TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 8.9. Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht
Sektionsleiterinnen | Section Chairs: Andrea Horváth und Eszter Pabis (beide: Debrecen)

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Sir Galahad bei Rezzori

Sophie Meyer (Universität Debrecen) [BIO]

Email: sosomey@gmx.net

 

Gregor von Rezzori beschreibt in seinem 1958 erschienenen Roman Ein Hermelin in Tschernopol die Welt seiner Kindheit in Czernowitz, der ehemaligen Hauptstadt der Bukowina. Der italienische Literaturwissenschaftler Claudio Magris, ein großer Freund speziell dieses Romans von Rezzori,(1) ordnet ihn in seinem Buch Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur dem "Neubarock" zu und bemerkt: "Auch Rezzori unterliegt auf seine Art der Auflösung des Romans und der eigentümlichen österreichischen wie mitteleuropäischen Dekadenz."(2) Was Magris an anderer Stelle ein "Kaleidoskop"(3) von Erzählversatzteilen nennt, kann man ebensogut als Kollage bezeichnen. Für diese Kollage einer untergegangenen Welt bedient sich Rezzori mittlerweile ebenfalls untergegangener Namen und Ereignisse. Ereignissen wie dem Literaturskandal in Czernowitz um den irrsinnigen Schlosser Karl Pjehowitsch(4) und Namen wie dem des Sir Galahad, alias Bertha Eckstein-Diener und ihrer 1920 erschienenen Europa-Satire Die Kegelschnitte Gottes. Auf den Ich-Erzähler des Hermelin hat dieser Roman einen großen Eindruck gemacht. Im ersten Teil des Vortrags analysiere ich diesen Eindruck vor dem Hintergrund der Stadt Tschernopol. Ausgehend davon, dass nicht nur Rezzoris Protagonisten im Hermelin, sondern auch der Autor selbst Die Kegelschnitte Gottes gelesen hat, gehe ich im zweiten Teil meines Vortrags der Frage nach, ob dieser Roman auch im weiteren Werk Rezzoris Spuren hinterlassen hat.

 

I.

Die Geschwister, das heißt der namentlich nicht genannte männliche Ich-Erzähler, seine Schwester Tanja und nach Zahl, Geschlecht, Alter und Namen nicht definierte weitere Schwestern und Brüder(5) im Hermelin wachsen zunächst gänzlich abgeschlossen von Altersgenossen auf und werden von wechselnden Hauslehrern betreut. Mit ihrem Eintritt ins Institut d'éducation von Madame Aritonowitsch lernen sie endlich andere Kinder kennen, darunter Blanche Schlesinger, die Tochter eines Nervenarztes in der städtischen Irrenanstalt.(6) Ihre Freundschaft beginnt mit dem Vorschlag Blanches, mit den Geschwistern Bücher zu tauschen.

"Wir brachten ihr Dickens' Weihnachtsmärchen, das sie zwar kannte, aber wegen der schönen Illustrationen von Rackham gern behielt; und sie gab uns ein sehr sonderbares Buch, das Die Kegelschnitte Gottes hieß und von einem Sir Galahad geschrieben war, von dem sie sagte, er sei in Wahrheit eine Frau. Wir verstanden zunächst kein Wort davon, dann fiel es uns nach Jahren wieder in die Hände, und wir lasen es wie eine Offenbarung - und brauchten ein Jahrzehnt dazu, sie wieder loszuwerden."(7)

Der Roman des Sir Galahad, der hier zum ersten und einzigen Mal in Rezzoris Werk genannt wird, erfährt eine merkwürdige Wertschätzung: Eine absolute Aussage wird sogleich ironisiert, in ihr Gegenteil verkehrt. Was mag dazu geführt haben, dass die anfängliche "Offenbarung" den Geschwistern wieder abhanden gekommen ist? Ich gehe davon aus, dass der Geist Tschernopols verantwortlich für diese Wandlung ist. Die zweite Lektüre der Kegelschnitte, die die "Offenbarung" enthält, spielt sich zwar in einer uns unbekannten Zukunft ab, wird aber in der Kindheit schon vorbereitet, ebenso wie der Tod der Schwester Tanja, der im Hermelin mehrmals vorausgesagt wird.(8) Die Ursachen für ihren Tod liegen laut dem Ich-Erzähler in der hier erzählten Kindheit - in der vollkommen unmotivierten und grausamen Ohrfeige Herrn Adamowskis.(9) "Unsere Kindheit war erschlagen worden."(10) Ich vermute deswegen, dass auch die gewandelte Einstellung zu den Kegelschnitten ihren Ursprung in der Tschernopoler Kindheit hat. Sehen wir uns die Freundschaft mit Blanche vor dem Hintergrund des bereits erwähnten Literaturskandals näher an.

