Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2. Nr. November 1997

Linguopoetik in Rußland: Inter- oder Transdisziplin?

Anatolij M. Naumenko (Melitopol)

Seit den 20er Jahren hat sich die sowjetische Sprachwissenschaft gründlich mit solchen strukturellen linguistischen Einheiten beschäftigt, die größer als ein Satz sind. Zuerst mit der Phrase, dann dem Absatz und schließlich dem Text, wenn man nur einen kurzen Abriß skizzieren will. In diesem Zusammenhang sind hier zu nennen: die grundlegenden Werke A. M. PESCHKOWSKIS über den Absatz(1), N. S. POSPELOWS über das "zusammengesetzte syntaktische Ganze"(2), L. A. BULACHOWSKIS von der "überphrasenhaften Einheit"(3) und andere. Nachdem die Sowjetsprachforscher an die Schwelle des Textes gelangt sind, ist die linguistische Interpretation der Belletristik zum Problem Nr. 1 geworden.

Die aktuellsten Untersuchungen zu diesem Problem fallen in die Zeit der 50er und 60er Jahre, jedoch ist eine erfolgreiche Lösung damals noch nicht erreicht worden. Ganz im Gegenteil.

Je mehr linguistische Abhandlungen zum Problem der Sprache und des Stils in der Belletristik geschrieben wurden, desto deutlicher wurde, daß die linguistische Analyse eines schöngeistigen Textes mit Hilfe der traditionellen Kategorien der Sprachwissenschaft die Lösung dieser Frage in eine Sackgasse führte. Das belletristische Werk schätzte man bei solchem Herangehen entweder als einen beliebigen Text ein, der sich vom nicht belletristischen nur durch sein Thema unterschied, oder als ein Register allgemeiner sprachlicher Stilmittel, wobei das Werk die Besonderheiten seiner ästhetischen Form und das schöngeistige Spezifische seinen Inhalt verlor. Sehr wenig Hilfe leistete hier auch der Strukturalismus (Ju. A. LOTMAN und seine Nachfolger), weil die Bildinformation des Kunstwerkes durch ihn objektiv nicht erfaßt werden konnte.

Trotzdem wurden die Bemühungen einiger Sowjetsprachforscher auf dem Gebiet der Belletristik von Erfolg gekrönt. Es wurde eine neue wissenschaftliche Richtung erarbeitet - die Erforschung der belletristischen Sprache. Eingeleitet wurde diese Richtung Anfang der 30er Jahre durch die prinzipiell wichtige Monographie W. W. WINOGRADOWS "Über die schöngeistige Prosa” sowie durch Abhandlungen G. O. WINOKURS und B. A. LAPINS. Heute arbeiten auf diesen Gebiet schon viele Wissenschaftler; beispielsweise M. A. KARPENKO(4), W. D. LEVIN(5), Ju. T. LISTROWA(6) u. a. Die Vertreter dieser Richtung analysieren im sprachlichen Kunstwerk eine besondere Variante der Nationalsprache (als jene Variante, die gleichzeitig von dieser Sprache abhängig und unabhängig ist sowie sie beeinflußt). Deswegen ist festzustellen, daß selbst diese Richtung, die ergebnisreichste in der "belletristischen Linguistik”, dasselbe Register allgemeinsprachlicher Mittel wie Lexika, Grammatik und Stil beim Erforschen eines schöngeistigen Werkes aufweist. Das Kunstwerk als eine besondere Form der Welterkenntnis bleibt auch hier ein Buch mit 7 Siegeln.

Viele Sprachwissenschaftler der 60er/70er Jahre erkannten, daß die traditionelle Methode bei der linguistischen Analyse eines belletristischen Textes durch eine neue ersetzt werden müsse, weil Sprachwissenschaft und belletristische Linguistik, obgleich sie beide ein und dasselbe Untersuchungsobjekt (den schöngeistigen Text) hätten, verschiedene Untersuchungsgegenstände zweifellos erforschen sollen: seine Kommunikationsfunktion für die erste Disziplin und seine ästhetische Funktion für die zweite. Allmählich bildete sich im Rahmen der Sprachwissenschaft (und später davon unabhängig) eine neue wissenschaftliche Richtung heraus, die noch heute keinen streng bestimmten Namen trägt: "literaturwissenschaftliche Stilistik” bei W. W. WINOGRADOW, "Dekodierungsstilistik” bei I. W. ARNOLD, "Textinterpretation” bei W. M. SCHIRMUNSKI, E. H. RIESEL, W. A. KUCHARENKO und A. I. DOMASCHNEW, "stilistische Analyse" bei M. P. BRANDES, "Linguostilistik” bei vielen anderen Wissenschaftlern und noch eine Menge weiterer Bezeichnungen.

