Andreas Brandtner (Wien)
Die Profilierung der Archive in der Informationsgesellschaft
Die Konturen der Informationsgesellschaft(1) zeichnen sich gegenwärtig besonders deutlich auch im Bereich der Bibliotheken ab. Verlangt doch die Weiterentwicklung von Wissenschaft, Forschung, Bildung, Kultur, Wirtschaft und Technik etc. eine leistungsaktive Literatur- und Informationsversorgung. Die innovativen Informations-, Telematik- und Kommunikationstechnologien erweitern dabei die Möglichkeiten der Bereitstellung von Informationen qualitativ und quantitativ in einem derzeit scheinbar sprunghaft steigenden Ausmaß. Die Bibliotheken haben bereits damit begonnen, sich auf diese gesellschaftlichen Veränderungen einzustellen und auf den Einsatz hochentwickelter Informations- und Kommunikationstechnologie umzuschalten, um ihre Arbeitseffizienz zu steigern und ihr Serviceangebot zu verbessern.
Anders verhält sich noch der Bereich der Archive und der hier besonders interessierende Sektor der Literaturarchive - ein Organisationstyp, der sich im späten 19. Jahrhundert auf die Anregung Wilhelm Diltheys hin, die Tradierung der Handschriften als nationale Aufgabe zu betrachten und infolgedessen zu institutionalisieren, ausdifferenziert hat.(2) Die Gründe für die zurückgebliebene Entwicklung liegen zum Teil im Sammelbereich der Archive selbst: Im Unterschied zu print-material werden Handschriften nur ein einziges Mal von der jeweils aufbewahrenden Institution verzeichnet. Da sich die Referenzdaten folglich nur auf ein individuelles Objekt beziehen, haben die Katalogisierungsstandards in diesem Bereich weder den Status nationaler oder gar internationaler Kompatibilität erreicht. Diese Uneinheitlichkeit in der Erschließungspraxis und die Weiterführung traditioneller Karteisysteme wehrten bislang auch weitgehend den Einsatz moderner Technologien innerhalb der Literaturarchiv-Szene Österreichs ab. Diese ist gegenwärtig ausgeprägt föderalistisch strukturiert. Im Unterschied zu Deutschland mit seinem zentralen Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach, das 1956 errichtet wurde, gründete man in Österreich vergleichsweise spät ein nationales Literaturarchiv: Erst 1989 wurde das Österreichische Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLA) in Wien eingerichtet, exakt 100 Jahre nach der Forderung Diltheys, "in Wien ein österreichisches Literaturarchiv"(3) zu eröffnen.
Daneben verfügen die meisten Bundesländer über regionale Literaturarchive. Weiters verwalten auch die Handschriftensammlungen von Bibliotheken, Landesarchive, Dokumentationsstellen, Literaturhäuser, Archive wissenschaftlicher und musealer Einrichtungen etc. Handschriften. Mit der Einsetzung des Österreichischen Literaturarchivs als Abteilung der Nationalbibliothek besteht nun eine Institution, die den Auftrag hat, die österreichische Verwaltung literarischer Handschriften zu koordinieren. Damit ist strukturell die Chance gegeben, unter Ausnutzung moderner Technologien einen Entwicklungssprung im Bereich der kommunikativen Möglichkeiten der Archive auf einem gemeinsamen Niveau zu forcieren. Um diese Absicht umsetzen zu können, wurde vom Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten ein Forschungsauftrag an die Österreichische Nationalbibliothek vergeben. Die Aufgabe des damit finanzierten Projekts "Koordination der datenunterstützten Vernetzung österreichischer Literaturarchive - Erhebung und Kompatibilitätsprüfung"(4) besteht darin, eine Datenkoordination zwischen den Literaturarchiven Österreichs vorzubereiten. Das seit 1. März 1997 laufende Vorhaben steht unter der Projektleitung des Direktors des Österreichischen Literaturarchivs, Univ.-Prof. Dr. Wendelin Schmidt-Dengler, und wird von Mag. Andreas Brandtner durchgeführt.
