TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 8.9. Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht
Sektionsleiterinnen | Section Chairs: Andrea Horváth und Eszter Pabis (beide: Debrecen)

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Die identitätsstiftende Auswirkung des Kaisermythos
in Joseph Roths Roman Radetzkymarsch

Izabell Gaal (Universität Debrecen, Ungarn) [BIO]

Email: izabella_gaal@yahoo.com

 

In meiner Forschungsarbeit beschäftige ich mich mit der Stiftung und dem Verlust der männlichen Identität der Repräsentanten der Offizier- bzw. Beamtenschicht d.h. Joseph Trotta, Franz Trotta und Carl Joseph Trotta in Joseph Roths Roman Radetzkymarsch. Das Ziel dieser Arbeit ist es nachzuweisen, wie die Protagonisten von sich in Mythen verkörpernden Machtverhältnissen beeinflusst werden - Machtverhältnisse werden im Foucaultschen Sinn verstanden -; und in welchen Diskursen sie erscheinen. Mythen können nämlich nicht nur von Narrativen, sondern auch von Porträts und von Ereignissen vermittelt werden.

 

Mythos

Im Roman werden zwei Mythen beschrieben, der des Kaisers Franz Joseph und der des Helden von Solferino. Diesmal wird der Diskurs des Kaisermythos erörtert. Ich halte es aber für sinnvoll zu klären, in welchem Sinn der Mythosbegriff angewendet wird. Zahlreiche Definitionen des Mythos sind bekannt. Das Wort „Mythos“ ist im Griechischen ein Synonym für „Wort” als ein ”noch nicht ans Licht der Wahrheit gezogenes Wort oder: Fabel, die vom Ritual (in dem sie gründet) nicht abgespalten ist.”(1) (S. 17). Auf Grund dieser Definition kann der Kaisermythos nicht dekonstruiert werden. In der Neuzeit hat der Begriff einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren. Es ist vielleicht weiser, der Klassifizierung von Kerényi zu folgen. Er klassifiziert die Mythen auf Grund ihrer Entstehung und ihres Zwecks. So kann man zwei Hauptgruppen von Mythen unterscheiden: Die eine besteht aus religionsgeschichtlichen Mythen, die keine Erfindungen, sondern Erzählungen sind und eine Art Spontaneität aufweisen und Gegenwärtiges mit Vergangenem verbinden. Die andere besteht aus politischen Mythen, die demgegenüber absichtlich gebildet werden, um gewisse politische Zwecke zu fördern. Kerényi hebt zwei Merkmale des Mythos hervor, d.h. dass er der Wahrheit nicht entspricht und dass er ein Instrument ist.

Die beiden Gruppen sind einander ähnlich, indem sie Anspruch auf Wahrheit erheben, deren Forderungen sie aber nicht entsprechen. Sie besitzen weiterhin auch einen funktionalen Wert(2). (S.236.) Glück formuliert dasselbe folgendermaβen:

„1. Mythos ist eine Erzählung von Göttern und Geschehnissen aus vorgeschichtlicher Zeit. 2. Mythos bedeutet Glorifizierung und Verklärung von Personen, Sachen oder Begebenheiten mit stark symbolischem Wert und legendärem Charakter.”(3) (S.8)

Die letztere Gruppe von Mythen wird von Holub-Eitelberger Ersatzmythen genannt, die politische Interessen verwirklichen(4). (S. 36) Zu dieser Gruppe kann die Auffassung von Biricz gezählt werden, er postuliert nämlich folgendes:

„Als traditionelle Erzählung bezeichnet der Mythos eine bedeutsame, überindividuelle und kollektiv wichtige Wirklichkeit. Solche Wirklichkeiten können soziale Ordnungen, Institutionen sowie Ansprüche von Familien, Clan, Stadt oder Stamm sein.”(5) (S. 10)

Sowohl der religionsgeschichtliche Mythos, als auch der politische Mythos fördern das Leben der Gemeinschaft. Beide sind Ursprungserzählungen.(6) (S. 6) Im Falle des Kaisermythos wird das in der Gottesgnade deutlich. Aber man kann z.B. Mussolini, der als Gottgesandter gilt,(7) (S. 251) oder den Mythos der Überlegenheit der „blauäugig-blonden Rasse” erwähnen, der die Herrschaft der Deutschen über allen Völkern legitimiert.

Der Mythos ist eine symbolische Ausdrucksform. Sperber (1975) postuliert am Beispiel des Kreuzes in seiner Arbeit Über Symbolik, dass „symbolische Interpretationen durchaus von rituellen Verrichtungen oder gesellschaftlichen Zeremonien her motiviert worden sein können.”(8) Der Mythos hat deshalb eine stabilisierende und tröstende Funktion. „Myths give men ’something to hold to’” schreibt Kluckhohn(9) (1971), weil sie ein gemeinsames Lebensgefühl bewirken. Dasselbe beschreibt Musil folgendermaßen: „der Mensch strebt nach einem Zustand, der den Gefühlen Halt gibt, der sie aus sich erneuert.” (10)(Musil, 1980) Nach Norbert Bolz stellt der Mythos „die Integration des Subjekts ins symbolische System paradigmatisch dar.”, demonstriert also „seine gesellschaftliche Verwurzelung”(11) (S.483-484)

Roland Barthes’ semiologische Argumentation führt zu einem Mythos-Begriff, der zunächst nichts mit dem Mythos im herkömmlichen Sinn zu tun hat. Er nähert sich der Interpretation des Mythos aus einem völlig anderen Gesichtspunkt an. In seinem Buch „Mythen des Alltags“ untersucht er den modernen Mythos als ein semiologisches System, „Der Mythos ist [nämlich]eine Sprache“ (12)(S.7). Seiner Meinung nach vermittelt der Mythos „eine Botschaft” (14)(S.85), wobei es darum geht, wie sie dargestellt wird.(13) (S.85) Der Mythos ist eine Aussage, die sich auf einer historischen Basis erhebt, aber

„die konkrete Geschichtlichkeit wird im Mythos durch eine unbestimmte, unbegrenzte Assoziationskette ersetzt: dem Geschichtlichen wird durch das Verfahren der Mythisierung der Anschein der unabänderlichen Naturhaftigkeit gegeben.“ (15)(S. 7.)

Seine Botschaft kann nicht nur mündlich sein, sondern kann durch Photos, Bilder, Filme, Reklame usw. vermittelt werden.(16) (S. 96) So muss der Mythos nicht nur ein Text sein, sondern kann z.B. auch ein Bild, - im Falle des Kaisermythos ein Porträt - sein, das eine Bedeutung vermittelt.

Im Falle des Kaisermythos handelt es sich um einen Ersatzmythos, in welchem versucht wird, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, die Identifizierung der Menschen mit der Monarchie zu entwickeln und die Identität der Reichsbürger zu fördern. Diese Ziele werden durch unterschiedliche Diskurse wie der Kaiser als oberster Kriegsherr, der Tagesablauf des Kaisers, das Porträt und Allgegenwart des Kaisers, Bestätigung der kaiserlichen Majestät in Zeremonien, der Kaiser als Landesvater zu Ausdruck gebracht.

