Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2. Nr. November 1997

Das künstliche Scheitern einer Reform: die Bielefelder Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft nach der Rücknahme der Reformbeschlüsse

Eva Reichmann (Bielefeld)

Die Universität Bielefeld wurde als Reformuniversität nach Empfehlungen von Richtlinien gegründet, welche 1967 formuliert worden waren. Für die Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, welche 1972 ihre Arbeit aufgenommen hat, war das sogenannte Rhedaer Memorandum inhaltlich und strukturell ausschlaggebend. Das Konzept sah vor, allgemeine Linguistik und Literaturwissenschaft an allen Schulen Nordrheinwestfalens als Unterrichtsfächer anstelle der herkömmlichen Philologien einzuführen: An der Universität Bielefeld sollten unter anderem die Lehrkräfte für dieses Vorhaben ausgebildet werden. Das Studium an der Universität verstand sich anfangs als interdisziplinäres Studium. Nur gemeinsam mit Kollegen aus anderen Fakultäten konnte dieses im heutigen Sinne kulturwissenschaftliche Konzept sinnvoll unterrichtet werden. Ein heute noch aus dieser Zeit existierendes Relikt ist das Zentrum für interdisziplinäre Forschung, welches - da Forschung und Lehre eng verknüpft werden sollten - eine Basis des Konzeptes darstellte.

Wir befragten Lehrende der Fakultät, die teilweise direkt in der Gründungsphase zur Universität gestoßen waren.

 

Schmidt/Reichmann: Wie sah das inhaltliche Konzept der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft anfangs aus?

Prof. Kummer: Die Gründung war durch dieses sogenannte Rhedaer Memorandum festgelegt, da hatten die damaligen Literaturtheoretiker Iser und Weinrich die Konsequenzen gezogen aus den Entwicklungen der Linguistik und Literaturwissenschaft der Zeit. Das war auf der einen Seite eben Literaturtheorie als übergreifendes Konzept gegenüber den Einzelphilologien, daß man sozusagen sagt, alle Literaturen können mit der gleichen Theorie behandelt werden, und auf der anderen Seite, in der Linguistik, die neuen linguistischen Modelle plus speziell Textlinguistik; da hat man sich erhofft, daß man das fusionieren kann. Es war so, daß man gesagt hat, das bisherige Konzept, daß man ein bis zwei Fremdsprachen im Laufe seiner Karriere bis zum Abitur lernt, ist nicht optimal; das heißt, man kann das Fremdsprachenlernen immens erweitern, wenn man stärker die allgemeinen Eigenschaften von Sprache reflektiert, dazu sollte dieses Fach Linguistik gut sein, und es sollte in Verbindung stehen mit Deutschunterricht auf der einen Seite und andererseits Fremdsprachenunterricht; das heißt, Fremdsprachenunterricht sollte linguistisiert werden, und dadurch sollte man in der Zeit eine größere Palette von Fremdsprachen lernen können. Hier in der Uni war das Stichwort damals polyglottes Studium, das heißt, jeder mußte, außer der Sprache, die er hier studierte, noch mindestens eine andere Fremdsprache mitstudieren, mit der Zielstellung, daß die Leute sozusagen zu Europäern herangezüchtet werden sollten, also Leuten, die sich auch sprachlich und kulturell in ganz Europa umtun können. Das war im Bereich Linguistik. Also Sprachunterricht sollte mehr erweitert werden. Und im Bereich der Literatur hat man gesagt, da war es auch so, eine theoretische Ausrichtung, alle Literaturen können mit dem gleichen theoretischen Besteck behandelt werden, an neuen Theorien, und gleichzeitig sollten auch alle europäischen Literaturen mindestens gemeinsam studiert werden, so eine verallgemeinerte Komparatistik. Die Lehrstühlen waren so ausgerichtet, die haben geheißen 18. Jahrhundert, oder 17. Jahrhundert, Antike, und so weiter, weil man von vornherein, eigentlich sehr weitsichtig, gesehen hat, in einem zusammenwachsenden Europa sollten auch in diesen Studiengebieten die nationalen Zäune nicht mehr die Bedeutung haben, die sie früher gehabt haben.

Schmidt/ Reichmann: Wie war Ihre Lehrstuhlausschreibung und wie haben Sie das Konzept inhaltlich umgesetzt?

