Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Arbeit, Technologie, Ökonomie, Kunst und Wissensgesellschaft | Trabajo, Tecnologia, Economia, Arte y Sociedad del Conocimiento SektionsleiterInnen | Section Chairs: Jorge Bauer (Universität Buenos Aires, Argentinien), Andrea Holzmann-Jenkins (Wissenschaftszentrum Wien) und Roberto Aguirre (Instituto Nacional del Teatro, Buenos Aires) |
Alter und technische Neuerungen
Alfredo Bauer (Buenos Aires) [BIO]
Email: alfredobauer@ciudad.com.ar
Abstract
Wer als alter Mann auf sein Leben zurückblickt, das er in wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeit verbracht hat, sieht sich gezwungen, auf die vielen technischen Veränderungen einzigehen, welche die geistige Arbeit seit der eigenen Jugend durchlaufen hat. Sehr viele technische Neuerungen haben die geistige Arbeit zweifellos erleichtert. Internet und Vervollkommnung der Verlags-Technik vermindern ganz gewiss sehr gründlich den Zeitaufwand, der Vorarbeiten, die zur Erarbeitung eines Werks nötig sind. Untersucht wird hier, in welchem Ausmass der geistig Schaffende sich den im Laufe seines Lebens neu aufkommenden technischen Neuerungen anpassen kann und wie weit er, da er das nicht schafft, es den Jüngeren überlassen muss.
Alter und technische Neuerungen, Milieu und Anpassungs-Fähigkeit
Der tierische Organismus hat die Fähigkeit, sich den Veränderungen seiner Umwelt anzupassen und sogar, in gewissem Ausmass, darauf vorbereitet zu sein. Bei den höher entwickelten Tieren befindet sich der Sitz dieser Anpassungs-Fähigkeit im Zentralen Nerven-System. Der russische Physiologe Iwan Petrowitsch Pawlow hat in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts herausgefunden, auf welche Art dieser Anpassungs-Prozess vonstatten geht. Bestimmte Wahrnehmungen werden, mehrmals wiederholt, zu ¨Signalen¨, die in ähnlichen Situationen den Organismus in adäquater Weise reagieren lassen.
Beim Menschen hat sich dieser Mechanismus in höchstem Masse kompliziert und dadurch qualitativ verändert. Ein ¨Zweites Signal-System¨ hat sich herausgebildet: in der Sprache wirkt nicht nur der Laut, sondern auch der Sinn des Wortes auf das Zentrale Nerven-System und setzt das Individuum in Stand, auch auf geistige, kulturelle Gegebenheiten zu reagieren bzw. auf Ereignisse solcher Art vorbereitet zu sein. Der Mensch lebt also, zum Unterschied vom Tier, nicht nur in der Natur, sondern auch in der Gesellschaft.
Was haben solche Darlegungen aus der Sphäre der Physiologie mit dem hier zu behandelnden Thema zu tun? Nun, wir können durch sie uns darüber im Klaren sein, dass und wie der Mensch, indem eine bestimmte Umwelt auf ihn einwirkt, ¨lernt¨ , dass er dann also befähigt ist, sich in dieser Umwelt adäquat zu verhalten.
Die Umwelt aber, in der der Mensch lebt, verändert sich, und in der Gegenwart tut sie das mit einer Geschwindigkeit, die frühere Generationen sich überhaupt nicht vorstellen konnten. Das menschliche Individuum ist weitgehend befähigt, seine Reaktion auf die sich verändernde Umwelt ebenfalls zu verändern und sich dadurch weiterhin adäquat zu verhalten. Doch können wir nicht übersehen, dass dieser Anpassungs-Fähigkeit Grenden gesetzt sind.
Allein schon durch die inmanente und permanente Identität des Individuums mit sich selbst, ohne die letzten Endes nicht nur die Bewahrung der überkommenen Werte, sondern auch die Schaffung von neuen nicht möglich wäre. Identität und Variabilität bilden jedenfalls eine dialektische Einheit, die in ihrem Widerspruch und durch ihn in hohem Masse schöpferisch ist.
Dennoch ist es letzten Endes deshalb, dass der einzelne Mensch sterben muss, dass die Generationen einander ablösen, damit die Gesellschaft, damit die Menschheit der veränderten Umwelt weiter angepasst sein kann.
Das ist allerdings immer so gewesen. Jedoch die oben erwähnte rasende Geschwindigkeit der historisch-sozialen und kulturellen Veränderung stellt uns doch vor neue Gegebenheiten, die wir richtig einschätzen und gegenüber denen wir uns richtig verhalten müssen.
Ich möchte hier zunächst zwei historisch und kulturell völlig neue Gegebenheiten hervorheben, die prinzipiell jede schöpferische Arbeit grundlegend verändern: das Internet und das völlig umgestaltete Verlagswesen. Das Quellen-Studium und überhaupt jede derartige Vorarbeit hatte einen solchen Grad der Kompliziertheit erreicht, dass sie in der Wissenschaft nur durch Team-Arbeit und in der Literatur gar nicht zu bewältigen war. Das Internet und das Computer-Wesen haben es bewirkt, dass, was früher schier unmöglich war, nicht nur überhaupt, sondern sogar ziemlich leicht durchgeführt werden kann. Und die Herausgabe eines Buches hat sich nicht nur technisch masslos vereinfacht, sondern sie ist infolgedessen auch viel schneller und viel billiger geworden.