Einig sind sich aber alle genannten Forscher dort, wo sie die erfolgreiche Untersuchung der belletristischen Wortfassung ohne die des Ideengehaltes des Kunstwerkes für unmöglich erklären und eine Synthese methodischer Mittel von Sprach- und Literaturwissenschaft fordern. Als ein treffendes Beispiel zitiere ich aus dem Buch der berühmten Sowjetsprachforscherin I. W. ARNOLD: "Die Dekodierungsstilistik vereinigt in sich Möglichkeiten der linguistischen und literaturwissenschaftlichen Stilistik".(7) Leider bleibt dieser richtige und bedeutsame Gedanke in vielen Abhandlungen über die belletristische Linguistik nur eine unverwirklichte Deklarationsbehauptung. Natürlich hat man hier einige Leistungen erzielt, z. B. bei A. M. PESCHKOWSKI die erfolgreiche Analyse der inhaltlichen Rolle verschiedener Klangmittel(8), bei L. W. SCHTSCHERBA die Analyse rhythmischer Mittel(9) sowie der potentiellen phraseolgischen Einheiten bei Ju. Ju. AWALIANI.(10)

Ich bin der Meinung, daß diese neue linguistische Richtung in ihrer Weiterentwicklung in eine methodologische Sackgasse geraten kann, weil man mit Hilfe der traditionellen Sprachmethodik nicht nur allein ein sprachliches Objekt, d. h. ein Kunstwerk erforschen will. Meines Erachtens ist dieses Bemühen fehlerhaft, denn die Disziplin, die sich mit dem belletristischen Text als der Einheit von Inhalt und Form befaßt (nenne man diese Disziplin auch wie man wolle, ich persönlich schlage den Begriff "Linguopoetik” vor), hat nicht nur einen der Sprachwissenschaft entgegenliegenden Untersuchungsgegenstand, sondern auch ein sich von ihr wesentlich unterscheidendes Untersuchungsobjekt: nicht das Wort, sondern die Gesamtheit jener Kunstmittel, welche den Ideengehalt des belletristischen Werkes darstellen helfen, jene Gesamtheit, die ich kurz als "Bildhaftigkeit” bezeichne. Dabei bin ich mir über alle Unzulänglichkeiten dieses Terminus völlig im klaren.

Zwischen Bildhaftigkeit und Bild sehe ich einen wesentlichen Unterschied. Bildhaftigkeit ist Mittel für das Schaffen eines Bildes und somit das Untersuchungsobjekt der Linguopoetik, das Bild aber ist nur das Ergebnis der Bildhaftigkeit und darum das Untersuchungsobjekt der Literaturwissenschaft. Jetzt kann auf die im Titel meiner Arbeit angedeutete Problemstellung geantwortet werden: Linguistik des Textes kommt ohne Literaturwissenschaft aus, aber die Linguistik des belletristischen Textes, d. h. die Linguopoetik - nicht, wenn sie die Funktion des Kunstwerkes - das Ästhetische - analysieren will. Daß diese Funktion seine wichtigste, sogar die einzige ist, behaupten nicht nur Literaturwissenschaftler, sondern auch Kunstforscher, Ästhetiker u. a.(11)

Die Literaturwissenschaft betrachtet ein schöngeistiges Werk im großen und ganzen als das Produkt einer bestimmten sozialen Epoche und setzt deswegen bei seiner Analyse die sogenannten extralinguistischen Faktoren an die erste Stelle: Weltanschauung und Absichten des Verfassers, Ideengehalt und individuelle Mittel seiner Verkörperung (Idee, Thema, Problematik, Gestalten, Typisierungsarten usw.). Nur die Poetik als Teilbereich der Literaturwissenschaft erforscht neben anderen Faktoren auch die linguistischen, d. h. Sprachmittel, doch nur deren allgemeinstilistische und allgemeinkünstlerische Funktion, was gewiß zu wenig ist für eine erfolgreiche Erschließung der Einheit von Inhalt und Form eines belletristischen Textes.

Indem der Literaturwissenschaftler extralinguistische Faktoren sachkundig benutzt, analysiert er den Ideen- und Bildreichtum eines belletristischen Werkes auch objektiv und meisterhaft, so daß seine Untersuchung ein Muster von einem wissenschaftlichen Herangehen an die schöngeistige Literatur gibt und somit zu einem Meilenstein in der Geschichte der Literaturwissenschaft wird. Hier nur einige treffende Beispiele: in Rußland sind es in der Mitte des XIX. Jahrhunderts W. G. BELINSKIS Werke über Puschkin und N. G. TSCHERNYSCHEWSKIS über Gogol; in Deutschland am Ende des XIX. Jahrhunderts F. MEHRINGS Werke über Lessing, Schiller, Hauptmann; in England der 30er Jahre - R. FOXS Werke über die englischen Romanciers der Gegenwart, in Frankreich der 70er Jahre die Arbeit von J.-P. SARTRE über Flaubert.