Prof. Drews: Also ich war Feuilletonredakteur bei der Süddeutschen und der Aufbau der Fakultät sah vor, auf der Seite der Professoren eine Professur für Literaturkritik und eine für Sprach- und Stilkritik. Nirgends stand geschrieben, wie die ganz genau voneinander abzutrennen seien. Und die beiden, die diese Professuren bekommen haben, nämlich Frau Marianne Kesting und ich, haben das auch eher als eine nomanklaturische Entscheidung angesehen, sozusagen fürs Ministerium. Angeboten habe ich was man anbietet bei Literaturkritik als Praxis und Geschichte der Literaturkritik, das waren im Grunde die beiden Sachen, die ich gemacht habe. Wobei Sprach- und Stilkritik relativ stark den Einschlag hatte, wie verfaßt man überhaupt eine Literaturkritik, wie sieht dieses Genre aus, was für Möglichkeiten gibt es überhaupt Bücher innerhalb einer Zeitung oder Zeitschrift vorzustellen, und wie zäumt man so was auf, also was schlägt man für einen Ton an, für welches Publikum, was ist die Konsequenz wenn man welchen Ton anschlägt, was kann man dann machen usw. Und, es kam noch ganz stark dazu, am Anfang jedenfalls, daß ich Seminare zu Übersetzungen gemacht habe, also sagen wir einmal, Übersetzung von Shakespeares Sonetten ins Deutsche, und die Geschichte der Übersetzungen von Shakespeares Sonetten. Oder Übersetzungen von Arno Schmidt ins Englische, und daran demonstriert, was kann man am Deutschen in eine andere Sprache gar nicht transponieren, etc.

Schmidt/ Reichmann: Wie lautet die Ausschreibung für Ihren Lehrstuhl?

Prof. Grimminger: Nur Ästhetik. Das hängt mit der damaligen Konzeption der Lili-Fakultät zusammen, man weiß ja, das sogenannte Weinrich-Iser-Modell von Konstanz zum Teil übertragen, in dem die einzelnen Nationalphilologien nicht aufgehoben aber integriert werden sollten in eine allgemeine Literaturwissenschaft, und den Bereich ästhetische Theorie, philosophische Ästhetik auch quer über die Nationalphilologien hinweg sollte ich dann hier versorgen.
Das Konzept sah von vornherein ein Aufbrechen der herkömmlichen Semesterstrukturen vor. Der Vorteil des Blockkonzeptes - abgesehen von enormen inhaltlichen Möglichkeiten - war auch praktischer Natur. Es war den Studenten leichter möglich, neben dem Studium zu jobben, Forschung und Lehre waren auch durch studentische Arbeitsgruppen verbunden. Prof. Ramm beschreibt, wie damals im Sinne des Reformkonzeptes unterrichtet worden ist:

Prof. Ramm: Das Interessante an diesem Konzept ist, daß das auch forschungsgestützt sein sollte, im Grunde sollte es ein Forschungs- und Lehrkonzept sein. Da muß man auch auf die interne Organisation abheben: das ist so, daß wir am Anfang das Studium in fach- und sprachübergreifenden Blöcken konstruiert hatten, daß wir überhaupt nicht mehr die Einteilung Semester, Semesterferien kannten, sondern wir hatten fünfwöchige Blöcke mit hundert Stunden; eine Studentin oder ein Student mußte vier solche Blöcke im Jahr machen, hatte also zwanzig Wochen im Grunde zu tun, konnte die sich legen, wie er wollte; diese waren höchst intensiv, sollten die Forschungsergebnisse auch direkt umsetzen, deshalb diese Intensität, diese intensive Lehrform. Und wenn man überlegt, daß gerade in den Bereichen Buchmarkt, Literaturkritik, verhältnismäßig wenig Forschung auch betrieben wird, war das eine Oase für die Leute, die auf diesen Gebieten forschen wollten. Und das ist dann allmählich auch zurückgenommen worden mit der Lehre, weil es mit den Nebenfächern nicht ausging, weil die Historiker sich strikt weigerten, von ihrem Streustudium abzugehen und merkwürdigerweise die Kombination Deutsch und Geschichte die häufigste Kombination war. Es ist alles nicht umgesetzt worden, team-teaching gehörte dazu, wir haben am Anfang Lehrveranstaltungen mit zwei, drei ganz unterschiedlich interessierten und auch von ganz unterschiedlichen Fächern herkommenden Lehrenden gemacht, was für die Studenten viel aufregender war, als heute dies monolithische Verfahren.
Zum Beispiel, nehmen wir uns den Bereich Nachkriegsliteratur oder Literatur der 50er Jahre vor, Gegenwartsliteratur oder ähnliches: wir hätten hundert Stunden Zeit, wir hätten zwei oder drei Lehrende; wir hätten einmal die Literatur selber, wir hätten die Literaturtheorie in der Zeit die sich entwickeln kann, Poetologie, wir hätten Literaturkritik, wie hat die ausgesehen, wovon war die bestimmt, gab es Literatur in den Medien, Hörspiele, was auch immer; das wäre sozusagen das inhaltliche Gebiet, das ich jetzt nicht aufzuteilen bräuchte in Hörspiel der 50er Jahre oder Literaturkritik der 50er Jahre, sondern ich hätte diesen großen Bereich, weil ich viel Zeit hab. Ich hab zwei oder drei Lehrende, die unterschiedlich qualifiiziert sind, Literatursoziologie der 50er Jahre in Verbindung mit Gesellschaftskritik usw. Wir haben fünf Wochen Zeit, das heißt an vier Tagen der Woche, und zwar immer Montags, Dienstags, Donnerstags, Freitags sind es je 5 Stunden; die Vormittagsstunden waren zwei Stunden jeweils, da hat man so eine Art Vorlesung gehalten, immer abwechselnd oder manchmal auch gemeinsam; und nachmittags war dann Seminararbeit, das hat man zum Teil in Einzelgruppen zum Teil aber auch mit allen drei Lehrenden zusammen gemacht. In den Fällen, in denen wir so einen Typus hatten, wie ich ihn eben beschrieben hab, haben wir häufig den Freitag dafür genommen, an diesem Tag Filme vorzuführen, Hörspiele vorzuführen, Gäste einzuladen, Autoren, Lektoren, Kritiker oder was auch immer. Und das Ganze ging dann fünf Wochen, fünf mal vier Tage in der Woche, das waren dann insgesamt hundert Stunden, viel intensiver, viel mehr, als heute gemacht wird, viel schwerer für uns vorzubereiten; außerdem, wenn man in Konkurrenz zu zwei anderen Kollegen steht, muß man sowieso mehr machen, als wenn man "nur" mit den Studierenden umgeht, und so weiter. Das war so ungefähr die Praxis. Dazu kam, daß man sich notwendigerweise abends zusammenhockte, am Abschluß wurde von den Studenten immer eine Fete organisiert, ein Block hat gegen den anderen mal Fußball gespielt oder man gemeinsam ins Theater ging, also auch die sozialen Kontakte waren ganz anders.
Dem Bielefelder Modell wurde jedoch vom Ministerium keine Chance gegeben. Bevor die ersten Studenten ihr Studium abschließen konnten, nach lediglich drei Jahren Laufzeit, nahm das Ministerium seinen Beschluß, allgemeine Linguistik und Literaturwissenschaft als Schulfächer einzuführen, zurück. Die Ausbildung an der Uni Bielefeld war für die Studenten der Fakultät somit nicht nur überflüssig geworden, sie stellte auch ein Hindernis dar, da der Abschluß nichts gegolten hätte. Mit viel Verhandlungsgeschick konnten wenigstens für die Absolventen der Jahrgänge Zwischenlösungen gefunden werden, um sie trotzdem ins Berufsleben entlassen zu können. Ohne daß man je die Chance gehabt hätte, den Erfolg des Modells zu beweisen, wurde es im Jahr 1975 gekippt. Von einem Scheitern des Modells kann also keine Rede sein - um das Modell scheitern zu lassen, hätte man es bis zum Ende durchlaufen lassen müssen.

Schmidt/ Reichmann: Was sind Ihrer Ansicht nach die Gründe für das Kippen des Modells?