 

Der Kaisermythos

Im Bewusstsein der Völker der Monarchie lebt ein Idealbild von den Habsburgern. Es war allbekannt, dass die Kaiser aus Gottes Gnade regieren, und dass ihre Führungsrolle im «Heiligen Römischen Reich deutscher Nation» verankert ist. Auch Kaiser Franz Joseph hat ein Sendungsbewusstsein und ist von seiner Auserwähltheit überzeugt. Alle wissen, dass er aus Gottes Gnade regiert, dass er wie ein Vater für die Nationen der Monarchie und besonders für seine Soldaten ist. Woher diese Kenntnis? Eine „Image-Kampagne” findet statt. Münzen werden in Umlauf gebracht, Kaiserporträts werden gemahlt, Repräsentationsbauten werden errichtet.(17) (S. 122) Mit der Hilfe von „Berufshistorikern” „avancierte gerade das Schulbuch zur österreichischen «Ruhmeshalle» der Macht.”(18)(S.2) Aber auch belletristische Werke unterstützen die Idee der Stabilität der Monarchie, wofür die Person des Kaisers bürgt.(19) (S. 35). Der Kaiser wird öffentlich in verschiedenen Rollen präsentiert. Er erscheint oft im Kreise des Volkes und ist bei den Audienzen ansprechbar. Er unternimmt Reisen und besucht auch die entferntest liegenden Teile der Monarchie. Es wird von seinen Tätigkeiten regelmäßig berichtet. Die Kinder eignen sich das Kaiserbild, schon in jungen Jahren in den kaisertreuen Familien ein; später wird es in der Schule verstärkt.

Über ähnliche Verfahren der Mythosbildung schreibt Petersen in seiner Arbeit über Mussolini. Auch bei dem Duce-Kult war die All-Präsenz sehr wichtig, so hatte u.a. das Bild von Mussolini eine zentrale Rolle. Die Erfolge des Regimes erschienen in den Medien als Werk des Duce. Er wurde als Vorbild, Erzieher, Vater der ganzen Nation und als Erlöser und Retter Italiens dargestellt. Auch seine persönlichen Eigenschaften waren dem des Kaisers ähnlich: er war unermüdlich, sportlich und von allen ansprechbar.(20) (S. 248-251)

Untersuchen wir jetzt die verschiedenen Erscheinungsformen des Kaisermythos im Roman Radetzkymarsch und deren Einfluss auf die Protagonisten!

 

Der Kaiser als oberster Kriegsherr

Der junge Kaiser erscheint ganz am Anfang des Buches, in der Schlacht bei Solferino, in der Rolle des obersten Kriegsherrn. Aus der Geschichte weiß man, dass er hier als Feldherr versagte und zur Niederlage beitrug. Er war kein begabter Stratege, es mangelte ihm an Ausbildung und an Kompetenz.(21) (S. 141) Die Geschichtsschreibung versuchte die Tatsachen zu verschönern und hat die Niederlage damit erklärt, dass der Kaiser über ungenügende Informationen verfügte.(22) (S.388) Der Kaiser erläßt den folgenden Armeebefehl an seine Truppen:

„Indem ich heute den unmittelbaren Oberbefehl über Meine, gegen den Feind stehende Armee antrete, will Ich an der Spitze Meiner braven Truppen den Kampf fortsetzen, den Österreich für seine Ehre und sein gutes Recht aufzunehmen gezwungen war. – Soldaten! Eure Ergebenheit für Mich, eure so glänzend bewiesene Tapferkeit bürgen mir dafür, dass ihr unter Meiner Führung jene Erfolge erringen werdet, die das Vaterland von euch erwartet.

Verona, 16. Juni 1859

.  Franz Josef m.p.”(23) (S.388)

Durch diesen Befehl sind die Soldaten daran erinnert worden, dass sie alle „bei Gott, dem Allmächtigsten, Kaiser Franz Joseph dem Ersten Treue”(24) (S. 5) geschworen haben. Die Soldaten fühlen sich in der Anwesenheit des Kaisers stärker, sie sind des Sieges sicher und wollen dafür alles tun. Der Kaiser verhält sich wie ein guter Vater, er bewirtet seine „Söhne”.

„Heiter waren alle und sicher des Sieges. Sie hatten ausgiebig gegessen und Branntwein getrunken, auf Kosten und zu Ehren des Kaisers, der seit gestern im Felde war.(25)(S. 5)

Auch der junge Leutnant Joseph Trotta, der seinen Zug befehligt, scheint alles zu sehen und alles zu hören, überall zu sein. Er nimmt an der Begeisterung seiner Soldaten Anteil. Obwohl einige von den Soldaten getötet werden, fühlen sich seine Leute in seiner Anwesenheit und in der des Kaisers sicher. Wenn Joseph Trotta sieht, dass der Kaiser in Gefahr geraten ist, ergreift ihn große Angst.

„Die Angst vor der unausdenkbaren, der grenzenlosen Katastrophe, die ihn selbst [den Kaiser], das Regiment, die Armee, den Staat, die ganze Welt vernichten würde, jagte glühende Fröste durch seinen Körper. Seine Knien zitterten. Und der ewige Groll des subalternen Offiziers gegen die hohen Herren des Generalstabs, die keine Ahnung von der bitteren Praxis hatten, diktierte dem Leutnant jene Handlung, die seinen Namen unauslöschlich in die Geschichte seines Regiments einprägte.”(26) (S.6)

Trotta glaubt, dass die Welt untergeht, wenn der Kaiser stirbt, als wenn die Welt aus der Gnade des Kaisers existieren würde. Er muss ihn also retten. Diese Einstellung des Protagonisten weist darauf hin, dass der Kaiser in seinem Bewusstsein wie ein Gott erscheint, für den die Soldaten bereit sind den Opfertod zu sterben. Roth stellt die Beziehung zwischen den Unteroffizieren und den Mitgliedern des Generalstabs ironisch dar. Nach Trottas Meinung haben die Herren des Generalstabs von der Praxis keine Ahnung. Der Groll darüber wird zu einem weiteren Anlass zur Heldentat. Das kann wahr sein, da auf Grund des Lehrplans der Wiener Kadettenschule festgestellt werden kann, dass die Kadetten in erster Linie eine vielseitige theoretische Ausbildung bekamen:

Infanterie-Kadettenschule:

„Religionslehre, deutsche Sprache, französische Sprache, ungarische und andere nicht deutsche Sprachen der Monarchie (Erlernen der Sprache in jenem Umfange, welcher für den Dienstgebrauch annähernd genügt). Geographie, Geschichte, Mathematik, Naturgeschichte Chemie, Physik, darstellende Geometrie, Freihandzeichnen, Rechtslehre, Dienst-Reglement, Exercier-Reglement für die Fußtruppen, Heerwesen, Waffen- und Schießwesen, Terrainlehre, Terrainaufnahme, Terraindarstellung, Taktik, Pionnierdienst, Befestigung, Militäradministration, Militärgeschäftsstil, Gesundheitspflege und Sanitätsdienst, Gesang und Musik, Exercieren und Ausbildung im Truppendienst, Turnen, Fechten, Schwimmen, Tanzen, Übungen und Studien im praktischen Kurse.“ (27)(S.8.)

