterlassung der Interpunktion keine Seltenheit, und in den wirklich guten Gedichten hat sie immer eine Funktion. Diesmal wird nur das abschließende Satzzeichen „vermisst“, und durch diesen Mangel wird der Leser provoziert, mit den Interpretationsmöglichkeiten zu „spielen“. Was würde ein Ausrufezeichen zur Folge haben? Einen Schrei – vielleicht den der Warnung oder der Verzweiflung? Und ein Punkt? Eine Behauptung, die unwiderruflich ist, denn sie ist der Abschluss eines Gedankenganges. Das Fragezeichen könnte eine Art Hoffnung vermitteln, das Warten auf eine eventuelle, erwünschte Widerrede. Der Satz wird aber in Valeria Kochs Gedicht nicht abgeschlossen, er ist kein Schrei, keine Behauptung, keine Frage, sondern ein abrupt unterbrochener Text. Nach dem Titel konnte der Leser nicht Atem holen, konnte sich nicht räuspern – jetzt kann er das. Und er kann auch über die Interpretationsmöglichkeiten der vier Nomen nachdenken, die das Werk bilden, denn sie sind ziemlich weit. Sieben Worte nur – und ein Kunstwerk, über das es sich in einer Seminarstunde diskutieren lässt. (Die Fragen und Aufgaben zum Text siehe im Anhang).
Neben der Muttersprache sind Glaube und Aberglaube, Bräuche und Traditionen ebenfalls wichtig, um eine Gemeinschaft als Volk zusammenzuhalten und zu bewahren. „Tais is ollas nuar a Hokuspokus“ sagte man dem Großvater ins Gesicht, als er aus der Bibel vorlas. Das taten Leute, die zur gleichen Zeit wie gebannt am Hokuspokus eines entsetzlichen Clowns hingen, welcher der halben Welt zum Verhängnis wurde. In Josef Mikonyas Krähen auf dem Essigbaum lesen wir darüber. (Text 2.) Und wir sehen, wie ein Junge im Spiegel von Glauben und Aberglauben die Welt um sich herum kennen lernt. Die kurze Prosaschrift ist aus losen Erinnerungsstücken zusammengeflochten. Was sie zusammenhält, ist die Figur des Großvaters, der einen Halt, einen fixen Punkt sucht in einer unsicheren Welt, die er nicht immer versteht. Mal findet er ihn in der Natur, deren gewisse Erscheinungen er zu enträtseln glaubt, mal in der Bibel. Ernstgenommen wird er von niemandem. Die Kinder lachen über ihn, die Nachbarn foppen ihn, die Großmutter, die allem Anschein nach nicht viel für Glauben und Bibel übrig hat, murmelt, wenn er daraus vorliest: „Keah, hea schon amoi auf! Les fia di!“ Der erwachsene Erzähler hütet sich vor Kommentaren, er berichtet nur. Um den kleinen Jungen herum ist die Welt voll von Prophezeiungen: Die Krähen sagen den Regen voraus, die Eule einen Todesfall, die Bibel den Weltuntergang. „Ollas nua a Hokuspokus“ – und selbst die „klugen“ Erwachsenen können nicht entscheiden, worüber sie lachen und welcher Aussage sie Glauben schenken sollten. Und ohne einen festen Halt fallen viele einem Hokuspokus zum Opfer, den sie für den gesuchten fixen Punkt gehalten hatten – den Hitlerschen Ideen. (Den Text selbst und die Fragen und Aufgaben zum Text siehe im Anhang).