Der Beginn dieser Freundschaft fällt in eine Deutschstunde.(11) Der Protagonist soll das Märchen Dornröschen nacherzählen und wird wegen einer angeblich unglücklichen Formulierung („das schlafende Schloss“) von der Lehrerin und den anderen Kindern ausgelacht. Nur Blanche beteiligt sich nicht am allgemeinen Gelächter und lobt den Ich-Erzähler hinterher sogar für die treffende Formulierung. Es folgt ein Kompliment an die Schwester Tanja und das Angebot zum Büchertausch.(12) Die Freundschaft beginnt also, von einem beleidigenden Gelächter vermittelt, mit Poesie, mit einer Metapher, deren Wert nur Blanche erkennt. Durch den folgenden Büchertausch wird sie zur Aufklärerin und Lehrerin der Geschwister auf literarischem Gebiet.(13) Dieses Verhältnis zwischen den Kindern verstärkt sich noch als Blanche ihnen einige Gedichte mitbringt, die von einem Insassen der städtischen Irrenanstalt stammen, in der ihr Vater als Arzt tätig ist,(14) obwohl die Geschwister zunächst nur deshalb in Blanches Begeisterung einstimmen, weil sie mit dem Irrenhaus den Helden ihrer Kindheit, den Major Tildy verbinden, der auf wiederum vollkommen wahnwitzige Art zur Beobachtung dorthin gekommen ist.(15) Blanche kennt weder Tildy noch die Faszination, die er auf die Geschwister ausübt, glaubt aber, sie besser zu verstehen, nachdem sie die Geschichte gehört hat.(16) Doch dann kommen die wahren Verfasser der Gedichte an den Tag. Auch in der Freundschaft der Kinder mit Blanche tritt eine tragische Wendung ein als sich herausstellt, dass der irrsinnige Schlosser Karl Pjehowitsch auf nicht ganz geklärte Weise in den Besitz von Gedichten verschiedener Dichter gekommen ist, selbst also gar nicht ihr Verfasser ist, sie jedoch zusammenhängend wiedergegeben hat. Einer der wirklichen Urheber der Gedichte war Karl Graf Berlepsch, von dem die Geschwister schon etwas gelesen zu haben glauben, ein allerdings keineswegs poetisches Stück, sondern launige Verse, die den Krieg der Deutschen verniedlichen und auf die Kinder abstoßend und anziehend zugleich wirkten. Mit den Reimen dieses Gartenlauben-Gedichtes fallen sie nun über Blanche her und quälen sie, weil sie zur "die Botin" der zerstörten Harmonie wurde, mit ihrem Spott.(17) Die Freundschaft, die mit der Rettung vor einer kollektiven Schadenfreude begonnen hat, erfährt durch das gehässige Lachen der einstigen Opfer einen Bruch und wiederholt somit im Kleinen, was in der Stadt Tschernopol im Großen passiert: Die Literaturaffäre wird zum Anlass für einen Zeitungskrieg genommen, der wiederum einen Kleinkrieg der Nationalitäten widerspiegelt.(18)

Und noch weiter geht die Zerstörung, die der Geist von Tschernopol auf das kindliche Harmoniebedürfnis ausübt: Ganz selbstverständlich und um länger mit ihren vor allem jüdischen Freunden zusammen zu sein, besuchen die Geschwister wie diese den mosaischen Religionsunterricht. Das erfährt eines Tages ihre eingefleischt antisemitische Familie und verbietet ihnen nicht nur entsetzt die weitere Teilnahme, sondern will sie auch nach Beendigung des Schuljahres ganz von Madame Aritonowitschs Institut (der „Judenschule“(19)) nehmen. Der letzte Tag, den sie mit ihren Freunden Blanche und Saly Brill, dem Sohn des jüdischen Kaufmanns Usher Brill, verbringen, endet mit einem Judenpogrom, mit der Krankheit der Geschwister und nach ihrer Genesung mit dem Ende der Kindheit.(20)