Der Kaiser verläßt das Schlachtfeld nach diesem Vorfall nicht gleich, obwohl er von seinen Begleitern gemahnt wird. Er vergisst seine kaiserliche Pflicht nicht, den Soldaten nach seinem Namen zu fragen. Roth gestaltet diese Szene etwas ironisch, der Leutnant ist nämlich ohnmächtig, er kann also seinem Kaiser nicht antworten. Als guter Kamerad oder sich um seine Soldaten kümmernder Kriegsherr begleitet er den verletzten Leutnant zum Verbandsplatz und wohnt bei der Entfernung des Geschosses bei. Dieses Verhalten verstärkt den Mythos über den Kaiser als allerhöchsten Kriegsherrn. Ein weiteres Zeichen der kaiserlichen Fürsorge ist es, dass Trotta den Rang eines Hauptmanns, die allerhöchste Auszeichnung, den Maria-Theresien-Orden, bekommt und in den Adel erhoben wird. Er heißt von nun an: Hauptmann Joseph Trotta von Sipolje.

Der Kaisermythos wird auch durch Anekdoten geschaffen. Sogar die Lesebücher der Schulkinder enthalten solche Geschichten über den Kaiser. Ein Beispiel dafür ist gerade die Darstellung der Heldentat von Joseph Trottas im Schulbuch seines Sohnes. Die Geschichte ist verfälscht worden. Sie erzählt davon, dass der Monarch selbst gekämpft hat. Trotta half ihm zwar im entscheidenden Augenblick und wurde auch verletzt, aber der „junge, unerschrockene Monarch” konnte sich erwehren. Ähnliche Anekdoten haben zum Idealbild eines starken, energischen Kaisers beigetragen, unter dessen Herrschaft die Untertanen sich in Sicherheit fühlen können. Für Joseph Trotta bedeutet diese Geschichte den Rückzug aus der Welt, da er die Verfälschung der Wahrheit nicht akzeptieren kann.

So hat der Einfluss der Kaisermythos auf das Leben von Joseph Trotta Folgen in zweierlei Hinsicht. Einerseits führt seine Begeisterung für den Monarchen zu seiner Heldentat bei Solferino, infolgedessen er geadelt und Begründer einer adeligen Familie wird. Anderseits fühlt er sich später gerade dadurch betrogen, was zu seinem Rücktritt und zu seiner Desillusionierung führt.

Auch Carl Joseph, der Enkel des Helden von Solferino, trifft den Kaiser als Allerhöchsten Kriegsherrn. Der Kaiser besucht die Manöver, die besondere Ereignisse des Militärlebens sind. Bei den groben Manövern gehört ihm die Oberleitung. Bei diesen Gelegenheiten können die Soldaten mit dem Kaiser in direkte Verbindung treten. Sie können ihn aus der Nähe beobachten und er spricht einen oder den anderen Soldaten persönlich an, wodurch sich die Verpflichtung der Armee gegenüber dem obersten Kriegsherrn stärkt. So besucht er einmal das Manöver an der östlichen Grenze. Er mustert die Regimenter, was gefürchtet ist, er geht durch die Reihen und betrachtet die Ausrüstung der Soldaten, er spricht einige an. Er kommt auch zu Trotta. Der Allerhöchste Kriegsherr macht auf diesen aber einen ganz entgegengesetzten Eindruck im Vergleich zu dem, den er auf seinen Großvater gemacht hat. Er fühlt keine Begeisterung, keine Opferbereitschaft für den Kaiser und fürs Vaterland.

„Fremd war ihm der Allerhöchste Kriegsherr. Der Leutnant Trotta glich einem Manne, der nicht nur seine Heimat verloren hatte, sondern auch das Heimweh nach dieser Heimat.”(28) (S. 274)

Das einzige Gefühl, das er hat, ist Bedauern dem alten Mann, dem Kaiser gegenüber. Der Kaisermythos übt keinen Einfluss mehr auf Carl Joseph aus. Er findet sein Lebensziel nicht in der Armee, da er sich in der Armee nicht heimisch fühlt. Er will ausscheiden und sehnt sich nach einem normalen Zivilleben. Wenn er bei den Besuchen bei Frau Taußig seinen grauen Zivilanzug anzieht, vergisst er sein Soldatenleben und fühlt sich wohl.

Trotzdem fürchtet er sich vor dem Augenblick, wenn er seine Uniform auszieht.  Wenn alle Zeichen seiner „militärischen Persönlichkeit” im Koffer liegen, muss er weinen.

„Mit Sieben Jahren war er Stift geworden, mit zehn Kadettenschülern. Er war sein Leben lang Soldat gewesen. Man musste den Soldaten Trotta begraben und beweinen.”(29) (S. 375)

 

Der Tagesablauf des Kaisers

 Der Kaiser hat sich als „der erste Diener des Staates” apostrophiert. Im Buch Oesterreichs Hort wird ein Tag des Kaisers beschrieben, wonach der Kaiser schon um 4 Uhr, sogar im Winter spätestens um 5 Uhr aufsteht und eine Stunde später schon an den Staatsakten arbeitet, da er während des Tages sehr viele andersartige Verpflichtungen erfüllen muss. Es soll nichts unerledigt bleiben. Zur Manöverzeit schläft er kaum. Er isst bürgerlich einfach in seinem Arbeitszimmer, das Abendessen ausgenommen, das er in Schönbrunn einnimmt. Er arbeitet aber auch nach dem Abendessen. Er amüsiert sich nicht, die Jagd ist seine einzige Freizeitbeschäftigung. „Alles, was man vor einiger Zeit über eine gewisse Kartenpartie des Kaisers in Wien fabuliert hat, gehört ins Reich der Erfindungen.”(30) (S. 490)

Der Mythos, der den Kaiser als den ersten Diener des Staates darstellt, beeinflusst Franz Trotta, den Bezirkshauptmann, der sich als Beamter völlig mit dem Kaiser identifiziert. Schon seine äußere Erscheinung erinnert alle an den Kaiser.