Eine Auswahl geeigneter Gedichte für Vorschul- und Schulkinder ist im Kapitel Der Kindheit Sparherdwärme zu finden. Als wichtigste Grundvoraussetzung gilt hier die Sicherung der Freude am Lernen. Die Kinder sollten die literarischen Texte nicht im herkömmlichen Sinne eines Deutschunterrichts auffassen, sondern als Auflockerung der Stunde, Worte, die mit ihrem Rhythmus und Klang verzaubern können, mit denen man sich auch zu Hause befassen kann. Betont werden sollte also die Verbindung zur Wirklichkeit, die aus dem Klassenzimmer ins Freie oder zu anderen Aufenthaltsplätzen der Kinder hinausführt, wodurch auch die Eltern und Großeltern eine Rolle im schulischen Leben ihrer Kinder spielen können (Klein 2004, 82). Josef Michaelis’ Tierkonzert ist beispielsweise sowohl für die Vorschulkinder, als auch für die älteren Schüler geeignet, um sie mit dem Klang des Deutschen – ob es Muttersprache oder Fremdsprache für die Kinder ist – vertraut zu machen. (Text 3.)
Aufgabentypologie
Wir beabsichtigten mit Hilfe von grammatischen, lexikalischen, stilistischen Aufgaben bzw. Fragen, die zum Nach- und Weiterdenken anhalten, die Sprachkenntnisse der Lernenden zu erweitern, und ihre Sprech-, Schreib- und Lesefertigkeit zu fördern. Dementsprechend gibt es im Buch unter anderen folgende Aufgabentypen: Die Nachforschung zum Thema ist für die Lernenden gedacht, damit diese sich – im Selbststudium – mit entsprechenden inhaltlichen, grammatischen Kenntnissen, die zur Beantwortung der gestellten Fragen wichtig sind, vertraut machen. Bei den grammatischen Aufgaben war es nicht unsere Absicht, alle Bereiche der Grammatik zu umfassen, sondern nur auf einzelne Schwerpunkte einzugehen. Beim Wortschatz suchten wir diejenigen Wörter heraus, die unseres Erachtens den StudentInnen und SchülerInnen unbekannt bzw. zum Leseverstehen und Diskussion unentbehrlich sind. Die Diskussionsaufgaben sollen die Kommunikationsfähigkeit fördern, die durch eine im Anhang angeführte Redemittelsammlung – ausgewählt nach dem Aspekt der Wichtigkeit bei der Diskurssteuerung – effektiver gemacht werden kann. Bei der Beantwortung einiger Fragen gibt es Überlappungen. Es werden Kenntnisse und Ideen aus eventuell zwei Bereichen (z. B. Grammatik – Stilistik, Leseverstehen – Stilistik) gefordert. In diesen Fällen konnten und wollten wir die Aufgabentypen nicht voneinander trennen. Da das letzte Kapitel Der Kindheit Sparherdwärme in erster Linie in die Hände der ErzieherInnen und LehrerInnen gehört, haben wir hier unsere Ideen zur Textbearbeitung nicht direkt in Form von Anweisungen formuliert (Daczi-Klein-Zrínyi 2002, 6).
Fazit
Nach fünf Jahren Gebrauch haben wir mit dem Buch im deutschsprachigen Nationalitätenunterricht überwiegend positive Erfahrungen gemacht. Es hat sich bewiesen, dass mit Hilfe von literarischen Texten trockene Lehrbuchkenntnisse vom Bereich der Geschichte, der Nationalitätenkunde effektiver vermittelt werden können. Themen, die motivieren, können die Assoziationsfähigkeit fördern, können zum Nach- und Weiterdenken anhalten. Wenn die Basis nicht bloß ein „authentischer Text“ ist, sondern durch ihn ein wahres ästhetisches Erlebnis zustande gekommen ist, fällt es einem leichter, sich sogar grammatische Regeln anzueignen. Die Diversität der Ziele, die der Nationalitätenunterricht zu erreichen anstrebt, ist von Alfred Manz treffend zusammengefasst worden: „Die Identität (...) ist der Punkt, an den sich der Unterricht anknüpfen kann. Neben der singenden, tanzenden Kulturpflege gehören zu einem gesunden Identitätsbewusstsein noch viele Elemente wie z. B. Kenntnisse über die eigene Geschichte, politisches Engagement oder auch künstlerische, literarische Tätigkeit. In dieser Hinsicht sind Schule und Literatur aufeinander angewiesen, denn einerseits können die Werke ungarndeutscher Autoren zum Kennenlernen der Minderheitenproblematik beitragen und so die Identität stärken. Andererseits bilden die Schüler einen großen Teil des Publikums und eventuell Nachwuchs dieser Literatur“(Manz 2004, 103).