Selbstredend kann dieses Koordinationsvorhaben auf einer Reihe von Vorarbeiten aufbauen. Hervorzuheben sind dabei besonders die Verzeichnung der Nachlässe und Sammlungen österreichischer Autoren, die Murray G. Hall und Gerhard Renner mit ihren Katalogen vorgenommen haben(5), und natürlich die Rolle des Brenner-Archivs, das als einziges Archiv dem Verbund wissenschaftlicher Bibliotheken Österreichs beigetreten ist und dessen erschlossener Bestand über BIBOS abgerufen werden kann. Die konkreten Ziele des Vernetzungsprojekts liegen vorerst in der Vereinheitlichung der Erschließungspraxis unter den Archiven und in der Folge in der Definition der Voraussetzungen, die für eine Vernetzung der kooperierenden Institutionen nötig sind.
Bevor die sich dabei stellenden Problembereiche und Aufgabenhorizonte kursorisch umrissen werden sollen, sind noch zwei Vorbemerkungen einzuschieben. Diese erscheinen insofern notwendig, als dieser Bericht über den Aufbau einer Infra- und Kommunikationsstruktur wenig Zeit finden wird, die Relevanz der Literaturarchive für die Kultur- und Literaturwissenschaft zu erinnern. Dies scheint aber angesichts einer strikt ausdifferenzierten Literaturwissenschaft zur Förderung intradisziplinärer Kommunikation unabdingbar zu sein. In der unübersichtlichen Disziplin der Germanistik wird es wohl zusehends notwendiger werden, die Schnittstellen zwischen den einzelnen Arbeits- und Kompetenzbereichen zu prüfen und ihr Funktionieren sicherzustellen:
Erste Vorbemerkung: Die Qualität literaturwissenschaftlicher Praxis und auch literaturtheoretischer Reflexion ist direkt abhängig von der zur Verfügung stehenden Datenbasis und dem spezifischen Bewußtsein davon. Kann eine Literaturwissenschaft vermehrt auf Handschriften und Autographen rekurrieren, werden sich auch die Schwerpunkte der Forschung und Theoriebildung entsprechend verschieben und rekonstituieren. Im Sinn einer Unterstützung einer differenzierten Rekonstruktion von Textualität, die im besonderen Maße die Kenntnis handschriftlicher Texttraditionen verlangt, wird folglich darauf zu achten sein, Handschriften den relevanten Teilbereichen der Forschung und den jeweils interessierten Teilöffentlichkeiten in möglichst optimaler Form zugänglich zu machen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist dies nur mehr mit Hilfe der aktuellen Informationstechnologien zu gewährleisten.
Zweite Vorbemerkung: Die spezifische Verfügbarmachung der Information trifft eine wichtige Vorentscheidung über die Möglichkeit literaturwissenschaftlicher Recherche und damit auch Objektkonstitution. So gibt z. B. das einer Datenbank installierte Search- & Retrieval-System eindeutig die Befragbarkeit der Daten voraus. Überspitzt formuliert: Die Struktur der suchbaren Kategorien definiert die Topik der Literaturwissenschaft mit. Für den Bereich literaturarchivalischer Praxis ist hier besonders die inhaltliche Erschließung zu bedenken. Die Andeutung des Trilemmas zwischen dem berechtigten Interesse der Forschung, der Überforderung der Archive und der Notwendigkeit einer standardisierten Darstellung inhaltlicher Aspekte - etwa in Anbindung an die Schlagwortnormdatei - soll hier ausreichen, um die Wichtigkeit der gestellten Aufgaben zu unterstreichen.