Prof. Kummer: Der Grund von der Abschaffung war der, daß die Eltern sich gegen die neuen Grammatikmodelle gewehrt haben, und die Lehrer auch, die hatten gesagt, wir sind mit der alten Lateingrammatik groß geworden, und wir können unseren Kindern auch helfen dabei, aber wenn dieses neumodische Bäumchen zeichnen und dieser Kram kommt, dann können wir das nicht, und wir sehen auch nicht ein warum wir das tun sollen. Es hat auch ziemliche Mißverständnisse gegeben, daß man versucht hat, was in der Forschung gemacht wird in der Linguistik, direkt in die Schulen zu kippen. Gekommen ist dann Rephilologisierung, das heißt, es war ein zentraler Baustein aus dem Reformkonzept draußen. Und man hat dann gesagt, warum hat jetzt Bielefeld diese Extrawurst, warum gibt es da keine Philologien, nachdem wir vorher sozusagen eine Speerspitze waren um etwas Neues zu etablieren - das Bielefelder Modell sollte ja generalisiert werden in ganz Nordrheinwestfalen - hat sich dieses innovative Potential in ein Stigma verwandelt, daß man gesagt hat, alle anderen Fakultäten haben eine Germanistik, Anglistik, Romanistik, warum habt ihr keine, richtet eine ein.

Schmidt/ Reichmann: Hätte man das Modell nicht trotzdem weiter unterrichten können? Oder gab es außer dem Ministeriumsbeschluß, das Modell zu kippen, auch noch andere Schwierigkeiten?

Prof. Ramm: Die Blöcke wurden erst einmal gestutzt auf 75-Stunden-Blöcke, die durften dann nur noch in den Semesterferien stattfinden, und damit war das Konzept in der Tat tot. Denn wenn ein Student das ganze Semester intensiv studiert, und dann noch in den Semesterferien so einen Block machen soll, und dann noch jobben muß, das geht nicht mehr, da hat man keine Chance mehr. Das war die mangelnde Beweglichkeit, die mangelnde Flexibilität innerhalb der Universität selber, die diese, sagen wir mal formalen Vorzüge die wir hatten, zurückgestutzt haben. Und die inhaltlichen Dinge sind zurückgestutzt worden A) durchs Ministerium, das ist völlig richtig, und B) durch so eine allgemeine Veränderung in der Mentalität, daß man doch wieder Einzelphilologie wollte, da nichts mehr riskieren wollte, daß die Studenten häufig so gedacht haben. Man muß sie trotzdem mit dem konfrontieren, das sie nicht wollen und im Moment nicht übersehen können, damit sie einfach die Chance haben zu lernen, ablehnen können sie's dann immer noch, aber bewußter. Aber das ist natürlich heute sehr, sehr viel schwerer, innerhalb dieser festgefahrenen Curricula. Ein Punkt kommt auch noch dazu, diese Art Regelungswut des Ministeriums bis in die letzten Einzelheiten, inzwischen wird festgelegt wie lange eine Ausarbeitung für ein Referat zu sein hat, völlig unabhängig vom Thema muß es dann genau acht Seiten sein. Das wäre für uns `ne Horrorvorstellung gewesen, damals und für mich ist es das heute noch, es gibt ja viele, die halten das für eine Art objektiver Gerechtigkeit.

Schmidt/ Reichmann: Die Fakultät heute ist eine sogenannte Rumpf- oder Ruinenfakultät; hätte es Ihrer Ansicht nach andere Möglichkeiten gegeben?

Prof. Drews: Ich glaube, daß die Universität damals den Fehler gemacht hat, daß sie sich zu dem Zeitpunkt nicht ganz klar entschieden hat. Sie hätte entweder strikt re-nationalphilologisieren sollen, um dem Ministerium gegenüber eine bessere Argumentation zu haben. Oder sie hätte das ganze Konzept, ja, noch mit viel größerem Klamauk sozusagen auffliegen lassen sollen, denn es war ja nicht unsere Schuld, wir hatten ja nicht die Chance, zu zeigen, was man damit machen kann, sondern es ist uns einfach von der Ministeriumsseite abgeschnitten worden. Es kam dann als zweites Problem dazu, daß man dann ja sofort die Zahl der Lehrstühle gegeneinander hätte verschieben müssen, weil eins ganz klar ist, von der studentischen Seite war das Interesse an allgemeiner Linguistik unter einer sehr starken linguistischen Komponente innerhalb der Studiengänge nicht so groß, wie das Interesse an Literatur und einer konventionellen nationalphilologischen Ausbildung. Das ist jetzt kein Werturteil, das ist nur einfach so, man kann das auch mit Zahlen zeigen, das Interesse für die linguistische Seite war nicht so groß.