Das Merkwürdigste an diesen meisterhaften Analysen ist, daß die Literaturwissenschaftler fast keine Untersuchung des Wortes - dieses Rohstoffes der Bildhaftigkeit - unternommen haben. Das ist nach den Ansichten eines jeden Sprachforschers eine Lästerung, weil man das Produkt einer Wortkunst analysiert, ohne das Wort selbst in Betracht gezogen zu haben. Und dennoch wird dieses Werk erfolgreich analysiert, was um so bewundernswerter ist. Diesen auffallenden Widerspruch verstehen auch Literaturwissenschaftler selbst, und letzten Endes analysieren sie das Wort aber nur als Hilfsmaterial, so daß die von ihnen schon gezogenen Schlußfolgerungen durch nichts Neueres ergänzt werden können. Oder sie rufen geheimnisvolle und quasi allmächtige Begriffe wie "Begabung”, "Feingefühl”, "Intuition des Gelehrten” zu Hilfe. Ich beziehe mich hierbei auf die Behauptung G. M. FRIEDLÄNDERS, eines großen sowjetischen Literaturwissenschaftlers. In seinem Artikel aus dem Jahre 1972 "Über heutige Probleme der Poetik” sagt er, daß die Schwierigkeiten bei der ganzheitlichen Untersuchung eines belletristischen Werkes erst dann überwunden werden können, wenn "der Interpret über eine wissenschaftliche Intuition verfügt"!(12)

Ohne diese Idee über die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Intuition beim Erforschen der schöngeistigen Literatur zu bestreiten, will ich die Aufmerksamkeit der Leser nur darauf lenken, daß G. M. FRIEDLÄNDERS Gedanke als Bekenntnis eines völligen Mißerfolgs der traditionellen Literaturwissenschaftsmethodik auf dem Gebiet der Belletristik eingeschätzt werden soll und darf. Wie FRIEDLÄNDER denken auch viele andere Literaturforscher und Linguisten, indem sie, wie ich schon früher betonte, eine Synthese der Sprach- und Literaturwissenschaften vorschlagen. Erinnert sei an W. M. SCHIRMUNSKI, I. V. ARNOLD, N. M. SCHANSKI u. a.

Mit der entscheidenden Hinwendung der Linguisten zu der inhaltlichen Seite des sprachlichen Materials im belletristischen Text und der Literaturwissenschaftler zu der formellen Seite des Ideengehaltes begann schon in den Jahren 1910-1930 eine Wende. Sie erlebte einen immens quantitativen, leider nicht immer qualitativen Aufschwung erst ein halbes Jahrhundert später, aber ihre methodologische und methodische Bedeutsamkeit für die Linguopoetik blieb jedoch damals unfruchtbar. Während ich an Werken russischer, sowjetischer und teilweise auch westeuropäischer Philologen jener vergangenen Jahrzehnte arbeitete, fand ich in vielen Abhandlungen verschiedene Ideen, die man heute aufs neue entdeckt und deswegen ihre echten Väter in entsprechenden Literaturverzeichnissen zu nennen vergißt.

1917 äußerte O. BRIK(13) eine im Jahre 1927 tiefer begründete Idee von methodologischem Belang, daß Lyrik zwei Ebenen besitze, eine Klang- und eine Bildschicht mit ihrer eigenen Form und ihrem eigenen Inhalt.(14) Der Prager linguistische Kreis entwickelte zuerst in seinen "Thesen” (1929), später auch in Werken seiner Mitglieder(15) wichtige Gedanken über die Notwendigkeit, die Komposition des poetischen Werkes zu untersuchen, seine Sprache immanent zu analysieren und seine Aktualisierungsmittel als Basis für poetische Bildhaftigkeit in erster Linie zu erforschen. Das Prinzip, den Inhalt des belletristischen Textes mit Hilfe seiner Wortform zu erfassen und diese Form mit Hilfe des Ideengehaltes zu erklären, ist in vielen Arbeiten aus der Zeit von 1910-1930 anzutreffen: so bei W. BRJUSSOW(16) und S. BOBROW(17) über die Verstechnik Puschkins, bei L. GROSSMAN(18) über Klangmittel, Komposition und philosophischen Inhalt in Turgenjews "Verse in Prosa” und bei vielen anderen.