„Sie waren wie zwei Brüder. Ein Fremder, der sie in diesem Augenblick erblickt hätte, wäre imstande gewesen, sie für zwei Brüder zu halten. Ihre weißen Backenbärte, ihre abfallenden, schmalen Schultern, ihr gleiches körperliches Maß erweckte in beiden den Eindruck, dass sie ihren eigenen Spiegelbildern gegenüberstanden.” (31)(S. 342)

Auch seine Charakterzüge sind denen des Kaisers ähnlich. Auch er ist ein fleißiger, pflichtbewusster Diener. Er hält sich für einen „Österreicher, Diener und Beamten der Habsburger” (32)(S. 152) und seine Heimat ist nicht Slowenien, sondern die kaiserliche Burg zu Wien. Er hat Heimweh nicht nach seinem Vaterland, sondern nach dem Kaiser, der so das Vaterland für ihn verwirklicht.(33)  (S. 338) Er fühlt sich in der Burg wie zu Hause, „ganz heimisch” fühlt er sich.(34) (S. 340) Er dient Seiner Majestät in der kleinen Bezirksstadt W. in Mähren. Auch er hat eine strenge Tageseinteilung. Auch er steht früh auf, bekommt die Post schon auf den Frühstücktisch. Er beginnt und beendet die Arbeit pünktlich. Er geht immer zur selben Zeit spazieren. Er lebt spartanisch, er lässt das Fenster des Speisezimmers auch im Winter offen stehen und er genießt nur am Sonntag ein ausgiebiges Mittagessen, das sonst an jedem Sonntag aus denselben Gerichten besteht. Er kennt nichts Wichtigeres als seinen Dienst, nicht einmal seine Familie.

 

Das Porträt und Allgegenwart des Kaiser

Im Roman Radetzkymarsch erscheint das Porträt des Kaisers, im Kasino, im Arbeitszimmer des Bezirkshauptmanns, in der Aula der Kadettenschule, in der Kanzlei des Obersten in der Kaserne, in der Küche der Schenke, im Bahnhofsrestaurant in Galizien und sogar im Bordell. Es ist immer dasselbe Porträt, das den Kaiser in „blütenweißer Generalsuniform, die breite, blutrote Schärpe quer über der Brust und den Orden des goldenen Vlieses am Halse”zeigt.(35) (S. 85) Diese Bilder waren überall in der Monarchie verbreitet und sie erfüllten eine wichtige Rolle, weil die Leute in den entfernt liegenden Teilen des Landes den Kaiser, trotz dessen Reisen, sehr selten sehen konnten. Durch sein Porträt ist der Kaiser überall in der Monarchie anwesend. Sein Gesicht ist zwar auch auf Briefmarken und Münzen zu sehen, doch hat das Bild einen weit wichtigeren Stellenwert. Das Porträt des Kaisers ersichtlicht mehr als die persönlichen Charakterzüge eines Menschen, „es ist einem überpersönlichen Bezugssystem zugehörig.”(36) (S. 85) Es vermittelt den Kaisermythos und stellt nicht die Person, sondern den Herrscher, die Idee der Monarchie dar.

Carl Joseph zeigt eine ambivalente Haltung dem Porträt gegenüber. Zuerst hat er das Gefühl, dass der Kaiser aus dem Rahmen treten könnte; das Bild bedeutet „einen gewissen stolzen Trost”(37) für ihn. (S. 85) Später aber friert es ihm „unter dem blauen Blick seines Kaisers”(38) (Roth, 86)

Das Bild scheint seine Botschaft an den erwachsenen Carl Joseph nicht vermitteln zu können. Doch empört er sich, wenn er das Kaiserbildnis im Bordell erblickt, und entfernt es von dort. Im Leben von Carl Joseph kommt der Gegendiskurs des Zeitgeistes zu immer größerer Bedeutung. Während es für seinen Großvater und seinen Vater selbstverständlich war, dass sie Diener des Kaisers waren und zur Monarchie gehörten, weiß er nicht mehr, wohin er gehört. Er fragt sich:

„Wohin sonst gehöre ich? Nicht zu jenen, die dort in der Schenke sitzen! Nach Sipolje vielleicht? Zu den Vätern meiner Väter? Der Pflug gehört in meine Hand und nicht der Säbel? (39)(S. 252)

Trotz seiner Erziehung identifiziert er sich nicht mehr so streng mit der Monarchie wie es sein Großvater und sein Vater getan haben. Für ihn bedeutet der Kaiser nur noch einen alten Mann. Auch der Diskurs des Mythos des Helden von Solferino bedrückt ihn. Er kann die Last, nämlich dass auch er eine Heldentat begehen sollte, nicht ertragen. Wenn er im Krieg doch dann seinen Soldatenberuf wirklich ausüben kann, stirbt er einen unheldenhaften Tod nicht für den Kaiser, sondern für seine Kameraden.

 

Bestätigung der kaiserlichen Majestät in Zeremonien

Aus dem vorangehenden Abschnitt wird klar, dass der Kaiser im Privatleben das Zeremoniell meidet und bescheiden lebt. In der Öffentlichkeit hält er aber das Zeremoniell für sehr wichtig, um „die Majestät der Person und der Funktion des Kaisers in äußeren Formen zu bestätigen.”(40) (S. 370) Durch diese Bestätigung wird der Diskurs verstärkt, nämlich, dass die Monarchie fest ist und der starke Kaiser aus Gottes Gnade über alle Völker des Kaisertums regiert wie es Ehalt in seinem Vortrag Zur Funktion des Zeremoniells im Absolutismus schreibt: das Zeremoniell sei „die für die Festigung und Tradierung des Herrschaftssystems maßgebliche Einrichtung”(41). (S. 411)

Im Roman Radetzkymarsch wird das Fronleichnam-Zeremoniell detailliert beschrieben. Der junge Carl Joseph nimmt daran in der Gesellschaft von Frau Taubig teil. Der Pomp der Parade übt auf alle Zuschauer eine grobe Wirkung aus. Sogar Carl Joseph erinnert sich an seine „heldischen Träume”, die er in seiner Kindheit hegte, und an die Klänge des Radetzkymarsches in seiner Geburtsstadt.(42) (S. 233)

„Die ganze majestätische Macht des alten Reiches zog vor seinen Augen dahin. Der Leutnant dachte an seinen Großvater, den Helden von Solferino, und an den unerschütterlichen Patriotismus seines Vaters, der einem kleinen, aber starken Fels vergleichbar war, mitten unter den ragenden Bergen der habsburgischen Macht. Er dachte an seine eigene, heilige Aufgabe, für den Kaiser zu sterben (…) Die Wendungen des Gelübdes, das er ein paar Mal mechanisch abgelegt hatte, wurden lebendig.”(43)(S. 234)

Die Farbenkavalkade der militärischen Uniformen scheinen ihm alle den Kaiser zu rühmen. Dem Militär folgen die Karosserien der hohen Beamten, die gemeinsam mit der Armee die zwei starken Säulen der Monarchie bilden. „Die Kontrolle des Verwaltungsapparates und die Befehlsgewalt über die Armee gehörten zu den Grundlagen kaiserlicher Macht”.(44) (S. 70) Am Ende der Prozession trabt die Leibgarde-Infanterie. Schließlich ertönt das „Gott erhalte, Gott beschütze” und hinter einem Halbschwadron Dragoner erscheint der Kaiser selbst in seinem von acht weiben Schimmeln gezogenen Wagen, von Lakaien umgeben. In dieser Szene wird es offensichtlich, welch starken Eindruck der durch das Zeremoniell zum Ausdruck kommende Kaisermythos auf den Protagonisten ausübt.