Auch der Held Tildy findet ein tragisches Ende: Er verliert im wörtlichsten Sinne sein Gesicht, indem es von der heranrasenden Straßenbahn, einem Symbol der Moderne, das auch Michail Bulgakow als Mordinstrument fasziniert hat, zerstört wird.(21)

Die Modernität Tschernopols(22) beherbergt und zerstört gleichzeitig eine Schönheit, die die Kinder anzieht (die Schönheit des Bildes des Majors Tildy zu Pferde(23)), beherbergt und zerstört nicht nur ein Ideal der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts.(24) Keines davon ist in der Wirklichkeit Tschernopols lebensfähig (das ihnen allen aber doch einen Platz bietet), alles wird intensiv rezipiert, verlacht und gebrochen, ins Groteske verzerrt, eine Verzerrung, deren Schönheit wiederum der Präfekt, Herr Tarangolian sieht und als solche liebt und verteidigt.(25)

Die Geschwister aus dem Hermelin leben weiter in dem stetigen Zwiespalt zwischen Glaubenwollen und Erkennenmüssen. Sie wünschen sich die Offenbarung, sind aber von Tschernopol doch so realitätsnah erzogen worden, dass sie das Lächerliche finden, auch dort, wo sie es nicht bewusst suchen, dass sie es im Gegenteil gerade dort finden müssen, wo sie sich Gefährtenschaft und geistige Verwandtschaft erwarten. Sie sind unfähig zur bedingungslosen Identifikation mit anderen oder deren Gedanken.

Die Offenbarung der Kegelschnitte Gottes mag darin bestanden haben, dass die Protagonisten Sir Galahads, zwei edle Inder, auf ihrer lang ersehnten Europareise das Gegenteil von dem finden, was sie sich erhofft haben. Die Kegelschnitte Gottes ist eine sprachgewaltige Satire auf den europäischen Sumpf,(26) von dem die beiden Inder aber unberührt bleiben. Die heile Gegenwelt zur kaputten europäischen bleibt in den Kegelschnitten jenseits aller Satire bestehen. Doch gerade diese Illusion haben die Geschwister des Hermelin in Tschernopol verloren. Ihre Wahrheit ist die des Herrn Tarangolian geworden, „jenes undurchschaubaren Statthalters mit seinem trägen, irgendwie grausamen Despotismus“,(27) der noch im Judenpogrom, das die Kinder miterlebt haben, einen Witz sieht.(28)

 

II.

So wird Gregor von Rezzori zum Erzähler einer Welt der Gegensätze, die in ihrer damaligen Form nicht mehr existiert, zu einem, der weitgehend vergessene Namen wie den des Sir Galahad weitergibt, ohne ihn jedoch anders zu werten als auf seine typische bejahend-verneinende Weise, kurzum: Er wird zu einem ironischen Epochenverschlepper.(29)

Ich unterstelle dem Epochenverschlepper Gregor von Rezzori, die Zwiesprache mit Sir Galahad auch in anderen seiner Werke fortgeführt zu haben. Der Kegelschnitte-Roman als typisches Produkt der zwanziger Jahre fungiert in quasi stummem Dialog mit dem jeweiligen Erzähler auch an anderen Stellen des Rezzorischen Werkes(30) als Teil einer Kollage, obwohl der Romantitel und der Name der Autorin nicht mehr fallen(31) -  einer Kollage, die sich aus Alltagsgegenständen der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts zusammensetzt.

So verstehe ich auch die Kommentare Rezzoris im Greisengemurmel über Indien als einen Kommentar zu einer Asienverherrlichung, die nicht nur Sir Galahad, der Mode ihrer Zeit folgend, vertreten hat,(32) sondern die heute noch immer in Mode ist oder wieder in Mode gekommen ist:

"Und ich weiß warum ich's [Indien, SM] nicht so lieben kann wie sie's [B., seine Frau, SM] gern möchte. Schwierig zu erklären daß meine (schon als Kind erworbene) Intimkenntnis von Ländereien wie Bessarabien Wolhynien Galizien und Lodomerien mich hornhäutig gemacht hat gegen den Charme der dritten Welt. (Trachtenfarbigkeit und Wanzen; Frauen wie Blumen und die Syphilis.) Darüber hinaus war Indien seit jeher ein Brutkasten des Metaphysischen. Als Jungmann (im letzten Zipfel der Pubertät) war ich geistig viel dort: in der herkömmlichen religiösen Krise. Von so was trägt man Narben durchs Leben. Das Übersinnliche wird suspekt. Indien beherbergt mir zu viel Wundertäter."(33) 