Wir wissen freilich, -und das nicht erst seitdem Friedrich Engels es hervorhob!-, dass jeder historische Fortschritt in sich selbst einen Rückschritt beinhaltet. In welchem Ausmass solche Technifizierung, die wie jeder technische Fortschritt natürlich zu begrüssen ist, doch jede schöpferische Tätigkeit, zumal die des Genies, beeinträchtigt, wird sicher noch zu untersuchen sein. Hier freilich handelt es sich nur darum, ob und wie weit der Wissenschaftler und der Literat sich an die technischen Neuerungen, die im Laufe seines Lebens um ihn herum stattfanden, anpassen und mit ihnen umgehen kann, oder ob er die Arbeit mit den neuen Methoden den der seinen folgenden Generationen überlassen muss.
Natürlich kann und muss es da zwischen Mensch und Mensch erhebliche Unterschiede geben. Was mich betrifft, so habe ich zu Beginn meiner schriftstellerischen Tätigkeit, also vor mehr als sechs Jahrzehnten, gemacht, was damals alle machten und heute keiner mehr macht: bin in Bibliotheken gesessen und habe aus Büchern verschiedener Grösse die Daten und zum Teil auch die Ideen herausgesucht, die in das auszuarbeitende Werk Eingang finden sollten. Nicht nur die Jüngeren, sondern auch viele der Kollegen meiner Generation, haben geschafft, was ich nicht geschafft habe und wohl auch nur in geringem Ausmass schaffen werde: sie sind in der Welt des Internet zu Hause und wissen sie zu nutzen. Da sie aber auch so manches Gute, das die Jüngeren gar nicht mitgekriegt haben, bewahren und ebenfalls nutzen, kommt bei ihnen oft genug ein beachtliches Stück Literatur zustande.
So manches Problem des Schriftstellers ist, -Gott sei´s geklagt!-, zumal bei uns kleinen, trotz der stattgehabten technischen Wandlungen erhalten geblieben: der Kampf um den Verleger; und dann wohl auch der um den Konsumenten des literarischen Produkts.
Aber nicht nur auf dem Gebiet der Technik vollziehen sich die Wandlungen mit rasender Geschwindigkeit; sondern auch auf dem der Kultur und der Moral. Mein Büchlein ¨Sexo, Moral, Felicidad (Geschlecht, Moral Glúck) beispielsweise, verlegt im Jahre 1978, hat ein kleines Erdbeben bewirkt. Ja, sein Vertrieb wurde verboten, ¨weil es der katholischen Deontologie und Moral widersprach¨. Und das stimmte vermutlich, denn es postulierte ja wirklich für alle männlichen und weiblichen Menschenwesen die freie Verfügung über sich selbst und über den eigenen Körper. Damals herrschte in Argentinien jene berüchtigte, blutige Militär-Diktatur, durch die 30.000 Menschen, die nichts Schlimmeres getan hatten als ich, zu Tode gefoltert wurden und spurlos verschwanden. Immerhin war es auch damals, durch den tapferen Beisstand des Argentinischen Schriftsteller-Verbandes möglich zu erreichen, dass das Verbot des Buches aufgehoben wurde.
Aber freilich, dieses Verbot war ganz im Sinne jener schwärzesten Reaktion, deren Tradition sich von der Hexen- und Ketzer-Verfolgung herschreibt und deren Verfolgung sich wahrhaftig nicht auf die Freiheit in der Liebe beschränkt. Doch auch in fortschritt-lichen und linken Kreisen gab es neben begeisterter Zustimmung auch geharnischte Proteste. Selbst innerhalb der stark links orientierten Partei, der ich angehörte und weiter angehöre, gab es leitende Genossen, die dem parteinahen Verlag sehr übel nahmen, dass er mein Büchlein herausgegeben hatte. Da wurde das Argument geäussert, das schon Wilhelm Reich zu hören bekam: dass nämlich die Überschätzung des Sexuellen die Jugend vom revolutionären Kampf abhalte¨.
Dass heute, auch in Argentinien, auf der Linken solche im Grunde anti-humanistischen Ideen hinsichtlich der sexuellen Freiheit völlig überwunden sind, muss kaum gesagt werden. Aber im Denken der Menschen überhaupt hat da ein solcher Wandel stattgefunden, dass jüngere Leute es oft gar nicht glauben können, dass vor kaum dreissig Jahren derartige Behauptungen und Forderungen eine so bedeutende Wirkung haben konnten. Sicher hat es diesen Konflikt in Mittel-Europa, wenn überhaupt, nur zu viel früherer Zeit gegeben als in Lateinamerika. Und freilich, der ¨Machismo¨ besteht, kaum gemildert, im hispanischen Kulturkreis hartnäckig weiter.
Ich habe über das Thema ¨Geschlecht und Gesellschaft¨ noch manches andere geschrieben und dabei auch hervorgehoben, dass in manchen Aspekten, wie etwa auch beim Antisemitismus, zumindest zeitweise die Tradition, die nationale Kultur eines Landes eine entscheidendere Wirkung haben kann als die Ideologie.
Ich bin mir ganz dessen bewusst, dass ich mich hinsichtlich der schnellen Veränderung des Milieus, in dem wir leben, keineswegs allein auf dessen materielle Seite bezogen habe. Das wäre gewiss auch ganz verfehlt gewesen. Denn im Unterschied zum Tier lebt der Mensch, eben durch das ihm eigene Pawlow´sche ¨Zweite Signal-System¨, nicht nur im materiellen, sondern auch und vor allem im geistigen und sozialen Milieu. Und auf unsere Reaktion darauf, auf unsere Fähigkeit der Anpassung an dasselbe und auf die ihr gesetzten Grenzen musste zumal Bezug genommen werden.
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