Der Kaiser geht in die Kirche zu Fuß, „wie ein einfacher Mensch”(45) (S. 235) Für die Zuschauer bedeutet diese Szene, dass der Kaiser einer von ihnen ist. Die Glocken des Stephansdoms, der römisch-katholischen Kirche, der dritten Säule der Monarchie, grüßen den Römischen Kaiser Deutscher Nation. Die Fronleichnamsprozession erscheint als Ausdruck der Verbindung zwischen dem Kaiser und der Kirche. Die Kirche spielt in der Erziehung der Bevölkerung zur Kaisertreue eine wichtige Rolle. Im ersten Sprach- und Lesebuch für katholische Schulen kann man lesen: „Wir sollen als Unterthanen die Obrigkeit ehren, und ihr gehorsam sein, denn alle Obrigkeit ist von Gott.” (46)(S.112) Diese Aussage basiert auf dem Römerbrief in der Bibel:

„Jeder soll sich der staatlichen Gewalt unterordnen. Es gibt keine Autorität, die nicht von Gott verliehen wird, die vorhandenen Ordnungsmächte sind von ihm eingesetzt. Wer sich also gegen die staatliche Gewalt auflehnt, widersetzt sich der Anordnung Gottes und wird dafür bestraft werden. (…) Denn die Staatsgewalt steht im Dienst Gottes, um euch beim Tun des Guten zu helfen. (…) Im Auftrag Gottes vollstreckt sie das Urteil an denen, die das Schlechte tun. Darum müsst ihr euch der Staatsgewalt unterordnen, nicht nur aus Furcht vor Gottes Zorn, sondern auch, weil euer Gewissen euch dazu aufruft.”(Röm 13, 1-5)(47) (S. 351)

Dieser Gedanke führt in letzter Konsequenz zu der Behauptung, dass der Kaiser aus Gottes Gnade regiert; es erfolgt also die Sakralisierung dieses Amtsverständnisses.

Solche herrlichen Szenen wie die Fronleichnamprozession lassen Carl Joseph nicht unberührt. Er glaubt in dem Augenblick an die Monarchie, die nie untergehen wird. Alle Leute sind fröhlich auf den Strassen, die ganze Stadt ist „ein riesengroßer Burghof”.(48) (S.236) Keine Anzeichen der sich anbahnenden Tragödie sind zu erkennen. Die durch den Mythos dargestellte falsche Wirklichkeit, nämlich dass alles in Ordnung sei, erobert das Herz von Carl Joseph.

 

Der Landesvater

Der Kaisermythos stellt den Monarchen als Landesvater dar, der sich um jeden seiner Untertanen kümmert, und an den sich ein jeder wenden kann, wenn er Sorgen hat. Tatsächlich fanden Audienzen statt. Es war streng reguliert, wie sich die Leute bei dieser hervorragenden Gelegenheit anziehen sollten. Die Männer mussten einen Frack tragen, diejenigen, die es sich nicht leisten konnten, durften ihre nationale Tracht tragen. In Wirklichkeit lieben die Beamten nur die Bittsteller vor den Kaiser, deren Bitte erfüllbar schien. Oesterreichs Hort beschreibt die Audienzszene folgenderweise:

„Da gruppieren sich, ganz wie im Stehparterre der Hoftheater, zunächst die militärischen Audienzwerber abseits von dem zivilen Publikum. Zumeist sind die ersten eine glückliche Corona eben avancierter Stabsoffiziere, die stolz und martialisch ihre noch ganz unpatinierten Gold- und Silberkrägen zur Schau tragen. Um eine Nuance gedämpfter wirken daneben die Marineure und Beamten in ihrem zivileren Uniformschnitt, welchen insbesonders das weiße Hemdplastron beträchtlich verflaut, das Brustschild der bürgerlichen Audienzwerber im schwarzen Frack.

Unter den letzteren Charaktergestalten, manche nicht ganz ohne eine gewisse Komik, wie z.B. die unvermeidliche Gemeinderats-Deputation aus irgend einem Landstädtchen in längst ausgewachsenem, nur noch frackähnlichem Gewande und lächerlich groben Handschuhen und Halskrägen, trotz unverkennbaren Bürgerstolzes doch von ganz auffallender Unsicherheit inmitten all des Glanzes militärischer und administrativer Obrigkeiten auf dem glatten Hofparkett sich zusammendrängen.”(49)(S. 500)

Die Protagonisten des Romans Radetzkymarsch, sowohlJoseph als auch Franz Trotta, wenden sich persönlich an den Kaiser. Joseph Trotta versucht auf dem Dienstwege seiner Beschwerde Geltung zu verschaffen, dass nämlich die Geschichte des Helden von Solferino in den Schulbüchern wahrhaftig geschildert werden solle. Der Minister des Kultus- und Unterrichtsministeriums bittet ihn darum, von seiner Beschwerde Abstand zu nehmen. Darauf wendet er sich auf dem vorgeschriebenen Dienstwege an den Kaiser selbst. Aber auch der Kaiser rät ihm zur Rücknahme seines Gesuchs. Gleichwohl verschwindet später die Geschichte aus den Schulbüchern. Dann ist er aber nicht mehr bei der Armee.

„Vertrieben war er aus dem Paradies der einfachen Gläubigkeit an Kaiser und Tugend, Wahrheit und Recht, und gefesselt in Dulden und Schweigen, mochte er wohl erkennen, daß die Schlauheit den Bestand der Welt sicherte, die Kraft der Gesetze und den Glanz der Majestäten”(50) (S. 17-18)

Es wird ihm jetzt offenbar, dass Mythos und Wirklichkeit zwei verschiedene Welten sind.

Auch Franz Trotta wendet sich an den Kaiser, indem er ihn um Gnade für seinen Sohn bittet, der Schulden gemacht hat und der wahrscheinlich aus der Armee ausscheiden muss. Der Bezirkshauptmann bildet sich ein, dass er die Ehre des Helden von Solferino retten muss. Anders als sein Vater folgt er nicht dem Dienstweg, sondern benützt seine alten Verbindungen, um so schnell wie möglich vor den Kaiser kommen zu können. „Und es gelang ihm, innerhalb einer einzigen Nacht, in der er nicht schlief, nicht aß und nicht trank, das eiserne und das goldene Gesetz des Zeremoniells zu durchbrechen.”(51)(S.337)

Er wird zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt empfangen, nämlich vor der Abreise des Kaisers nach Ischl, wo er seinen Urlaub zu verbringen pflegt. Und die Sache ist sofort erledigt, der Sohn und der Ruhm des Helden von Solferino sind gerettet.