Insbesondere seien einige Abhandlungen A. M. PESCHKOWSKIS hervorgehoben, in denen er allgemeintheoretische Fragen stellt und sie erfolgreich löst (z. B., wie die sprachliche Form eines belletristischen Werkes auf allen Ebenen der Phonetik, Grammatik und des Stils mit seinem Gedankengehalt verbunden ist) und wo er eine wichtige und interessante Meinung über die unausbleibliche Bildhaftigkeit jedes Wortes der Belletristik (und nicht nur seines Tropus) zum Ausdruck bringt.(19)

Eine besondere Aufmerksamkeit verdient die Monographie A. BELYS (1929) über den Rhythmus. Zum ersten Mal in der Geschichte der Literaturwissenschaft und, wenn ich mich nicht irre, leider auch zum letzten Mal, wurde hier vorgeschlagen, keine mystischen extralinguistischen Faktoren, die sich außerhalb des Kunstwerkes befinden, als Untersuchungsobjekt zu betrachten, sondern die rhythmischen Kurven des Werkes, die nach der eigenen Methodik A. BELYJS gezeichnet werden und seinen Ansichten nach eine Form-Inhalt-Synthese der poetischen Schöpfung darstellen.(20) Von Bedeutung ist auch sein Gedanke, daß die soziale Wirklichkeit vom Dichter nur mit Hilfe eines künstlerischen Bildes (= Kunstbildes) wahrzunehmen und zu verkörpern sei und deswegen eine literaturwissenschaftliche Dekodierung brauche.(21)

Über andere grundlegende Arbeiten dieser Periode (L. W. SCHTSCHERBAS, W. M. SCHIRMUNSKIS u. a.) habe ich bereits gesprochen.(22)

Demnach ist festzustellen, daß innerhalb der Periode 1910-1930 vieles für die Entstehung der heutigen Linguopoetik getan wurde. Jedoch fand ich sogar bei jenen Philologen, deren wissenschaftliche Freigebigkeit fast alle soliden Forschungen der letzten Jahrzehnte befruchtete, keine Antwort auf die quälende sowie theoretisch und praktisch komplizierte Frage, wie das Wort (d. h. der Rohstoff der Sprachkunde) ein künstlerisches Bild (d. h. den Rohstoff der Literaturwissenschaft) produziert. Gewiß hatte schon A. A. POTEBNJA mit seiner Idee von der inneren Form des Wortes das Problem gelöst, wie im Wort ein totes Bild lebendig wird. Jedoch, wie W. W. WINOGRADOW einmal richtig sagte, seien "Bild im Wort oder mit Hilfe des Wortes verschiedene Begriffe und unterschiedliche Aufgaben"(23), geschweige denn darüber zu sprechen, daß die Termini "Bild” und "Kunstbild” keine Synonyme sind.

Die innere Form des Wortes - selbst ein Tropus - kann nicht immer ein umfassendes künstlerisches Bild entstehen lassen. Andererseits sind echte Meister der Belletristik imstande, nach POTEBNJAS Auffassung sogar bildlose Wörter für das Schaffen wundersamer und erschütternder Kunstbilder nützlich zu machen. Als Beweis kann Puschkins "Ich hatte Sie geliebt” oder Goethes "Über allen Gipfeln” angeführt werden.

Auf die Frage, wie sich aus dem "Rohstoff” (der nationalen Sprache) ein künstlerisches Bild entwickelt, der Weltanschauung seines Verfassers nach individuell und dem ästhetischen Ideengehalt nach epochemachend, weiß ich keine genaue und eindeutige Antwort. Gewiß besitze ich eine Arbeitshypothese, die aber noch zu untermauern ist.

Ich gehe von folgenden Erwägungen aus: Es gibt nicht nur sentimentale und rationale Menschentypen, sondern auch künstlerische Persönlichkeiten, welche die Welt mit Hilfe des künstlerischen Bildes darzustellen vermögen. Unsere Empfindungen und unsere Vernunft analysieren die Wirklichkeit, zerlegen deren ganzheitliches Dasein in verschiedene Erkenntnisregale und zeigen es uns als eine Summe von Erscheinungen in der Form von Gefühlen und Begriffen. Die wahre Umgebung aber ist untrennbar, sie existiert ganzheitlich und beeinflußt den Menschen auch so. Ebendeswegen konnte das Dasein nicht umhin, im Menschen das dritte Erkenntnismittel zu schaffen, die Intuition, deren Inhalt das Kunstbild ist. Nur diesem obliegt es, unsere Welt ganzheitlich, synthetisch wahrzunehmen, und darum ist es ein ästhetisches Modell der ganzen Welt, zum Unterschied von Empfindungen und Vernunft, die dem Menschen helfen, andere, nichtkünstlerische Bilder herzustellen, um nur einige Teile unserer Wirklichkeit zu verallgemeinern. Ich glaube, daß Goethe diese Hauptrolle des Kunstbildes im Auge hatte, als er im Mai 1827 sagte, daß ein Kunstwerk um so wertvoller sei, je weniger es vom Verstand erfaßt werden könne.(24)