Literatur
ANHANG
Text 1.
Valeria Koch
Ungarndeutsch
ist das Maß
des tüchtigen Aussterbens
Nachforschung zum Thema
Fragen und Aufgaben zum Text
Leseverstehen
Grammatik – Stilistik
In der modernen Poesie sind Texte ohne Interpunktion keine Seltenheit. Die Funktion der einzelnen Interpunktionszeichen ist bekannt. Wiederholen Sie die Regeln und berichten Sie in der Kursgruppe über Ihre Kenntnisse.
Welche Zeichen – und mit welchem inhaltlichen, stilistischen „Ergebnis” könnten Ihrer Meinung nach am Ende des Textes stehen?
Erklären Sie nun, was der Mangel jeglicher Interpunktionszeichen zur Folge hat.
Sprechen – Schreiben
Vergleichen Sie das obige Gedicht nicht nur dem Inhalt, sondern auch der Form nach mit dem von J. Michaelis’ Agonie sowie Branauer Schwäbin. Ergänzen Sie Ihre Erörterung bzw. das Kurzreferat mit Ihrer eigenen Meinung über das Thema „Minderheiten im Lande der Mehrheitsnation“.
Josef Michaelis
Branauer Schwäbin
Mit ihrer Enkelin Spricht sie Ungarisch Deutsch Mit ihrem Hund, ihrer Katze, mit Fotos, ihrem Gebetbuch |
ihren Verstorbenen, mit sich selbst Bald, im Kleindorf als Letzte mit Gott |
Text 2.
Josef Mikonya: Krähen auf dem Essigbaum
Der erste Buchstabe, den ich kennen gelernt habe, bevor ich in die Schule ging, das war das große T. Mein Großvater hatte ein dickes Buch mit dem Titel ÚJTESTAMENTUM (Das Neue Testament). Ich dachte, das T müsste ein Kreuz sein, von dem der obere Teil fehlt. Der Opa erklärte mir, dass es kein gestutztes Kreuz, sondern ein Buchstabe ist, den man T nennt.
Sonntags nach dem Mittagessen und an Winterabenden las der Großvater seiner Familie aus der Bibel vor. Lesen und schreiben konnte er nur ungarisch. Er war slowakischer Nationalität. Seine Eltern hatte er verloren, als er sechs Jahre alt war. So wanderte er von Dorf zu Dorf, von Bauernhof zu Bauernhof. Außer fleißig und folgsam musste ein Knecht auch religiös sein; das forderten die Bauern. Auch bei den Priestern diente er. Die Bibel hatte er sich irgendwo verschafft. Mit ihrer Hilfe brachte er sich mühsam Lesen und Schreiben selber bei.
Las der Großvater aus der Bibel vor, mussten alle schweigen. Oft hob er dabei bedeutungsvoll den Zeigefinger und zitierte die Meinung dieses oder jenes Propheten.
Wir Kinder saßen mäusestill auf der Bank, ohne zu verstehen, was da der Großvater vorlas. Die Großmutter murmelte manchmal: “Keah, hea schon amoi auf! Tais ham ma jo schon hundatmoi g’heat... Les fia di!“ Der Großvater schob seine Brille auf die Nasenspitze, schaute seine Frau verblüfft an, dann las er still für sich weiter.