Für Franz Trotta scheint der Kaisermythos wahr zu sein, da die Affäre des Sohnes beigelegt wird. Auch Carl Joseph, der Sohn des Bezirkshauptmanns, denkt, daß er, als der Enkel des Helden von Solferino, sich „in jeder Lage” auf den Kaiser verlassen kann.(52) (S. 344)

 

Besprechung

Auf Grund des Verhaltens der Protagonisten im Roman Radetzkymarsch kann gut nachgewiesen werden, wie die Machtverhältnisse in der Form von Mythen die Subjektbildung beeinflussen. In dieser Arbeit wurde die Wirkung vom Kaisermythos erforscht

Das Ziel des Kaisermythos war zurzeit der nationalen Bewegungen, des Bestrebens nach Nationalstaaten die Monarchie zusammenzuhalten und ihrem Verfall vorzubeugen. Oder wie es Magris darstellt: Der habsburgische Mythos

„…war vor allem ein weises und überaus wirksames Instrument einer umsichtigen politischen Entfremdung gewesen, nämlich das Bemühen, für ein immer anachronistischer werdendes Staatsgefüge eine Daseinsberechtigung zu finden und auf diese Weise die Energien von der konkreten Wahrnehmung der Wirklichkeit abzulenken.”(53) (S. 23)

Durch das idealisierte und mythisierte Kaiserbild entsteht das Idol der Monarchie, das deren Werte verkörpert und vermittelt. Die Monarchie ist die Herrschaftsform eines Vielvölkerstaates, der nach einem übernationalen Dasein strebt. Wie der Bezirkshauptmann sagt: „Es kann viele Völker geben, aber keineswegs Nationen (....) ‚nationale Minoritäten’ waren für seine Begriffe nichts anderes als größere Gemeinschaften revolutionärer Individuen.“(54) (S.278) Er selbst ist sehr stolz darauf, daß er kein slowenischer Bauer mehr ist, sondern ein Österreicher. Dieses Idol wird aber mit menschlichen Charakterzügen versehen, damit es die Untertanen leichter ansprechen können. Der Monarch wird als Tugend- und Sittlichkeitsexempel vorgeführt, der jederzeit zur Pflichterfüllung bereit ist. Er ist weise, mächtig und allwissend wie Gott.

Der Kaiser wird als Allerhöchster Kriegsherr, als erster Diener des Staates, als Landesvater dargestellt. Alle sozialen Schichten können in ihm einen Bezugspunkt finden, durch den sie sich zu der Monarchie bekennen können. So trägt der Mythos dazu bei, dass Joseph Trotta, der Soldat, zum opferbereiten Retter Seiner Majestät wird. Dass Franz Trotta, der Bezirkshauptmann, zum vorbildlichen Beamten und Diener des Kaisers wird.

Während aber beim vorschriftsmäßigen Verhalten des Bezirkshauptmanns, Franz Trotta der Mythos seine volle Wirkung ausüben kann, funktioniert er im Falle von Carl Joseph Trotta, dem Leutnant, nicht mehr so effizient. Auch er wird schon von Haus aus kaisertreu erzogen. Diese Erziehung findet ihre Fortsetzung in der Schule und auch beim Militär. Auch der Kaisermythos scheint einen überwältigenden Einfluss auf ihn auszuüben (siehe Fronleichnahmprozession). Trotzdem scheint er von dem Zeitgeist der Dekadenz, dem Werteverlust, der Ziellosigkeit viel stärker beeinflusst worden zu sein. Er fühlt sich nicht mehr heimisch in der Armee, aus der er auch ausscheidet. Sein Drang nach der Ausführung einer Heldentat wird im Roman in ironischen Szenen dargestellt. Wenn er z.B. das Bild des Kaisers, also nicht den Kaiser selbst, im Bordell „rettet” oder wenn er stirbt. Er stirbt einen unheldenhaften Tod, anstatt mit Gewehr mit Wassereimern in den Händen. Er opfert sich nicht für den Kaiser, sondern für seine Leute.

Im Kontrast zu dem mythisierten Kaiserbild steht im Roman die Charakterschilderung des alten Kaisers, die ihn als kindlich schlau, einfältig und romantisch darstellt, wodurch die Entstellung der Wirklichkeit durch den Mythos hervorgehoben wird. Auch der Held von Solferino hat keine ehrerbietenden Charakterzüge. Nahe der Heldentat bleibt er die graue Persönlichkeit, die er immer gewesen ist. Obwohl ihn das Adelsprädikat in eine andere, viel höhere Gesellschaftsschicht hebt, und obwohl dessen Diskurs ihn eine Zeit lang zwingen kann sich mit seiner neuen Rolle zu identifizieren, kehrt er doch bei der ersten Dissonanz zur alten Lebensweise zurück. Der Kaisermythos stellt die Fehleinschätzung der Machtquelle Persönlichkeit ganz offenkundig dar. Der Kaiser ist nicht die Persönlichkeit, die ihm zugetraut wird. Das Wirken der konditionierten Macht löst den Glauben an diese Persönlichkeiten aus. Galbraith gibt eine sehr gute Definition der konditionierten Macht gegenüber der repressiven Macht, die durch Aggressivität, Bestrafung wirkt, und gegenüber der kompensatorischen Macht, die durch Belohnung wirkt.

„Repressive und kompensatorische Macht sind sichtbar und objektiv, konditionierte Macht dagegen ist subjektiv; weder diejenigen, die sie ausüben, noch diejenigen, die ihr unterworfen sind, sind sich ihres Waltens stets bewusst. Das Sich-Fügen in die Autorität anderer und die Unterwerfung unter einen fremden Willen sind in diesem Fall bevorzugtes Ziel des Betroffenen selbst. Die Zielwahl kann bewusst gesteuert werden, sei es durch Überredung und Überzeugung, sei es durch Erziehung und Ausbildung: In beiden Fällen handelt es sich um explizite oder direkte Konditionierung. Sie kann aber auch vom kulturellen Umfeld der Betroffenen diktiert werden, die Unterwerfung wird dann allgemein als die normale, anständige oder traditionell korrekte Verhaltensweise angesehen.”(55) (S. 40-41)

Diese Theorie ist der Machttheorie von Foucault ähnlich. Foucault behauptet nämlich, dass die Sozialisation nicht nur durch Erziehung und Bestrafung geschieht, sondern durch Kraftlinien und Diskurse der Macht, die überall da sind. Macht muss verstanden werden, als eine Multiplizität von Machtverhältnissen immanent in der Sphäre, worin sie funktionieren, und die ihre eigenen Organisationen konstituieren; als ein Prozess, der durch Konfrontationen transformiert, stärkt oder reversiert sie; als Unterstützung, durch die diese Machtverhältnisse in einander finden oder im Gegenteil, Kontradiktionen, die sie von einander isolieren; und als Strategien, in denen sie eine Wirkung ausüben, deren Institutionalisation im Staatsapparat, in der Gesetzgebung, in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Hegemonien erscheint.(56) (S. 334) Für Foucault bedeutet Macht nicht eine Kraft, die von denen nach unten ausgeübt wird, die sich in den oberen Schichten der Gesellschaft befinden. Macht ist immanent in Verhältnissen zwischen Menschen, Sprechern, Praktiken Institutionen usw. Sie ist überall da, sie wird von allen Richtungen ausgeübt. Macht tritt nicht in irgendeiner Form hervor, man kann nur ihre Wirkung fühlen. Eben deshalb