In der Belletristik kann sich der Schriftsteller nicht anders zur Rede bringen, als nur das Wort für das Schaffen eines Weltmodells anzuwenden. Dabei tritt er als Wortschöpfer auf; deshalb wird sein Werk von Linguisten nur als Sprachergebnis behandelt. Das ist aber ein tiefer Irrtum. Am deutlichsten äußerte sich in dieser Richtung W. M. SCHIRMUNSKI schon 1919: "Denn das Wort ist Grundmaterial der Poesie, so soll dem systematischen Aufbau der Poetik jene Sprachklassifikation zugrunde gelegt werden, die uns die Linguistik vorschlägt".(25) Theoretisch und praktisch vertreten diesen Standpunkt fast alle gegenwärtigen Linguostilisten noch heute: E. H. RIESEL, I. W. ARNOLD, M. P. BRANDES, V. A. KUCHARENKO u. a. Selbst W. M. SCHIRMUNSKI, obwohl er für seine Textinterpretation 1969 literaturwissenschaftliche Kategorien aktiv benutzt, fährt fort, im Wort "das Grundmaterial der Poesie” zu suchen.(26)

Es ist irrig, im belletristischen Text bloß das Sprachergebnis einzuschätzen. Der Dichter gebraucht das Wort nur als einen "Rohstoff” für das Schaffen der Bildlichkeit, die später das künstlerische Bild entstehen läßt. Wie auch in der Bildhauerei, wo natürliche Materialien (Ton, Marmor, Granit, Metall) als primäre Rohstoffe dienen, woraus später ein neuer Rohstoff entsteht (in einem komplizierten Vorgang der poetischen Begeisterung, was aber ein selbständiges Problem ist), ein neuer Rohstoff, sekundär in bezug auf das ursprüngliche natürliche Material, jedoch primär im Verhältnis zum Kunstbild, den man Pose, Geste nennen darf. In der Malerei ist offenbar nicht die Zusammensetzung des Farbstoffes wichtig, sondern die Färbung selbst und die Linie. Ähnliches sieht man auch bei anderen Künsten.

Wenn ich aus dem Gesagten eine theoretische Bilanz ziehen darf, so will ich sagen: In der Belletristik sind zwei Formen und zwei Inhalte zu unterscheiden, erstens das Wort als linguistische Größe (hier ist der Inhalt die lexikalische Bedeutung, die Form aber grammatische Kategorie) und zweitens die Bildhaftigkeit als literaturwissenschaftliche Größe (hier ist der Inhalt das künstlerische Bild, die Form aber sind linguistische und extralinguistische Faktoren).

Freilich ziehen Literaturwissenschaftler die Schlußfolgerung, daß die Belletristik, weil das Kunstbild mit Hilfe von extralinguistischen Faktoren entsteht, nur von Theoretikern und Historikern der Literatur erforscht werden könne, nicht von Sprachforschern. So erklärt A. A. GORNFELD, der russische, später auch sowjetische Literaturwissenschaftler, am Anfang unseres Jahrhunderts, daß der Ideengehalt des belletristischen Werkes erst im Laufe der literaturwissenschaftlichen Analyse zu verstehen sei.(27) Nach 60 Jahren hat der älteste sowjetische Literaturtheoretiker, G. N. POSPELOW, dasselbe Credo leidenschaftlich, sogar kämpferisch behauptet.(28)

Diese dargestellte Forderung der Literaturwissenschaftler ist ebenso ein Irrtum wie jener der Linguisten, denn das belletristische Kunstwerk benutzt nur Wörter, weiter nichts. Alle sogenannten extralinguistischen Faktoren kommen erst über das Wort zu den Lesern und existieren nur in ihm, sie liegen nicht außerhalb von ihm. Diese Idee, die Sprache des poetischen Textes immanent zu analysieren, drückten 1929 der Prager Linguistenkreis(29) und der sowjetische Sprachforscher W. W. WINOGRADOW(30) aus. Zwar nahm letzterer in den 60er Jahren von diesem Gedanken wieder Abstand(31), jedoch bedarf das einer besonderen Erörterung.