Spektrum der Kooperationspartner
Erste Arbeitsaufgabe des Projekts war die Zusammenstellung der Institutionen, die an dem Vorhaben, einen nationalen Autographen-Datenpool zu etablieren, partizipieren sollten. Dieser prinzipiell offene Rekrutierungsprozeß(6) richtete sich in erster Linie an sämtliche Literaturarchive im engeren Sinn, Literaturhäuser, Landesarchive sowie überregionale Archive und Handschriftensammlungen wissenschaftlicher Bibliotheken. Diese Projektphase verdeutlichte die große Akzeptanz des Projektziels unter den österreichischen Archiven und bestätigte damit die Vermutung, daß eine Kooperation im Bereich der Autographenverwaltung allgemein als Desiderat empfunden wird. So konnten bislang 34 Institutionen für die Zusammenarbeit gewonnen werden. Darunter befinden sich - um nur einige zu nennen - das Franz-Michael-Felder-Archiv (Bregenz), die Abteilung für Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Graz, das Franz Nabl Institut für Literaturforschung (Graz), das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, das Forschungsinstitut Brenner-Archiv (Innsbruck), das Robert-Musil-Institut für Literaturforschung (Klagenfurt), das Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich (Linz), das Literaturhaus Wien, die Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek und die Handschriften-, Autographen- und Nachlaß-Sammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (Wien).
Die Projekt-Integration dieser Einrichtungen, die sich in Status, Trägerschaft, Organisation, Kapazität, Bestand, Erwerbungsmöglichkeiten, Erschließungsdichte und -tiefe, Computerisierung etc. massiv unterscheiden, kann nicht anders als über eine modulare Konstruktion erfolgen. Dabei legt jeder Kooperationspartner seinen individuellen Bedarf und seine spezifischen Kooperationsinteressen sowie -möglichkeiten fest, die dann unter Wahrung der erforderlichen Standards berücksichtigt werden. Zentral zu beachten bleibt, sowohl Insellösungen als auch unkoordinierte Mehrfacharbeiten zu vermeiden und archivalische sowie bibliothekarische Kompetenzen auszutauschen und auf einem einheitlichen Niveau permanent zu optimieren.
Erhebung des Ist-Zustands
Im Anschluß an die Zusammenstellung und grundsätzliche Information der in Kooperation tretenden Archive wurde eine Recherche an diesen Institutionen durchgeführt, in der die für das Projektvorhaben notwendigen Daten erhoben wurden und in der sich die spezifischen Kooperationsinteressen und -möglichkeiten abklären ließen. Diese Recherche hatte vor allem den Ist-Zustand der Archive hinsichtlich ihres Bestands,(7) der Regelung der Nachlaßerschließung, der Vorarbeiten im Bereich der Thesauri und eines kontrollierten Vokabulars, des Einsatzes von Normdateien und einer eventuell bereits eingeleiteten EDV-Stützung der Handschriftenaufnahme zu registrieren.
Diese Erhebung zusammenfassend kann festgehalten werden, daß nach der Recherche einige Vorannahmen des Projekts in bezug auf den Ist-Zustand der österreichischen Archive und damit auch Teile des Projektinhalts korrigiert werden mußten. Diese Berichtigungen betreffen vor allem die beiden zentralen Momente der Regelwerksorientierung und des Stands der EDV-gestützten Erschließung:
Hinsichtlich der Regelwerksorientierung bei der Handschriftenerschließung konnte die Fehlannahme ausgeräumt werden, daß ein Teil der österreichischen Archive seine Bestände nach den Königschen Richtlinien(8) aufnimmt. Vielmehr hat sich gezeigt, daß einzig das Brenner-Archiv(9), an dem dieses Regelwerk entwickelt wurde, konsequent nach König erschließt. Andere Archive hatten sich bloß kurzfristig an diesen Richtlinien orientiert, waren dann aber wieder zu hausinternen Festlegungen zurückgekehrt.