Noch eine merkwürdige Eigenschaft hatte Großvater. Er brauchte auf dem Hotter keine Uhr; vom Stand der Sonne konnte er die genaue Zeit feststellen. Das erlernte er schon als Hirtenknabe auf der Weide. Dort enträtselte er auch die Natur, die Vögel und die Tiere. Über eine seiner Gewohnheiten mussten wir oft lachen. Wenn er morgens aus dem Schlaf erwacht war, schaute er zuallererst zum Fenster hinaus. Durch das Fenster sah man die Krone des Essigbaumes, der auf dem alten Friedhof stand. Der Großvater war davon überzeugt: Wenn sich die Krähen auf dem Essigbaum versammeln, dann ändert sich das Wetter. Dessen war er so sicher, dass er oftmals am Morgen die geplante Arbeit auf den nächsten Tag oder sogar auf die nächste Woche aufschob. „Na, wos hob i ksogt?!“ meinte er triumphierend, wenn es wirklich zufällig regnete. Hatte er sich geirrt, verspottete ihn die Großmutter: „Teini Taaga (Krähen) ham di owa tiesmoi v’fiat“. Dennoch ließ sich der Großvater nicht von seiner wunderlichen Gewohnheit abbringen. Weil er aber wusste, dass man ihn nicht ernst nahm, beobachtete er seinen Krahenbaum viel öfter und in aller Heimlichkeit. Er hoffte, seine Voraussagen demnächst treffsicherer an den Mann zu bringen. Aber die Nachbarn foppten ihn weiter: „Na, Taoni, wos prophezeien denn die Taaga?? Regen oda Schnee?“ „An Dreck!“ antwortete er brummig.
Der geheimnisvolle Essigbaum beflügelte auch meine Phantasie. Abends nahm ihn die Eule in Besitz. „Kummit! Kummit!“ klang es dann schauerlich aus seinem Geäst. „Heast“, sagte meine Mutter, „ea schreit schon wieda“. Starb jemand in den nächsten Tagen, behauptete man: der Totenvogel hätte es angezeigt.
Meine Großmutter starb im Jahre 1938. Nach ihrem Tod fand der Großvater nicht mehr seinen rechten Platz. Ruhelos war er ständig unterwegs. Entweder ging er zu seiner Tochter, die im Nachbardorf verheiratet war, oder er besuchte die Verwandten in seinem Heimatdorf.
Der zweite Weltkrieg stand vor der Tür. Das Durcheinander in den Köpfen war schlimm. Oft kamen Fremde ins Dorf. Man verwirrrte die Leute mit den Hitlerschen Ideen. Manche wurden völlig verrückt: „So an Mann bräucha wia. Tea wiad Ordnung mocha“.
Zuflucht fand mein Großvater in dieser Zeit bei Gott. Sonntags nahm er seine Bibel, ging zu Bekannten und las ihnen vor. Er hoffte, Gott möge die Leute auf den richtigen Weg bringen. Aus Höflichkeit hörte man ihm zu. Mitunter kam es aber auch vor, dass ihm ins Gesicht gesagt wurde: „Tais is ollas nua a Hokuspokus“. Kaum jemand nahm das Bemühen des Großvaters ernst: „Wos wull tenn tea oidi Schlowak mit seine Piwü?!“
Inzwischen hatte das barbarische Treiben des Krieges auch Ungarn erreicht. Wer beachtete noch die Mahnungen der biblischen Propheten? Die Leute erkannten zu spät, dass man sie verführt hatte. „Tais woa ollas tie Strof Gottes!“ sagte mein Großvater, als der Krieg zu Ende ging. Die Welt interessierte ihn gar nicht mehr. Er vertiefte sich völlig im Glauben. Kurz vor seinem Tod stand ich vor seinem Sterbebett. Reden konnte er nicht mehr. Sein Blick wanderte in der Stube umher. An einem Punkt hielt er inne. Mir schien, als hätte er den Essigbaum gesucht, der schon längst verschwunden war. Er wollte vielleicht noch wissen, was für ein Wetter der nächste Tag verspricht.