Es gibt auch gemeinsame Aversionen im Werk Rezzoris und in Sir Galahads Kegelschnitten, eine Ironie, die in dieselbe Richtung geht, beispielsweise zu sehen in den Beschreibungen der Seancen, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts modern gewesen sind. Im zweiten Teil der Kegelschnitte sagt Madame Bavarowska über ein als Medium geeignetes Kind:

"Sonst ein liebes Kind, aber - wie Kinder schon einmal sind - nachlässig eben, immer ließ es beim Spazierengehen seinen Astralkörper hinten hinaushängen. Ununterbrochen hieß es da aufpassen und hinterdrein sein, um ihn, wenn nötig, zurückstopfen zu können. In Oxfordstreet sei es einmal deswegen fast zu einem Skandal gekommen, denn das Publikum - in Astralkörpern wenig erfahren - vermutete etwas Unsittliches und bohrte die Regenschirme hinein."(34)

Und bei Gregor von Rezzori in den Denkwürdigkeiten eines Antisemiten:

"Später, in der Kärtnerbar, wenn wir Minka Raubitschek die Treppe zum Waschraum abseilten, hatte ich viel Erfolg mit den Lehren des Ingenieurs Malik. 'Es ist nur ihre Materie, die niedersteigt', erklärte ich, 'ihre Seele bleibt inzwischen hier bei uns verkrallt in ihren Whisky. Aber paß auf, Minka! Stolpere nicht über deine astrale Nabelschnur!'"(35)

Auch in Rezzoris Novelle Kurze Reise übern langen Weg sehe ich den Geist des Inders Horus Elcho aus den Kegelschnitten, wo der Ich-Erzähler im Museum ein mongoloides Kind trifft, das von seinen Eltern vor die alten Meister gestellt wird:

"Es kam ihm als eine Profanierung vor, eine solche reine Unberührtheit vor diesen museal aufgewerteten Trödel zu schleppen, vor alle diese vom kollektiven Glaubensbedürfnis etablierten Werte, diese exhibitionistischen künstlerischen Höchstleistungen [...], die nicht viel anderes bewirken sollten als einen schnöden Gimpelfang der Seelen - auch heute noch: wenngleich nicht mehr zur Hingabe der Seele an einen Gott und seine Kirche, sondern zu deren Hinopferung an den Götzen Kunst (und letzten Endes den Großgötzen Geld). Er wurde wütend beim Gedanken an den Unverstand, die Hirnlosigkeit dieser Eltern, die den bedauernswerten Kretin solchen fragwürdigen Reizen aussetzten - in einer irrsinnigen Hoffnung vermutlich: weil sie sich gemäß irgendwelcher anthroposophisch angehauchter Ideen vom Anblick "Großer Kunst" Heilwirkung versprachen. Warum dann nicht gleich Lourdes? Im Miasma des Glaubens an eine Gottesmutter war dieses Gotteskind doch besser aufgehoben als hier, vor den Meisterstücken der begnadeten käuflichen Augenauswischerei und unter den Sammlern von kulturellen Ablaßzetteln."(36)

Hier bedient sich sogar Rezzori des Klischees vom "edlen Wilden", das allerdings nur vom Beobachter, dem Ich-Erzähler der Novelle reproduziert wird. Das mongoloide Kind selbst handelt nicht - anders als Horus und Gargi in den Kegelschnitten, die sich im Louvre umsehen und ihr abfälliges Urteil über europäische Kunst selbst fällen:

"Sie suchten den Ausgang, gerieten in eine Abteilung: Wandschmuck. Wozu ein sich selbst Erfüllendes, wie es die edlen Maße einer Wand sein sollen, 'schmücken'? [...] Am Anfang der Zeiten, schien es, hatten die Menschen nur das Allernötigste - jetzt, am Ende, nur das Allerunnötigste."(37)

Beide Autoren verarbeiten auch das Freßsucht-Motiv. Sir Galahads Protagonist trifft in Europa auf Helena Karachan, eine Freundin seiner Mutter, die unter dieser Krankheit leidet:

„'Ich habe die Freßsucht', und auf einen kleinen Lemur deutend, 'das ist mein Darmlakai – oder heißt es Internist, kurz einer, der eine Lebensrente dem einmaligen 'großen Schnitt' am Patienten vorzieht.' [...] Ihm schien, als wäre er hier zum erstenmal in Europa auf einen Menschen gestoßen, zum mindesten auf menschliche Überreste. Doch woher solcher Verfall – solcher Ruin? Er fühlte: diese blutigen Fleischstücke, diese Fisch- und Fettgerichte ohne Zahl – eigentlich fraß sie an ihnen immer nur wieder ihren Harm in sich hinein, wurde daran noch gelber, fetter und böser. Manchmal schien sie am Ziel: alles in pausenlosem Speisebrei breit animalisch zu ersticken.“(38)

In Rezzoris Der Tod meines Bruders Abel ist es der Landsmann des Ich-Erzählers, Jacob G. Brodny, an den sich dessen Monolog richtet, der den uneingestandenen Kummer des Heimatverlustes im Speisebrei erstickt, aber damit gleichzeitig zum Zerstörer dieser seiner alten Heimat wird - die Drosselpastete symbolisiert hier Europa.(39)

„Sie, Mister Brodny, saßen da und brachen von einer Stange feinem Weißbrot Brocken ab, die Sie mit lehmfarbener Pastete beschmierten und zwischen Ihre fetten Satrapenlippen schoben. Sie kauten sehr genüßlich, ernst und emsig und spülten den Speisebrei gelegentlich mit einem Schluck dunkelrotem Wein hinunter. Und dort, wo Ihr formbewahrend programmiertes eiweißbläuliches Nylonhemd sich gerinselig über Ihrem Brusthaar spannte, fraß ein schwarzer Käfer an Ihrem Herzen.“(40)

Zu guter Letzt weist auch der Titel von Rezzoris Idiotenführer durch die deutsche Gesellschaft auf ein gleichnamiges Werk Sir Galahads hin, auf den Idiotenführer durch die russische Literatur, erschienen 1925 bei Albert Langen in München.(41)

Ich fasse zusammen:

Sir Galahads Kegelschnitte Gottes sind bei Rezzori Teil einer Kollage, in der er die untergegangene Welt seiner Kindheit darstellt. In Ein Hermelin in Tschernopol machen zum ersten Mal Protagonisten Rezzoris die Bekanntschaft mit diesem Roman. Der Geist Tschernopols, in dem sie groß geworden sind, wirkt bestimmend auf die Lektüre des Buches. Doch auch die Protagonisten einiger weiterer Werke Rezzoris, sofern sie sich mit der Zeit des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigen, scheinen sich an einigen Stellen noch mit Sir Galahads Kegelschnitten auseinanderzusetzen.

 


Anmerkungen:

1   Claudio Magris: "Exeuropa - Gespräch mit Gregor von Rezzori", in: die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik, Jg. 35, Bd. 3/1990, S. 34-39, bes. S. 37.
2   Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg 1988, über Rezzori S.304-307, hier S. 306. Und noch genauer zu Rezzoris Erzählstil im Hermelin in Magris' Aufsatz "Das Blatt des Herrn Tarangolian", in: Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhard Baumann zum 60. Geburtstag, hg. v. Günter Schnitzler u.a., München 1980, S. 425-433, hier S. 430.
3   Ebd.
4   S. dazu Sigurd Paul Scheichl, "Eine Czernowitzer Literaturaffäre in der 'Fackel'. 'Aus Redaktion und Irrenhaus'", in: Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft, hg. v. Dietmar Goltschnigg, Tübingen 1990, S. 101-128.
5   Claudio Magris bezeichnet die "Wir"-Form im Hermelin als "erzählerischen Pluralis majestatis". S. ders.: "Das Blatt des Herrn Tarangolian", S. 425. Es ist in der Tat nicht auszumachen, um wie viele Geschwister es sich außer dem Ich-Erzähler und der namentlich erwähnten Schwester Tanja noch handelt. Dass es mehr als diese beiden sein müssen, zeigen Stellen wie: "Er stand unversehens zwischen uns, den Apfel in der Hand, und schaute uns, einen nach dem anderen, prüfend an, als müßte er wie Paris sich entscheiden, wem er ihn schenken solle. Schließlich reichte er ihn Tanja. Und während wir anderen noch darauf lauerten, daß Tanja ihn dankend zurückweisen würde, nahm sie ihn mit einem aufmerksamen Blick, der seiner makellosen Schönheit galt, vollkommen unangefochten entgegen, knickste dann artig und wandte sich wieder uns zu, in der Erwartung, daß wir unser Spiel nun weiterführten." S. Gregor von Rezzori, Ein Hermelin in Tschernopol, Berlin 2004, S. 156. (Alle weiteren Zitate aus dem Hermelin sind ebenfalls der Berliner Werkausgabe entnommen.)
6   Hermelin, S. 222f.
7   Hermelin, S. 249
8   Hermelin, S. 285; 305.
9   Hermelin, S. 303. Adamowski ist Redakteur und gehört zu den Volksdeutschen der Stadt Tschernopol.
10 Hermelin, S. 304.
11 Zur deutschen Kultur in Czernowitz s. Kurt Rein: "Politische und kulturgeschichtliche Grundlagen der 'deutschsprachigen Literatur der Bukowina'", in: Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft, hg. v. Dietmar Goltschnigg, Tübingen 1990, S. 27-48.
12 Hermelin, S. 247f.
13 „Weil wir aber das Mißverhältnis dieses literarischen Austausches eingesehen hatten, brachten wir ihr das nächste Mal Die Heilige und ihr Narr von Agnes Günther mit, ein Buch, das unsere Tante Elvira mit viel Ergriffenheit las, und das wir uns erbettelten, angeblich, um es Fräulein Zehrer zu bringen. Wir fanden, Blanche sei ganz und gar das 'Seelchen', von dem darin die Rede ist – ein Mißverständnis, dessen Grausamkeit wir später einsehen lernten. Blanche muß uns für das eingeschätzt haben, was wir waren. Ihr nächstes Geschenk an uns war Kiplings Dschungelbuch.“ Hermelin, S. 249f.
14 Hermelin, S. 291ff.
15 Major Tildy ist wie die Geschwister Österreicher und gehört im nunmehr rumänischen Tschernopol keiner der größeren nationalen Gruppen an. Darüber hinaus passt er mit seinem Ehrgefühl und seinem mangelnden Sinn für Humor nicht nach Tschernopol. Nachdem er sich nicht gescheut hat, zwei seiner Vorgesetzten zum Duell aufzufordern, weil sie die Ehre seiner Schwägerin, einer stadtbekannten Prostituierten, angegriffen haben, wird er zur Beobachtung ins Irrenhaus eingewiesen.
Bevor es zu diesen Ereignissen kommt, stellt ein rumänischer Dichter aus Tschernopol Major Tildy die Frage, wann er sein Gesicht verlieren werde und drückt damit das allgemeine Unbehagen aus, das die Tschernopoler in der Gegenwart des unnahbaren Majors verspüren. Hermelin, S. 113.
16 Hermelin, S. 292f.
17 Hermelin, S. 312f. Zum Tschernopoler Lachen, das laut dem Erzähler ein Spezifikum der Stadt ist, vgl. Hermelin, S. 29ff.
18 Kurz zusammengefasst: Mit Schadenfreude nimmt die rumänische Presse Tschernopols die Entlarvung des vermeintlichen Dichters Karl Pjehowitsch auf und polemisiert gegen "die Deutschen" (da Pjehowitsch ja deutschsprachige Gedichte reproduziert hat). Diese, nämlich die Tschernopoler Volksdeutschen, waschen sich von dem Vorwurf rein, den Namen Goethes durch Beifügung Karl Pjehowitschs ins Lächerliche gezogen zu haben und geben die Schuld an dem peinlichen Skandal wiederum den (ebenfalls deutschsprachigen) Juden. Hermelin, S. 330ff. Zum historischen Literaturskandal in Czernowitz vgl. den Aufsatz S. P. Scheichls: FN 4.