Obwohl das belletristische Werk nichts außer dem Wort besitzt, wird dieses Wort anders als im Alltagsverkehr verwendet. Es wird für die Bildhaftigkeit verwendet. Die Linguistik ist deswegen nicht imstande, die Bildhaftigkeit zu erforschen, weil diese das ästhetische Untersuchungsobjekt ist. Die Literaturwissenschaft ist auch nicht imstande, die Bildhaftigkeit zu analysieren, ohne das Problem gelöst zu haben, wie das Wort (d. h. das Sprachmittel) zu einem ästhetischen Ideenmittel wird. Das Problem ist nicht zu lösen, weil die Literaturwissenschaftsmethodik auf eine Analyse extralinguistischer Faktoren abzielt. Daraus folgt die Notwendigkeit einer neuen Methodik beim Erforschen der Belletristik. Über diese Methodik soll die Linguopoetik verfügen.

Als Schlüsselkategorie ist hierbei die Komposition zu nennen, die Reihenfolge von Wörtern im Werk. Die Komposition ist der einzige extralinguistische Faktor im belletristischen Text, aber nicht darum, weil sie angeblich außerhalb des Wortes liegt, sondern deshalb, weil sie dem Denken entnommen wird, nicht der Sprache. Die Ganzheit unserer Umgebung kann der Dichter mit Hilfe des Kunstbildes deswegen darstellen, weil er Sprachmittel in einer bestimmten Reihenfolge gebraucht, dadurch das Wort mit einer kontextuellen Bedeutung füllt, was ihn das Untersuchungsgebiet der Linguistik für das der Linguopoetik überschreiten läßt.

Mag die Linguistik die Kommunikations- und Stilfunktion der Sprache in jeglichem Verwendungsbereich, auch in dem der Belletristik, erforschen und mag die Literaturwissenschaft die Abhängigkeit des Kunstbildes von der Epoche, seine Struktur und Entwicklung im Rahmen des einzelnen schriftstellerischen Schaffens, des Genres, der Literaturschule usw. untersuchen. Die Lösung des Problems aber, wie dieses Bild aus dem Wort entsteht, soll die Aufgabe der Linguopoetik sein. Es würde der Linguopoetik auf solchem Wege vielleicht gelingen, Linguistik und Literaturwissenschaft, die längst autonomen Komponenten einer ehemals untrennbaren Philologie, aufs neue zu vereinen.

Um die angeführte Hypothese über das besondere Gewicht des künstlerischen Bildes in der Belletristik und über die Rolle der Literaturwissenschaft in der Linguopoetik anschaulicher zu machen, will ich Goethes Gedicht "Wandrers Nachtlied” (geschrieben am 6. Sept. 1780) nachfolgend analysieren.

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch,
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Wie tiefgreifend dieses Gedicht als literaturwissenschaftliches Objekt auch erforscht werden kann (einschließlich der Poetik), die Schlußfolgerungen würden ungefähr so lauten, wie es in den beiden akademischen "Geschichten der deutschen Literatur” (aus der UdSSR und DDR) der Fall ist: "Das Versöhnungs- und Beruhigungsmotiv ist in den vollendet schönen Formen der lyrischen Miniatur ausgedrückt"(32); "In größter Schlichtheit und Prägnanz wurde darin die Impression einer Abendstimmung auf der Höhe des Thüringer Waldes vergegenwärtigt".(33)

Wie tiefgreifend dieses Gedicht als linguistisches Objekt auch erforscht werden kann (einschließlich der Stilistik), die Schlußfolgerungen würden sich auf ein Register von lexikalischen Einheiten, morphologischen Konstruktionen, grammatischen Parallelismus, Mitteln der Sprachökonomie und den des Wohlklangs beschränken.

Im 1. Fall sind die Bildhaftigkeitsmittel unerforscht geblieben, im 2. Fall ist der Ideeninhalt nicht untersucht worden, und in beiden Fällen wird das Spezifische der lyrischen Kunst nicht analysiert, welches allein das Gedicht zu einem Meisterwerk der poetischen Meditation macht und somit zur repräsentativsten Schöpfung Goethes aus den Weimarer Jahren mit seinem damaligen Prinzip "edler Einfalt und stiller Größe”.

Man muß aber die Komposition des Gedichtes in Betracht ziehen, d. h. seine Gedankenkette sowie die inhaltliche Wiederholung als das auffallendste bildhafte Mittel, und man versteht sofort die Idee und Bildform des Gedichtes. Vorher sind nur einige Fragen zu beantworten. Warum besitzen die zweite und letzte Verszeile als gleichstämmige Wörter das Substantiv "Ruh” und das Verb "ruhest”, die das ganze Gedicht in eine logische Umrahmung einschließen? Warum hat die 1. Verszeile das Wort "Gipfel”, das die ewige nichtlebende Natur verkörpert, im letzten Vers aber steht das Personalpronomen "du”, das die lebende aber nicht ewige Natur personifiziert? Warum liegen zwischen diesen Polen der künstlerischen Idee die Wörter "Wipfel”, "Vögelein”, "Wald”, welche ebenfalls die Natur darstellen? Warum ist die Reihenfolge so und nicht anders?