In bezug auf die EDV-Erschließung zeigte sich, daß der Stand der Entwicklung an den Archiven nicht so weit fortgeschritten ist, wie eingangs angenommen wurde. Neben dem Brenner-Archiv, das selbst keine Datenbank führt, aber als Teilnehmer am wissenschaftlichen Bibliothekenverbund Daten maschinenlesbar zur Eingabe in BIBOS liefert(10), können zwar die Forschungsstelle und das Dokumentationszentrum für österreichische Philosophie, das Steiermärkische Landesarchiv, die Abteilung für Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Graz, das Franz-Michael-Felder-Archiv und das Literaturhaus Wien auf eine EDV-gestützte Aufnahme verweisen, ohne jedoch in den meisten Fällen eine zufriedenstellende Lösung gefunden zu haben. Mit Ausnahme des Brenner-Archivs, das in seiner Rolle als Verbundteilnehmer im Nachfolgeverbund neu definiert werden muß, des Felder-Archivs, das seine Erschließung in die Handschriftendatenbank allegro-HANS(11) fortführen wird, und dem Steiermärkischen Landesarchiv, das eine breit angelegte Datenbanklösung auf Oracle-Basis erarbeitet hat(12), wird keines der derzeit eingesetzten Systeme weitergeführt werden, da ihre Inadäquanz evident erscheint. An der Mehrzahl der österreichischen Literaturarchive wird der Bestand aber noch in Karteien aufgenommen. Ein bedeutender Teil dieser Institutionen steht allerdings kurz vor der EDV-Implementierung und ist folglich von einer Datenbank-Koordination unmittelbar betroffen.
Dieser kursorische Situationsbericht über die österreichischen Archive läßt sowohl hinsichtlich der Regelwerksorientierung als auch der EDV-Lösungen auf große Flexibilität schließen, da keine langfristigen Bindungen und Verpflichtungen eingegangen wurden. Weiters erscheinen österreichweit beide Aspekte als bedeutende Defizite, die den Handlungsspielraum der Archive wesentlich einschränken und folglich eine rasche und effiziente Lösung verlangen. Zur erfolgreichen Realisierung des Projektvorhabens sind folglich diese Problembereiche - erstens der archivalische Aspekt einer national standardisierten Autographenerschließung und zweitens der technologische Aspekt der Datenverwaltung und -vernetzung - produktiv zu vermitteln. Die erarbeiteten Ergebnisse sollen auch für eine weitere Entwicklung hinsichtlich internationaler Standards, der multimedialen Wiedergabe (z. B. von Audio-Daten oder eingescannten Handschriften) und der Verbindung zu diversen Normdateien offenstehen. Bei den Normdateien kommen vor allem die Gemeinsame Körperschaftsdatei (GKD), die Personennamendatei (PND), die (Österreichische) Schlagwortnormdatei (SWD/ÖSWD), und die (Österreichische) Zeitschriftendatenbank (ZDB/ÖZDB) in Betracht.
Erster Kernbereich des Projekts: Vereinheitlichung der Erschließungspraxis
Entsprechend der Erhebung des Ist-Zustands der Archive besteht österreichweit keine einheitliche Regelung der Erschließung handschriftlicher Dokumente. Neben den von Christoph König erarbeiteten Vorgaben und den "Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen" (RNA)(13), die an den Richtlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Handschriftenkatalogisierung(14) ausgerichtet sind, wird gemäß Richtlinien, die ohne Abstimmung auf allgemeinverbindliche Standards nach hausinternem Eigenbedarf erstellt wurden, aufgenommen. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse einer Prüfung der unterschiedlichen Regelwerke zur Handschriftenaufnahme, bei der die Königschen Richtlinien, die RNA und die Erschließungsgrundsätze des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA)(15) zur Diskussion standen, wurden die favorisierten RNA als gemeinsamer Bezugspunkt für die Österreich-Koordination gewählt. Dies hat allerdings keineswegs die Konsequenz, daß den anderen Regelwerken damit nur mehr historische Bedeutung zugewiesen wird. So handelt die Arbeit von Christoph König eine Reihe wichtiger Fragekomplexe ab, auf die die RNA nicht eingehen und explizit auch nicht eingehen wollen.