29 Hermelin, S. 395.
20 Hermelin, S. 398.
21 Michail Bulgakow, Der Meister und Margarita – der Tod des Chefredakteurs Michail Alexandrowitsch Berlioz zu Beginn des Romans. Zum Tod Tildys s. Hermelin, S. 458.
22 Hermelin, S. 33.
23 Hermelin, S. 59.
24 Tildys "Gesichtsverlust" wird von Claudio Magris gedeutet als Ende und Vernichtung einer jahrhundertealten Gestalt der österreichischen Literatur. S. Ders., Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, S.305. Aber ich denke dabei auch an andere Gestalten des Hermelin: den alten Paschkano zum Beispiel oder Frau Ljubanarow oder den Obersten Turturiuk.
25 Vgl. Claudio Magris: „Das Blatt des Herrn Tarangolian“, S. 425-433.
26 Vgl. Rudi Schweikert, Arno Schmidt und Sir Galahad, Frankfurt/M. und Wiesenbach 1995, S. 26.
27 S. Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, S. 306.
28 Ausgehend von einer Anekdote, die man sich in Tschernopol aus der Pogromnacht erzählte: „Denn man erzählt sich, daß in jener Nacht ein riesenhafter Wachmann – also ein Hüter der Ordnung, der doch zum Schutz der Juden gegen die Antisemiten befohlen war – mit hochgeschwungenem Gewehrkolben auf einen kleinen Juden losgefahren sei. Der schreit: Halt! Was ist?! Ich bin doch kein Hakenkreuzler! Darauf der Wachmann: Aber ich!“ kommentiert Herr Tarangolian: „'Ich kann mir nichts Bezeichnenderes für Tschernopol denken', sagte er. 'Dieser aus vierzig Toten filtrierte Witz erscheint mir wie ein Ideogramm unserer Stadt, das alle Elemente ihrer geistigen Struktur in einem Bild enthält. Sie läßt mich an die sonderbare Alternative Tildys denken – ich meine sein Entweder-Oder, ob es sich um eine gerechte oder eine witzige Lösung handle. Nirgendwo ist die fatale Witzigkeit des kraß Ungerechten so deutlich gemacht wie hier – aber eben als Witz, in der moralischen Funktion des Witzes: in seiner blitzlichtartigen Beleuchtung der einzig wahren, unumstößlich realen Wirklichkeit im Paradoxon. Was heißt denn Zerstörung, Zersetzung? Ich entsinne mich, daß ich irgendwo einmal ein verwittertes Blatt gefunden habe. Es war bis auf das schleierzarte Geäder seiner Rippen zerstört. So war es ungemein schön geworden, ein Kunstwerk der Natur, auf sein Wesentlichstes reduziert, geordnet, zur Idee zusammengezogen. Aber doch wiederum nur das Paradoxon seiner selbst in der Nutzlosigkeit dieser Rippen, die nichts mehr zusammenhielten, sozusagen der Witz von einem Blatt – etwa wie das Skelett der makabre Witz von einem Menschen ist. Und doch schien es mir, als wäre ihm in der Zerstörung bis auf diese Skizzenform die äußerste Gerechtigkeit widerfahren, die einem Blatt zuteil werden kann...'“ Hermelin, S. 407f.
29 Als "Epochenverschlepper" hat sich Rezzori selbst immer wieder bezeichnet. S. beispielsweise Gregor von Rezzori, Mir auf der Spur, München 1997, S. 13f.
30 Ich denke hier neben dem Hermelin vor allem an die Denkwürdigkeiten eines Antisemiten (1979), Ödipus siegt bei Stalingrad (1954), einige Teile aus Der Tod meines Bruders Abel (1976), Teile seiner „Farce“ Kurze Reise übern langen Weg (1986), oder aus dem Greisengemurmel (1994).
31 Die zweite Stelle im Rezzorischen Gesamtwerk, an der Sir Galahad namentlich erwähnt wird, in: Blumen im Schnee, München 1989, S. 122f, als Lieblingslektüre der Mutter, kann hier unberücksichtigt bleiben.
32 Vgl. Sibylle Mulot-Déri, Sir Galahad. Porträt einer Verschollenen, Frankfurt/M. 1987, S. 31.
33 Gregor von Rezzori, Greisengemurmel, Berlin 2005, S. 109.
34 Sir Galahad, Die Kegelschnitte Gottes, München 1926, S. 193.
35 Gregor von Rezzori, Denkwürdigkeiten eines Antisemiten, Berlin 2004, S. 217.
36 Gregor von Rezzori, Kurze Reise übern langen Weg, Berlin 2007, S. 117f.
37 Sir Galahad, Die Kegelschnitte Gottes, München 1926, S. 165f.
38 Sir Galahad, Die Kegelschnitte Gottes, München 1926, S. 212f.
39 Vgl. Gerald Beyrodt: "Die Irrwege Kains", in: die horen, Jg. 35, Bd. 3/1990, S. 83.
40 Gregor von Rezzori, Der Tod meines Bruders Abel, München 1976, S. 182f.
41 S. Stefan Dornuf, Der Lieblingsmops als Grabbeigabe, München 2006, S.36.

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Sophie Meyer: Sir Galahad bei Rezzori - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/8-9/8-9_meyer17.htm

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