Die Antwort könnte so lauten: weil das dichterische Weltmodell nur als ein derartiges Bild aufzubauen ist. Dieses Modell zu enträtseln, zu entschlüsseln ist die Aufgabe der Linguopoetik. Da das ganze Gedicht in einer inhaltlichen Umrahmung, der gleichstämmigen Wiederholung "Ruh - ruhest” befindlich ist, wird deutlich, daß sein Schlüsselwort die Invariante dieser Wiederholung sein kann mit der Bedeutung des Stillwerdens, der Beruhigung. Dieses Schlüsselwort hilft, das angebliche Landschaftsbild der Verse, ihre oberflächliche Zuschauerverbindung zwischen den Wörtern (ein Wanderer beobachtet die stillwerdende Abendnatur) als eine tief und streng philosophische Abhängigkeitskette zu verstehen.

"Gipfel” und "Hauch” einerseits, weil sie die nichtlebende Natur in zwei Haupterscheinungsarten als Erde und Luft zeigen, sind den Wörtern "Wipfel”, "Vögelein”, "Wald” und "du”, welche die lebende Natur verkörpern, als kontextuelle Antonyme entgegengesetzt. Da aber alle diese Wörter, außer dem Pronomen "du”, durch andere Wörter miteinander verbunden sind, welche die Bedeutungsvariante der Beruhigung besitzen (Gipfel-Ruh, Wipfel-keinen Hauch, Vögelein und Wald-schweigen), so dürfen sie als kontextuelle Synonyme aufgefaßt werden, und aus diesem Grund sind sie dem Wort "du” entgegenzustellen, das den Menschen personifiziert, der das Hauptmerkmal der außermenschlichen Natur, und zwar die Beruhigung, nicht innehat. Das Pronomen "du” tritt als ein kontextuelles Antonym auf zu den Wörtern für die Darstellung der menschlichen Naturumgebung. Damit will Goethe sagen, daß nur der Mensch als Naturbestandteil mit seiner Unruhe und stürmischen Leidenschaftlichkeit der Natur gegenübersteht. Der Dichter weiß, daß der Teil eines Ganzen nicht autonom werden muß und überzeugt den Menschen, wieder das zu werden, was dieser wirklich ist: sich nicht über die Natur zu stellen, sondern sich zu ihrem beruhigten Bestandteil zu machen, indem sich der Mensch mit der Natur vereinigt.

Eigentlich ist diesem "Teil-und-Ganzes-Problem” auch Goethes Tragödie "Faust” gewidmet, aber mit welcher Genialität und Schlichtheit ist es in der lyrischen Miniatur "Wanderers Nachtlied” gelöst!

Weil diese Miniatur genial und schlicht ist, fallen nicht nur ihre Vorzüge auf, sondern auch Fehler ihres Verfassers. Erstens sollte Goethe nicht in einem 8-zeiligen Gedicht, wo jedes Wort so viel wiegt und wo kein funktionell überflüssiges Wort Platz finden darf, zwei sinnverwandte Wörter für "Pflanzenreich” gebrauchen: "Wipfel” und "Wald”; eines davon ist unnötig. Zweitens sollte er, während er die Entstehungskette des Lebens auf der Erde von der nichtlebenden Natur ("Gipfel”) über die Flora ("Wipfel”) und Fauna ("Vögelein”) bis zum Menschen ("du”) führt, das Wort, das den Menschen verkörpert (das Pronomen "du”), auch kompositionell erst am Ende dieser Aufstellung gebrauchen, d. h. nach dem Wort "Vögelein”. Goethe aber schrieb es zuerst vor diesem ("spürest du”) und dann auch nach ihm, dazu noch zweimal: implizit in der Imperativform des Verbes "warten” und explizit im letzten Vers ("ruhest du”). Das alles macht das "du” (wie auch das Wort "Wald”) in funktioneller Hinsicht überflüssig und wirkt sogar auf das geordnete Bild der Lebensentwicklung ein bißchen zerstörend (wie auch das Wort "Hauch” nach der Pflanzenwelt "Wipfel”).

Auf diese Weise wird also ersichtlich, daß die Linguopoetik nicht nur bei der Analyse des belletristischen Ideengehaltes Hilfe leisten kann, sondern sie vermag auch das dichterische Vorhaben festzustellen, sowie Erfolge und Mißerfolge, Verdienste und Verluste bei seiner Verwirklichung einzuschätzen.