Der für die projektierte Vernetzung zwingende Vorteil der RNA liegt in ihrer Umsetzung auf das internationale Format MAB2, das "Maschinelle Austauschformat für Bibliotheken". Schnittstellen, die die UNIMARC-Formate und MAB2 zusammenrechnen, werden auf diese Weise kompatibel einsetzbar sein. Hinsichtlich der Aufnahme unterscheiden die vom Unterausschuß der Nachlaßerschließung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) erstellten RNA obligatorische von fakultativen Beschreibungskategorien. Erstere müssen bei einer Datenlieferung an die Zentralkartei bzw. -datei der Autographen in Berlin unbedingt besetzt werden, letztere sind zu besetzen, wenn entsprechende Daten und Informationen vorliegen bzw. mit vertretbarem Aufwand ermittelt werden können.(16) Für die Anwendung der RNA in Österreich wurden die obligatorischen Kategorien als nationale Minimalaufnahme vorgeschlagen, da dieser knappe Regelbestand eine eindeutige Identifizierung der Archivalien garantiert. Die Besetzung der fakultativen kann individuell nach den Erfordernissen, Interessen und Kapazitäten der unterschiedlichen Institutionen geregelt werden. Bei der Aufnahme von Werkmanuskripten z. B. zählen zu den obligatorischen Beschreibungskategorien die Angabe der Person bzw. der Körperschaft, die Zugehörigkeit zur jeweiligen Nachlaßgruppe, der Titel der Unterlage, die Kollation sowie Benutzungsbeschränkungen und Sperrvermerk; die fakultativen Kategorien beinhalten dann den Einheitstitel, Entstehungsort und -datum, die inhaltliche Erschließung etc.
Im Zuge der Erhebung des Ist-Zustands der österreichischen Literaturarchive wurden die RNA an den einzelnen Institutionen vorgestellt und die Erfordernisse eines obligatorischen Kategoriensatzes mit der bisherigen Praxis und den künftigen Möglichkeiten der jeweiligen Archive verglichen. Aufgrund der hohen Akzeptanz dieser Minimalaufnahme konnte mit fast allen Kooperationspartnern informell vereinbart werden, daß mit der obligatorischen Aufnahme der RNA eine verbindliche Regelung für die Handschriftenerschließung in Österreich vorliegt. Um diesen unter den österreichischen Archiven erzielten Konsens für die Kriterien einer Minimalaufnahme von Archivdaten auch offiziell vertretbar zu machen, wird sich die neugegründete Kommission der Vereinigung österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare (VÖB) für die Bearbeitung von Nachlässen(17) in ihrer ersten Sitzung (Oktober 1997) mit den RNA und ihrer Anwendung in Österreich beschäftigen. In dieser Kommission sind die wichtigsten Literaturarchive Österreichs vertreten.
Vorarbeiten zu einem Thesaurus der österreichischen Literaturarchive
In engem Konnex mit der Standardisierung der Erschließungspraxis stehen die Vorarbeiten zu einem Thesaurus der österreichischen Archive. Im Rahmen des Projekts wird in Kooperation mit Univ.-Doz. Dr. Gerhard Budin (Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung der Universität Wien) eine Normierung der datenrelevanten Begriffe in Form eines Thesaurus erarbeitet, da keine einheitliche Objektterminologie des Literaturarchivbereichs vorliegt. Dabei werden die verwendeten objektspezifischen Bezeichnungen, die relevanten literaturwissenschaftlichen Termini und die Parameter der Suchbegriffe über eine standardisierte Terminologie bzw. eine computermäßige Zusammenführung der Abweichungen vereinheitlicht.
Ziel ist es, aufgrund vorhandener Schlagwortlisten, Thesauri und anderen begrifflichen Ordnungssystemen österreichischer Literaturarchive eine gemeinsame Indexierungs- und Suchsprache zu schaffen. Ebenso ist die Brauchbarkeit der einschlägigen Normdateien für die Archivanwendung zu prüfen. Grundprinzip ist dabei, vorhandene Strukturen nur dann zu ändern, wenn dies notwendig ist. Existierende Schlagwortlisten können systematisiert und ausgebaut bzw. miteinander kombiniert werden, ohne daß dies den laufenden Archivbetrieb zu irgendeinem Zeitpunkt der Erstellungs- und Umstellungsphasen beeinträchtigen würde. Wesentlich in diesem Prozeß ist die Abklärung der thematischen Abdeckung (Extension) sowie der begrifflichen Gliederungstiefe (Intension). Dabei sind die Bedürfnisse aller beteiligten Nutzergruppen wesentliche Beurteilungskriterien.