Nachforschung zum Thema
Was ist die Bibel? Das Neue Testament? Suchen Sie in einer Luther-Bibel nach, wie die einzelnen Bücher, die Propheten, die Verfasser des Alten und des Neuen Testaments auf Deutsch heißen.
Fragen und Aufgaben zum Text
Leseverstehen – Wortschatz
Religiös, Prophet, prophezeien, Totenvogel, in aller Heimlichkeit, Zuflucht, Hokuspokus
1.
2.
Was ist Ordnung? – Was ist Chaos? – Was ist Freiheit? – Wer bestimmt das alles? Soll das alles bestimmt werden? Wenn ja, von wem?
Text 3.
Josef Michaelis: Tierkonzert
Grillen zirpen, Käfer surren,
Igel schnaufen, Tauben gurren,
Ferkel quietschen, Hahne krähen,
Schweine grunzen, Schafe bähen
Mäuse quieken, Enten schnattern,
Frösche quaken, Störche klappern,
Hirsche röhren, Mücken geigen,
Pferde wiehern, Drosseln pfeifen,
Kühe muhen, Hunde knurren,
Affen schwatzen, Katzen schnurren,
Falken schreien, Ziegen meckern,
Spatzen schilpen, Lerchen schmettern,
Sprosser schlagen, Bienen summen,
Eulen heulen, Bären brummen –
Ein Esel wirkt als Dirigent,
er schaut aufs Noten-Pergament,
der Chor stimmt so von Zeit zu Zeit,
wenn Meister Langohr IA schreit.
Ideen zur Textbearbeitung
Wortschatz
Mit Hilfe von Wortkarten und Bildern werden die unbekannten Tiernamen erläutert. Die Kinder können diese an der Tafel einander zuordnen, miteinander verbinden, nach gegebenen Gesichtspunkten gruppieren und sie beschreiben. Danach werden die lautnachahmenden Wörter den passenden Tieren zugeordnet, dann neu gemischt, die Paare gesucht oder ein Tier gezeigt und das dazu passende Verb gesagt usw.
Grammatik
Die Kinder bilden Sätze mit Hilfe von Tiernamen und aus den schon zugeordneten lautnachahmenden Verben in Singular und im Plural. z. B: Die Grillen zirpen. Die Grille zirpt. Die Arbeit kann auch in der Klasse zwischen den Kindern aufgeteilt werden, z. B: Gruppenarbeit.
SprechenDie Aufmerksamkeit der Kinder sollte auch auf das lustige Ende des Gedichts gelenkt und nach ihrer Meinung über das Orchester gefragt werden. z. B.: Wie spielen die Tiere? Würdet ihr gerne zuhören? Was für eine Musik mögt ihr? Spielt jemand von euch ein Instrument?
AusspracheEinige Zeilen, Wörter mit vielen ähnlichen Buchstaben eignen sich auch gut als Zungenbrecher z. B.: surren, gurren, knurren, schnurren, summen, brummen.
Spaß, SpielDie Kinder können die Tiere nachahmen, sogar selbst ein Orchester bilden.
Aufgaben für ältere Schüler
Grammatik
Die Schüler sollen
Eule | |||
Schakale, Wolf, usw | |||
heulen |
Sirene | ||
Mensch (‚weinen’) | |||
muhen – Kuh | |||
Bienen | |||
summen |
Wasserleitung | ||
Mensch (z. B. Mutti; eine Melodie beim Kochen) |
Anmerkungen:
1 Die Befragungen erfolgten in Schulen mit zweisprachigem Unterricht, wo Deutsch als Nationalitätensprache unterrichtet wird. Die eine Zielgruppe umfasste 40 Gymnasiasten aus zwei Fünfkirchner Gymnasien, die andere 90 Schüler aus neun Branauer Grundschulen (Gerner 2004, 53).
8.9. Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht
Sektionsgruppen| Section Groups| Groupes de sections
Inhalt | Table of Contents | Contenu 17 Nr. |
Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-02-18