„Die Macht muss als etwas analysiert werden, das zirkuliert oder vielmehr als etwas, das nur in Art einer Kette funktioniert. Sie ist niemals hier oder dort lokalisiert, niemals in den Händen einiger weniger, sie wird niemals wie ein Gut oder wie ein Reichtum angeeignet. Die Macht funktioniert und wird ausgeübt über eine netzförmige Organisation. Und die Individuen zirkulieren nicht  nur in ihren Maschen, sondern sind auch stets in einer Position, in der sie diese Macht zugleich erfahren und ausüben; sie sind niemals die unbewegliche Zielscheibe dieser Macht, sie sind stets ihre Verbindungselemente. Mit anderen Worten: die Macht wird nicht auf die Individuen angewandt, sie geht durch sie hindurch.“ (57) (S. 82.)

Der Kaisermythos stellt ein gutes Beispiel für den Wirkungsmechanismus der Macht dar. Es steht für die zwei älteren Protagonisten außer Frage, dass der Kaiser die Monarchie regieren soll, dass es alles so gut ist, wie es ist. Sie glauben an den Kaiser, sie wollen ihm gehorchen, obwohl sie nicht dazu gezwungen sind. Der Glaube an den Kaiser ist in den bestehenden kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen verwurzelt; entsprechend formuliert Galbraith: „….die Unterordnung unter die Autorität anderer spiegelt dann die allgemein akzeptierte Auffassung von den Pflichten des Individuums wider.”(58) (S. 46) Die willkürliche oder unwillkürliche Akzeptanz der Normalisierung – wie es Foucault schreibt -, macht „Die Seele [zum] Gefängnis des Körpers.”(59) (249f) Auch der Mythos funktioniert als ein Mittel der Subjektivation oder Unterwerfung. Es gibt nur wenige Erscheinungsformen der Macht, die mit so viel finanziellem und persönlichem Engagement betrieben werden wie die Prägung und Pflege von Überzeugungen. Der Kaisermythos ist ein gutes Beispiel dafür. Zurzeit von Franz Joseph gab es noch keine so hoch entwickelte Werbeindustrie wie heute, man hat aber alle möglichen Mittel aufgeboten, um den Glauben an den Kaiser zu stärken.

Das Reich der Habsburger bestand aus vielen Völkern mit unterschiedlich historischer, ethnisch-sprachlicher und kultureller Individualität. Mangelnder Gemeinschaftssinn kennzeichnete die Habsburgmonarchie seit dem sechzehnten Jahrhundert. „Es wäre unmöglich zu verstehen, wie ein solcher Staatskomplex Jahrhunderte bestehen konnte, mehr noch, wie er sich zum Rang einer Großmacht hatte erheben können…”(60) (S. 19) Zu dem schon erwähnten beschränkten Gemeinschaftssinn, zu den Gegensätzen infolge der Reformation und der Gegenreformation, zur Veränderung der Machtverhältnisse in Europa trat am Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Nationalismus hinzu. In diesem Vielvölkerstaat gab es keine nationale Mehrheit, daher gab es auch keine nationale Minderheit. Das ist die Ursache, „der ungenügenden Vereinigung und des nicht voll entwickelten Gemeinschaftssinns, was sich im neunzehnten Jahrhundert zur Nicht-Integration zuspitzte.”(61) (S. 21) Der Kaisermythos verwirklicht für die Staatsbürger der Monarchie eine Gesamttradition, und die bloße Existenz dieser Tradition ist für das politische Leben der Menschen von Bedeutung, er übt nämlich eine konsolidierende Wirkung aus. Die Dynastie war das stärkste Band zwischen den Völkern der Monarchie. Eben deshalb muss es viele Diskurse gegeben haben, die nicht ans Licht gekommen sind, die nicht dominant geworden sind.

Es stellt sich aber die Frage, wie es dann möglich ist, dass eine nächste Generation, die genauso sozialisiert wurde, wie die vorangehenden, trotzdem an Wertverlust leidet, sich nicht ihrer gesellschaftlichen Position gemäß verhält, ihren richtigen Platz in der Gesellschaft nicht findet und wehmütig wird. Carl Joseph ist das Kind dieser neuen Ära. Das Aufstreben der unterschiedlichen Nationen des Vielvölkerstaats mit ihrer eigenen Kultur, Politik und Geschichte, die auflebenden ethnisch-nationalen Traditionen beeinträchtigen den Diskurs des Kaisermythos. Durch den Verlust an Ansehen der Streitkräfte wegen ihres niedrigen Ausbildungsniveaus, durch die Infizierung der Bürokratie, - einst ein konsolidierender Faktor - vom Nationalismus, durch den Rollenverlust der Aristokratie - den Hofadel ausgenommen - als Hauptträger der politischen Macht, durch die Erscheinungsformen des Liberalismus mit seiner Dekadenz und des Sozialismus mit seinen marxistischen Zügen wird der Zerfall der Monarchie betrieben. Es entsteht eine Verwirrung in allen Aspekten des Lebens, es entsteht ein Wertevakuum, das zur Desorientierung des Protagonisten führt. Der Diskurs des Zeitgeistes wirkt stärker als der des Kaisermythos. Infolge der Konflikte geraten auch die Wertesysteme miteinander in Konflikt. Wie es an der Figur von Carl Joseph von Trotta nachgewiesen wurde, ist das Individuum noch im alten gesellschaftlichen System integriert, aber es spürt die Anforderungen von sich entwickelnden neuen Systemen. Seine Identität wird desintegriert, weil die internalisierten Normen ihre Gültigkeit verlieren. Durkheim nennt diesen Zustand anomisch. Das Derangement der Normen oder die Normlosigkeit können nicht nur mit einer Krise, sondern auch mit einer unerwarteten Prosperität im Zusammenhang stehen – siehe das Verhalten von Joseph Trotta nachdem er den Adelstitel erhalten hat.(62)

Foucaults Thesen werden oft für zu einfach und eindimensional gehalten, einige Wissenschaftler werfen sie völlig weg, andere nehmen sie aber an. Seine Kritiker, wie z.B. Fink-Eitel stellen oft die Frage, ob das Subjekt denn keine Freiheit zur Handlung hat?(63) (S. 88) Funktionieren die Individuen auf Grund der verinnerlichten Werte wie Maschinen? Führt diese Denkweise nicht in eine Sackgasse? Ich postuliere, dass es Gegendiskurse in dem Moment entstehen, wenn Individuen oder Gruppen von Individuen unterworfen oder aus einem gesellschaftlichen Feld ausgeschlossen werden. Es kann sein, dass sie solange nicht wahrgenommen werden, bis die dominanten Diskurse kräftig sind, sie schaffen aber nach meiner Ansicht einen Raum für Widerstand, der sogar Widermacht genannt werden kann.