Zweiter Kernbereich des Projekts: Prüfung der Möglichkeiten einer EDV-Vernetzung
Ausgehend von der Erhebung und kritischen Analyse der bestehenden literaturarchivalischen Datenbanken sind im Rahmen des Projekts die technischen Voraussetzungen für eine Vernetzung der Datenbanken zu definieren. Als Ziel ist anzustreben, daß die inhaltliche und formale Erfassung der Bestände ortsunabhängig dargestellt werden kann und der angestrebte Datenpool über das World Wide Web von einem neutral entry point aus abrufbar sein soll.
Zwei alternative Vorgangsweisen figurieren als die aussichtsreichsten Kandidaten zur Lösung der anstehenden Aufgabe. Erstens wurde projektiert, daß die Vernetzung der lokal geführten Archivdatenbanken über die Schnittstelle Z39.50 erfolgen kann. Neben der technischen Lösung setzt dies eine österreichweite Einigung über Datenformate voraus, die mit der Festlegung auf die RNA prinzipiell bereits erreicht wäre. Integrierbar sind hier nur die Datenbanken, denen Z39.50 implementiert werden kann. Zweitens müßte es produktiv erscheinen, nicht erst eine eigene Infrastruktur für die Archive aufzubauen, sondern eine bereits bestehende zu nutzen. Da derzeit in Österreich der neue Bibliothekenverbund vorbereitet wird(18), war zu prüfen, inwieweit das Anforderungsprofil an diesen Verbund die Erfordernisse der Literaturarchive mitberücksichtigen kann.
a. Vernetzung lokal geführter Datenbanken
Mit Blick auf die Vernetzung der österreichischen Literaturarchive über die Schnittstelle Z39.50 wurde im Rahmen der Erhebung des Ist-Zustands festgestellt, daß von den eingesetzten Datenbanken nur bei der Oracle-Lösung des Steiermärkischen Landesarchivs die Schnittstelle unmittelbar implementiert werden kann. allegro-HANS ist in seiner Entwicklung Z39.50 gegenüber prinzipiell offen, müßte allerdings zu diesem Zweck technisch aufgerüstet werden, wobei die dafür notwendigen Finanz- und Personalressourcen noch nicht eingeschätzt werden können. Nach Abschluß der Erhebung wurde geprüft, welche Datenbanksysteme für Handschriftenaufnahmen zur Verfügung stehen. Neben allegro-HANS, das speziell für die Aufnahme von literarischen Nachlässen auf der Basis der RNA entwickelt wurde, erarbeitet derzeit das Deutsche Literaturarchiv (DLA) in Marbach in Kooperation mit dem Berliner Anbieter von Bibliotheks-Management-Systemen astec die auf Oracle basierte Datenbank Kallias. Schließlich wird auch von der Firma DABIS in Kooperation mit der Wiener Stadt- und Landesbibliothek ein Handschriftenmodul für das System BIS erstellt. Die Datenbank des Steiermärkischen Landesarchivs scheidet aus, da sie gänzlich den Erfordernissen eines Verwaltungsarchivs entspricht und in ihrer Konfiguration und Parametrierung auf die Erschließung literarischer Bestände im weitesten Sinn keine Rücksicht nimmt. Die verbleibenden Datenbanken sind auf ihre Eignung hin zu prüfen und zu evaluieren, wobei sich die momentane Arbeit auf das schon zur Verfügung stehende allegro-HANS konzentrieren muß.
Während einerseits die Ansprüche, die an die EDV-Unterstützung einer Nachlaßerschließung zu stellen sind, präzise bestimmt werden müssen, ist andererseits zu prüfen, inwieweit die unterschiedlichen Datenbankparameter Minimalaufnahmen einheitlich wiedergeben können. Zu diesem Zweck werden im Rahmen des Projekts literaturarchivalisch repräsentative Testnachlässe ausgewählt und datenmäßig erfaßt. Diese Nachlässe weisen strukturell sämtliche Schwierigkeiten auf, die für die Prüfung einer Datenbank geeignet sind (mehrere Textstufen einer Werkgruppe, Korrespondenzen mit schwierig zu ermittelnden Absendern, Lebensdokumente auf verschiedenen Materialträgern, Sammlungen mit unterschiedlicher medientypologischer Relevanz etc.). Die ausgewählten Testnachlässe werden vorerst in die Datenbank allegro-HANS eingegeben. Zu beachten bleibt, daß die Minimaldaten auf konvertierbaren Parametern gespeichert und somit in die gebräuchlichen Datenformate überführbar sind, um ihre ortsunabhängige Darstellung zu sichern; alle weiteren Parameter werden von den einzelnen Archiven nach deren Bedarf selbständig definiert und sind vom Netz aus nicht zugänglich.