© Anatolij M. Naumenko (Melitopol)

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Anmerkungen

(1) Peschkowski A.M. Russki sintaksis w nautschnom osweschtschenii. - Moskau 1935.

(2) Pospelow N.S. Sloschnoje sintaksitscheskoje zeloje i osnownye osobennosti ego struktury. - Doklady i soobschtschenija Instituta russkowo jasyka AN SSSR, vyp. 2. - Moskau-Leningrad 1948.

(3) Bulachowski L.A. Kurs russkowo jasyka. T. I. - Kiew 1952.

(4) Karpenko M.A. Roman M. Gorkowo "Foma Gordejew". Opyt leksikostilistitscheskowo analisa. - Kiew 1963.

(5) Lewin W.D. Otscherk stilistiki russkowo literaturnowo jasyka konza 18 - natschala 19 ww. - Moskau 1964.

(6) Listrowa Ju.T. Inosistemnye jasykowye jawlenija w russkoj chudoschestwennoj literature 19 w. - Woronesch 1979.

(7) Arnold I.W. Stilistika dekodirowanija. - Leningrad 1974, S. 5.

(8) Peschkowski A.M. Prinzipy i prijomy stilistitscheskowo analisa i ozenki chudoschestwennoj prosy. - Woprosy metodiki rodnowo jasyka, lingwistiki i stilistiki. - Moskau-Leningrad 1930.

(9) Schtscherba L.W. Opyty lingwistitscheskowo tolkowanija stichotworenij. Isbrannoje. - Moskau 1937.

(10) Awaliani Ju.Ju. i dr. K lingwistitscheskoj interpretazii chudoschestwennowo teksta. - Samarkand 1978.

(11) Kagan M. Morfologija iskusstwa. - Leningrad 1972, S. 201.

(12) Friedländer G.M. O nekotorych problemach poetiki sewodnja. - Issledowanija po poetike i lingwistike. - Leningrad 1972, S. 18.

(13) Brik O. Swukowye powtory. - Two Essays on Poetic Language. - Ann Arbor 1964, S. 4.

(14) Brik O. Ritm i sintaksis. - Ebd. S. 72.

(15) Tesisy Praschskowo lingwistitscheskowo kruschka. - Praschski lingwistitscheski kruschok. - Moskau 1967.

Havránek B. Sadatschi literaturnowo jasyka i ego kultura.

Mukarovsky J. Literaturnyi jasyk i poetitscheski jasyk.

Mathesius V. Jasyk a stil.

(16) Brjussow W. Polnoe sobranie sotschinenij i perewodow. T. 4. - St. Petersburg 1914.

(17) Bobrow S. Nowoje w stichosloschenii A.S. Puschkina. - Moskau 1915.

(18) Grossman L. Portret Manon Lesko. - Moskau 1922.

(19) Peschkowski A.M. Stichi i prosa. Sbornik statej. - Leningrad-Moskau 1925; Stichi i prosa s lingwistitscheskoj totschki zrenija. Sbornik statej. - Leningrad 1926; Ritmika "Stichotworenij w prose" Turgenjewa. - Russkaja retsch, T. II. - Leningrad 1928; s. Amn. 8, S. 158.

(20) Bely A. Ritm kak dialektika i "Medny wsadnik". - Moskau 1929, S. 34.

(21) Ebd. S. 30-31.

(22) Schtscherba L.W. Opyty lingwistitscheskowo tolkowanija stichotworenij. - Russkaja retsch. - Petrograd 1923; s. Anm. 9. Schirmunski W.M. Opyt stilistitscheskoj interpretazii stichotworenij Goethe. - Woprosy germanskoj filologii, vyp. 2. - LGU 1969.

(23) Winogradow W.W. Problemy russkoj stilistiki. - Moskau 1981, S. 102.

(24) Zitiert nach: Gornfeld A.G. O tolkowanii chudoschestwennowo proiswedenija. - St. Petersburg 1912, S. 7.

(25) Schirmunski W.M. Sadatschi poetiki. - Teorija literatury. Poetika. Stilistika. - Leningrad 1977, S. 28.

(26) Schirmunski W.M. s. Anm. 22.

(27) Gornfeld A.G. s. Anm. 24.

(28) Pospelow G.N. Problemy literaturnowo stilja. - MGU 1970, S. 14.

(29) Tesisy Praschskowo literaturnowo kruschka s. Anm. 15, S. 32.

(30) Winogradow W.W. O chudoschestwennoj prose. - Moskau-Leningrad 1930, S. 63.

(31) Winogradow W.W. s. Anm. 23, S. 161.

(32) Istorija nemezkoj literatury, T. 2. - Moskau 1963, S. 402.

(33) Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 6. Berlin 1979, S. 715.


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