 

Literaturverzeichnis

 


Anmerkungen

1 Frank, Manfred: Die Dichtung als neue Mythologie. In: Bohrer, Karl Heinz (Hrsg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion.. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1983. S. 15-40.
2 Kerényi, Karl: Wesen und Gegenwertigkeit des Mythos, in: Karl Kerényi: Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos.. Wege der Forschung, Bd. XX. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 1967. S. 234-252.
3 Glück Christina: Die Mechanismen der Mythenbildung am Beispiel von Prinzessin Diana.. Wien: Uni.Wien. 2000.
4 Holub-Eitelberger, Gertrud ():Macht und Anteil der Mythen im politischen Alltag und in bestimmten weltanschaulichen Bewegungen der Gegenwart. Diss. Wien.. 2002
5 Biricz, Stefan Johann: Die Wahrheit des Mythos. Überlegungen zu Kurt Hübners Analyse der wissenschaftlichen Rationaltät. Universität Wien. 2000.
6 Blöchl, Andrea Gerlinde: Der Kaisermythos. Die Erzeugung des Mythos „Kaiser Franz Joseph” – eine Untersuchung auf der Basis von Texten und Bildmaterial aus der Zeit Franz Josephs. Diplomarbeit. Salzburg. 1993.
7 Petersen, Jens: Mussolini: Wirklichkeit und Mythos eines Diktators. In: Karl Heinz Bohrer, (Hrsg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt am Main-Suhrkamp. 1983. S. 242-260
8 Sperber, Dan: Über Symbolik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 1975.
9 Kluckhohn Clyde: Myths and Rituals: A General Theory and Practice. Lincoln: University of Nebraska Press. 1971.
10 Musil, Robert: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik.: Reinbek bei Hamburg: Rohwolt. 1980.
11 Bolz, Norbert W: odds and ends. Vom Menschen zum Mythos.in: Karl Heinz Bohrer, (Hrsg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion.. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1983.
12 Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Surkamp. 1964.
13 Barthes: Mythen
14 Barthes: Mythen
15 Lange, Xenia M.: Betrachtungen zu Roland Barthes’ strukturalistischer und semiologischer Tätigkeit
 unter besonderer Berücksichtigung der Zeichentheorie Ferdinand de Saussures. http://avalon.germanistik.fu-berlin.de/~litin/Stru/anw/lange_barthes.pdf., Letzter Zugriff am 2008-05-13.
16 Barthes: Mythos
17 Vocelka, Karl, Lynne Heller: Die lebenswelt der habsburger. Kultur- und Mentalitätetengeschichte einer Familie. Graz, Wien, Köln: Böhlau. 1998.
18 Leidinger Hannes: Der Mythos Habsburg. Kakanienrevisited. 07/05/2003. Seite 1-10. http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/HLeidinger1.pdf Letzter Zugriff: 18.05.2008.
19 Magris, Claudio: Der Habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien: Zsolnay. 2000.
20 Petersen, Jens: Mussolini: Wirklichkeit und Mythos eines Diktators. In: Karl Heinz Bohrer, (Hrsg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion.. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983. S. 242-260
21 Bled, Jean Paul: Franz Joseph. „Der letzte Monarch der alten Schule”. Wien, Köln: Böhlau Verlag. 1988.
22 Oesterreichs Hort. Geschichts- und Kulturbilder aus den Habsburgischen Erbländern. Eine Festgabe an das österreichische Volk zur Jubelfeier des Kaisers Franz Josef I. 1908. Unter dem Protektorat Albin Freiherrn v. Teuffenbach zu Tiefenbach und Mabweg, herausgegeben von einem Kreise vaterländischer Schriftsteller. 2 Bd. Wien: Patriotische Volksbuchhandlung. 1908.
23 Oesterreichs Hort
24 Roth, Joseph: Radetzkymarsch. Kiepenheuer und Witsch. Köln. 1989.
25 Roth, Radetzkymarsch
26 Roth, Radetzkymarsch
27 Lehrplan für die k.u.k. Cadettenschulen. Wien, aus der kaiserlich-königlichen Hof- und Staatsdruckerei. 1899.
28 Roth, Radetzkamarsch
29 Roth, Radetzkymarsch
30 Roth, Radetzkymarsch
31 Roth, Radetzkymarsch
32 Roth, Radetzkymarsch
33 Roth, Radetzkymarsch
34 Roth, Radetzkymarsch
35 Roth, Radetzkymarsch
26 Lange, Betrachtungen
37 Roth, Radetzkymarsch
38 Roth, Radetzkymarsch
39 Roth, Radetzkymarsch
40 Bled, Franz Joseph
41 Roth, Radetzkymarsch
42 Roth, Radetzkymarsch
43 Roth, Radetzkymarsch
44 Blöchl, Der Kaisermythos.
45 Roth, Radetzkymarsch
46 Roth, Radetzkymarsch
47 Die gute Nachricht. Das Neue Testament in heutigem Deutsch. Dritte, neu übersetzte Auflage. Hrsg. Von den Bibelgesellschaften und Bibelwerken im deutschsprachigen Raum. Stuttgart: Württembergische Bibelanstalt Stuttgart. 1967 und 1971.
48 Roth, radetzkymarsch
49 Oesterreichs Hort
50 Roth, Radetzkymarsch
51 Roth, Radetzkymarsch
525 Roth, Radetzkymarsch
53 Magris, Der habsburgische Mythos
54 Roth, Radetzkymarsch
55 Galbraith, John Kenneth: Anatomie der Macht. München: C. Bertelsmann.. 1987
56 Foucault, Michel: Method. in: The History of Sexuality. Volume 1. London: Random House Inc. 1979.
57 Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wahrheit und Wissen. Berlin: Merve. 1983.
58 Galbraith, Anatomie
59 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen" . Frankfurt/M: Suhrkamp, 1994 [1975]).f
60 Kann, Robert A.: Werden und Zerfall des Habsburgerreiches. Graz, Wien, Köln: Verlag Styria. 1962.
61 Kann, Werden und Zerfall
62 Durkheim, Emil: Bestimmung der moralischen Tatsache (1906), in: ders., Soziologie u. Philosophie (Frankfurt 1970)
84–117; H. Joas, Die Entstehung der Werte (Frankfurt 1997) 104ff.
15 Den Begriff der Gewaltmythologie verwendet Hans Joas zur Kennzeichnung einer positiven Umwertung der Gewalt
63 Fink-Eitel, Hinrich: Michel Foucault zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag. 2002.

8.9. Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht

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