b. Integration in den neuen Verbund
Aus dem Kontakt mit der Arbeitsgruppe Bibliotheksautomation (AGBA) des Bundesministeriums für Wissenschaft, Verkehr und Kunst, die die Vorbereitungen für den neuen Verbund trifft und die Einführung des Nachfolgesystems für BIBOS koordiniert, hat sich ergeben, daß die Interessen der Handschriftenaufnahme bei der Etablierung des neuen Systems berücksichtigt werden können. Die Integration der Literaturarchive in den neuen Verbund wird von der AGBA als grundsätzlich möglich erachtet, da die wesentliche Voraussetzung einer vereinheitlichten Erschließung im Zeichen der RNA erfüllt scheint. Von der AGBA wurde ebenso bekräftigt, daß die Anforderungen der Literaturarchive hinsichtlich des Zugangs zu den Normdateien und der Möglichkeit einer multimedialen Darstellung im neuen Verbund erfüllt sein werden. Da das BIBOS-Nachfolgesystem Ende 1997 festgelegt werden wird, kann allerdings mit einem Einstieg der Archive in den Verbund erst ab dem zweiten Quartal 1999 gerechnet werden. Von der AGBA wurde empfohlen, das verbundkompatible System allegro-HANS als Übergangslösung einzusetzen, dessen Daten dann problemlos in das Verbundsystem migriert werden können.
Die beiden dargestellten Alternativen - Vernetzung lokaler Datenbanken oder Integration in den Verbund - werden in Zusammenarbeit mit den Partnerinstitutionen weiter eingehend geprüft. Neben einer genauen Kenntnisnahme der verbleibenden Handschriftendatenbanken und der technischen Spezifikation einer Vernetzung sind die Ergebnisse der Kontaktnahme mit der AGBA nun in ihren Konsequenzen zu diskutieren.
Die Finalisierung der Vernetzung der österreichischen Literaturarchive innerhalb der jeweils selbstgewählten technischen Möglichkeiten sollte bis Ende 1999 erreicht werden. Dann soll der laufende Betrieb sowohl für die Aufnahme literaturarchivalischer Daten als auch standortunabhängigen Recherchen auf dem bestmöglichen technischen Niveau gewährleistet sein.
© Andreas Brandtner (Wien)
Anmerkungen:
(1) Vgl. z. B. Nicholas Negroponte: Total digital. Die Welt zwischen 0 und 1 oder Die Zukunft der Kommunikation. München: Bertelsmann 1995.
(2) Vgl. Wilhelm Dilthey: Archive für Literatur. In: Deutsche Rundschau 58 (1889), S. 360-375.
(3) Ebd., S. 374.
(4) Vgl. Andreas Brandtner: Koordination der datenunterstützten Vernetzung österreichischer Literaturarchive. Ein Projekt am Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLA). In: Mitteilungen der Vereinigung österreichischer Bibliothekarinnen & Bibliothekare 50 (1997), H. 2, S. 74-76; ders.: Forschungsauftrag: Koordination der datenunterstützten Vernetzung österreichischer Literaturarchive. In: Zirkular 29 (1997), S. 7f.; vgl. dazu auch Michaela Lexa: Handschriften im Datennetz. In: Der Standard (Wien) vom 19. 6. 1997, S.A2.
(5) Vgl. Murray G[ordon] Hall und Gerhard Renner: Handbuch der Nachlässe und Sammlungen österreichischer Autoren. 2., neu bearb. und erw. Aufl. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1995 (= Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur 23); Gerhard Renner: Die Nachlässe in den Bibliotheken und Museen der Republik Österreich ausgenommen die Österreichische Nationalbibliothek und das Österreichische Theatermuseum. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1993 (= Verzeichnis der schriftlichen Nachlässe in den Bibliotheken und Museen der Republik Österreich 1).
(6) Auf der Grundlage umfangreicher Vorarbeiten wurden die österreichischen Einrichtungen, die handschriftliches Material verwalten, zusammengestellt. Aus dieser Liste österreichischer Literaturarchive, die derzeit etwa 280 Einrichtungen umfaßt und kontinuierlich erweitert wird, wurden die Kooperationspartner rekrutiert. Ausgewertet wurden: Hall und Renner (Anm. 5); INFODOC. Bibliotheken, Informations- und Dokumentationseinrichtungen in Österreich. Hg. vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung. Wien: Neugebauer 1994; Renner (Anm. 5); Georg Schwedt: Literatur-Museen. Wohnhäuser, Sammlungen, Literatenkabinette. München: Callwey 1995 (= Das Reiselexikon).
(7) Vor allem in bezug auf eventuelle Erweiterungen gegenüber dem Verzeichnis von Hall und Renner (Anm. 5).
(8) Christoph König: Verwaltung und wissenschaftliche Erschließung von Nachlässen in Literaturarchiven. Österreichische Richtlinien als Modell. Hg. vom Forschungsinstitut Brenner-Archiv (Innsbruck). München u. a.: Saur 1988 (= Literatur und Archiv 1).
(9) Vgl. z. B. Walter Methlagl: Zum Brenner-Archiv. In: Jura Soyfer 5 (1996), H. 4, S. 26f.
(10) Vgl. Anton Unterkircher: Das EDV-Projekt des Innsbrucker Brenner-Archivs. In: Deutsche Sprache und Literatur in Südosteuropa - Archivierung und Dokumentation. Beiträge der Tübinger Fachtagung vom 25.-27. Juni 1992. Hg. von Horst Fassel und Anton Schwob. München: Südostdeutsches Kulturwerk 1996 (= Veröffentlichungen des Südostdeutschen Kulturwerks B: Wissenschaftliche Arbeiten 66; zugl. Buchreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen 5), S. 257-264.
(11) Vgl. Harald Weigel: HANS - die Datenbank der Handschriftenabteilung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky. In: Bibliotheksdienst 26 (1992), S. 1534-1540; ders.: HANS 1995. allegro-C 14a. Hamburg: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky / Handschriftenabteilung 1995 (= Hanseatics 2). Zu allegro-C vgl. Bernhard Eversberg: allegro-C. Systemhandbuch Version 15. Braunschweig: Universitätsbibliothek der TU 1996.
(12) Vgl. Josef Riegler: Von der Archivdatenbank zum Informationssystem des Steiermärkischen Landesarchivs: Der benutzerorientierte Weg. In: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 46 (1996), S.195-208.
(13) Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen. RNA. Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1997 (= Schriften der Deutschen Forschungsgemeinschaft).
(14) Richtlinien Handschriftenkatalogisierung / Deutsche Forschungsgemeinschaft, Unterausschuß für Handschriftenkatalogisierung. 5., erw. Aufl. Bonn, Bad Godesberg: Deutsche Forschungsgemeinschaft 1992, v. a. S. 43-49.
(15) Erschließungsgrundsätze SLA (August 1994). Bern: Schweizerisches Literaturarchiv [masch.] 1994.
(16) Vgl. Regeln (Anm. 13), S.43-49.
(17) Vgl. Volker Kaukoreit: Neue VÖB-Kommission für die Bearbeitung von Nachlässen gegründet. In: Mitteilungen der Vereinigung österreichischer Bibliothekarinnen & Bibliothekare 50 (1997). H.2, S.19.
(18) Vgl. Wolfgang Hamedinger: Der Startschuß ist gefallen! Zur Ablösung der im wissenschaftlichen Bibliothekenverbund eingesetzten Systemkomponenten. In: Mitteilungen der Vereinigung österreichischer Bibliothekarinnen & Bibliothekare 50 (1997). H. 1, S.142-150.
Webmeisterin: Angelika Czipin
last change 19.11.1999