Die Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld hat heute keine vollständige Romanistik, eine unterbesetzte Anglistik, und die Slawistik besteht fast nur aus Russisch. Die Lehrstuhlverteilung des Reformkonzeptes wurde später kaum überarbeitet, was zu einem großen Übergewicht der Stellen auf der Seite der Linguistik führt und zu einer Unterbesetzung bei Literaturwissenschaft und den einzelnen, nun einzurichtenden Philologien. Ein Relikt aus der Reformzeit ist das eigentlich für die Gesamtuniversität konzipierte Sprachenzentrum, an welchem früher von Arabisch über Chinesisch bis Swahili (fast) alles angeboten wurde. Heute existieren nur noch einige Sprachen, doch ist vom eigentlich interdisziplinären Ansatz (Landeskunde, Literatur usw) nur noch die bloße Sprachvermittlung übriggeblieben. Englisch und romanische und slawische Sprachen sind in diesem Bereich zu Hilfsarbeitern für die Lehrstühle der Philologien geworden.

Schmidt/ Reichmann: Beschreiben Sie die Rolle des Sprachenzentrums:

Prof. Ramm: Das Sprachenzentrum war ein ganz wichtiger Punkt in diesem mehrsprachigen Konzept. Erstens war es für die ganze Universität wichtig, und zweitens war es dafür wichtig, um das, was an Sprache den Studierenden sozusagen fehlt, daß das geboten wurde vom Sprachenzentrum, und das für die Sprachwissenschaft die ganzen Beispielsprachen im Sprachenzentrum verankert waren. Für die Literaturwissenschaft war das etwa auch die Altphilologie, die nie richtig besetzt worden ist, Mittelalter-Deutsch ist nie richtig besetzt worden, obwohl man im Grunde gar nicht Literaturwissenschaft machen kann, ohne diese Stellen. Im Sprachenzentrum war es eben so, weil man sich nicht hat leisten können, für alle außerindoeuropäischen Sprachen eine C4-Stelle oder C3-Stelle zu machen, hatte das Sprachenzentrum eine ganz, ganz wichtige Funktion für die Linguistik, noch mehr als für die Literaturwissenschaft. Das ist dann auch irgendwann aufgelöst worden als eigenes Sprachenzentrum und auch wieder integriert worden in die einzelnen Philologien, was große Schwierigkeiten gemacht hat, da es bisher grade philologieübergreifend konzipiert war. Türkisch ist nicht gleich Fach Türkisch, sondern Türkisch zum Beispiel ist eine Sprache, die für die Linguistik aus vielen Gründen interessant ist, die für die Ausländerpädagogik interessant ist, die interessant ist für die Literatur, weil das ein Literaturbereich ist, den man wenig kennt, und so weiter. Und in dem Moment, wo ich das reduziere, und das irgendwo anbinden muß, ist sozusagen der Reiz und die Atmosphäre weg, auch die wissenschaftliche Atmosphäre.

Schmidt/ Reichmann: Beschreiben Sie die Rolle des Sprachenzentrums:

Prof. Kummer: Das Sprachenzentrum ist auch aufgelöst worden als Institution, das gibts nicht mehr, und die Leute, die da drinnen waren, sind eingebaut worden in die jeweiligen Fächer. Die, die Englisch unterrichtet haben, sind in die Anglistik gegangen und so weiter. So lange das eine eigene Institution war, hat es diesen Institutionsstatus dazu verwendet, um den Leuten Dauerstellen zu verschaffen. Ursprünglich sollten die Lektoren nur fünf Jahre hier sein und dann ausgewechselt werden, und statt dessen haben wir jetzt sozusagen die Anfangscrew, die da gekommen ist, vollständig erhalten; der Vorteil davon ist, daß die Leute eigentlich sehr hoch qualifiziert sind im Bereich Linguistik meist, oder auch Literaturwissenschaft und Landeskunde, einige davon habilitiert. Die könnten ohne weiteres äquivalent zu anderen Anglisten, Romanisten usw. unterrichten, Prüfungen abnehmen, usw. Aber da haben sich die anderen Leute, die sozusagen den regulären Weg gegangen sind, hierher berufen worden sind oder Assistentenstellen hatten, gegen diese Gleichbehandlung gewehrt und versuchen immer wieder, die Leute, die aus dem Sprachenzentrum gekommen sind, in den Bereich Sprachpraxis abzudrängen. Das heißt, die sollen nicht in den wissenschaftlichen Bereich kommen, sondern sollen Sprachpraxis machen, und das führt teilweise zu grotesken Dingen. Ich habe das jetzt wieder erlebt, ich mußte eine Prüfung abnehmen über black english, ich bin für black english kaum spezialisiert, ich muß mich da einlesen, und wenn ich was lese dazu für die Prüfung, dann lese ich ein Buch, von zwei Leuten hier aus dem Sprachenzentrum, die das beste deutschsprachige Buch über black english geschrieben haben, Ä die dürfen aber nicht prüfen.
Ein weiteres Relikt aus der Reformzeit ist das Bielefelder Kolloquium neue Poesie. S.J. Schmidt hatte die Idee, unter empirischen Bedingungen im Labor zu überprüfen, ob Kreativität meßbar sei. Aus diesem Forschungs- und Lehrprojekt ist eine kulturelle Veranstaltung geworden, die seit Jahren über die Grenzen von Bielefeld hinaus aufgrund ihrer Einzigartigkeit berühmt ist:

Prof. Ramm: Die Forschungssituation war ganz anders. Wenn man sieht, daß das Bielefelder Kolloquium Neue Poesie aus einem Forschungsprojekt, das mit der Lehre hier verknüpft war, hervorgegangen ist, dann sieht man, wieviel diese Verbindung zwischen Forschung und Lehre unter verhältnismäßig günstigen Bedingungen für Universitäten und auch für Studierende bringen kann. Dieses Unternehmen war ein Unternehmen der empirischen Literaturwissenschaft, einer der Schwerpunkte damals, zu denen S.J. Schmied gehört hat, war empirische Literaturwissenschaft, Drews und ich hatten mit empirischer Literaturwissenschaft in dem Sinn jedenfalls nichts im Sinn und deshalb gesagt, wir müssen das auch in den ästhetischen Bereich, in den literarischen Bereich hinüberziehen und haben deshalb Schmidt überredet, diese Lesung zu machen. Denn der Punkt war, wir haben gesagt, es ist einfach ein Jammer, wir haben 20 Weltklasseautoren in Bielefeld und niemand hört die in der Stadt, die sitzen nur im Raum und werden getestet, was schon schlimm genug ist. Und deshalb sind wir dann in die Öffentlichkeit gegangen. Für die Autoren gab es mehrere Argumente, das weiter zu machen. Einmal war es das Gruppenerlebnis, die Wut über diesen Test und der große Erfolg der Veranstaltung. Zum zweiten waren die meisten damals im Rahmen der Verschlankungsprogramme der Verlage aus den Verlagen geflogen oder hatten sich umorientieren müssen, selbst große Autoren wie Heissenbüttel oder Mayröcker, und hatten zum erstenmal wieder das Gefühl, daß man gemeinsam vielleicht doch die Möglichkeit hat, wieder stärker präsent zu werden. Das dritte war, daß die internen Gespräche doch sehr schnell wegkamen von diesen empirischen und psychologischen Fragestellungen und sich wieder um Texte drehten, daß offenbar so eine Art Forum gefehlt hat, wo man gemeinsam über diese Art von Literatur nachdenkt und direkt an den Texten arbeitet. Wir haben in der Universität ein Archiv von Video- und Tonbandaufnahmen, das glaube ich in Europa einmalig ist, auch wenn das jetzt ein bißchen großkotzig klingt, aus diesen ganzen Bereichen zusammengesammelt, weil wir alles ja dokumentiert haben, was an Lesungen war, wir haben die letzte Lesung die etwa Reinhard Prießnitz gehalten hat, die letzte Lesung die Heissenbüttel überhaupt in seinem Leben gehalten hat, all solche Dinge sind hier archiviert, und stehen der Forschung aber auch der Lehre zur Verfügung.
Die Situation der Ruinenfakultät erfordert von den Lehrenden große Flexibilität bei der Abdeckung des Lehrangebotes. Allerdings läßt sie auch Spielraum für eigene Interessen, ebenfalls ein positives Relikt aus der Reformzeit. Prof. Drews berichtet:

Prof. Drews: Im Grunde ist es katastrophal. Das ganze funktioniert auf der Basis, daß ein relativ großer Prozentsatz an Selbstausbeutung läuft, daß man wirklich sehr viel machen muß und sehr flexibel sein muß, und es basiert auch auf der Tatsache einer - jetzt im positiven Sinne - großen Liberalität. Eine große Liberalität auch im Lehrangebot. Bei bestimmten Seminaren, würde ich auf einer konventionellen Universität erst weiß der Teufel wen alles haben fragen müssen, ob ich das lehren darf, ob das irgendwie mit der Denomination zusammenstimmt oder nicht. Sowas machen wir hier eher andersrum, oder haben es bis jetzt eher andersrum gemacht. Wenn einer einen bestimmten Lehrgegenstand, ein bestimmtes Thema, angibt, welche Sprache, welche Gattung auch immer, wenn er das tut, wird er sich schon gut vorbereitet haben, er will sich ja schließlich nicht blamieren. Die Entscheidung über die Qualität von Seminaren liegt dann darin, daß einer sagt, ich will das machen, und selbst wenn das nicht mein zentrales Forschungsgebiet ist, das krieg ich hin, da werd ich mich so gut vorbereiten, daß das schon geht, die Studenten sollen es ruhig hinterher beurteilen, nicht irgendeine übergeordnete Stelle nach einer abstrakten Denomination. Damit kann man eine ganze Menge überbrücken, und damit entsteht auch eine Bewegung von, ja, Flexibilität, von Was-Neues-Aufmachen, eine neues Feld aufmachen, und das ist etwas, was ich bis heute an der Fakultät mag.
Die Ungleichverteilung der Lehrstühle führt - bei aller inhaltlichen Freiheit – aber auch zu katastrophalen Engpässen bei einer sinnvollen Abdeckung des Lehrangebotes:

Prof. Drews: Bei uns ist es so, daß wir immer am Rande dessen manövrieren, was man überhaupt eigentlich leisten kann. Weil wir kucken müssen auf die Breite des Lehrangebotes für die Studenten, die haben ein Recht da drauf, daß bestimmte Dinge gelehrt werden, beziehungsweise abgedeckt werden, aber gleichzeitig sind wir im Grunde zu wenig Leute dafür. Was heißt, daß eine gewisse Breite, ein gewisser Reichtum innerhalb der einzelnen Fächern den Studenten nicht angeboten werden kann, weil wir zuwenig Personal haben. Das heißt, wir müssen dauernd irgendwie improvisieren und springen und Lehraufträge verteilen, - ja, oder uns zerreissen. Man kann das auch nicht sehr viel weiter kommentieren, man kann sagen, die Dissertationen, die da sind, und auch die Staatsexamenskandidaten, da sind immer wieder sehr gute Leute, die auch beruflich ihren Weg gemacht haben, also kann das gar nicht so übel sein, was wir machen. Nur, es sieht natürlich so aus, daß wir dauernd uns nach der Decke strecken müssen und dauernd ist es irgendwo zu kurz und dauernd müssen wir improvisieren und für gewisse Sachen Stellen oder Lehrmöglichkeiten hin- und herschieben, um da mal wieder eine Lücke zu stopfen und da mal wieder zu improvisieren und so weiter.
Die heutige Hochschulpolitik verspricht zwar laufend Verbesserungen, die Lehrenden selbst beurteilen die Situation jedoch anders. Vieles, was heute als Reform bezeichnet wird, ist längst dagewesen, überhaupt nicht neu. Und: das Ministerium selbst scheint - zumindest in Nordrheinwestfalen - das größte Hindernis seiner eigenen Reformpläne zu sein:

Prof. Ramm: Heute verwaltet man ja Alltagsgeschäfte, die ohnehin von Düsseldorf bestimmt werden. Man zerbricht zu 90% der Zeit den Kopf der Ministerin oder des Rektors. Es ist absolut unsinnig. Damals, in solchen Bereichen, war noch was zu tun, weil wir uns soweit selbst organisieren konnten. Das ist ja interessant, jetzt gibt es ja die Überlegung zur Funktionalreform an der Universität, und wenn ich mir die durchkucke, sind die wichtigsten Stichworte Flexibilisierung der Lehre, Flexibilisierung der Prüfungsordnung, Abschlüsse eventuell unterhalb dieser Abschlüsse die wir haben; und wenn ich mir gleichzeitig ankuck was dauernd aus dem Ministerium kommt, bis auf Seitenzahlen genau geregelte Scheine, die Zahl der Scheine haargenau geregelt, Klausuren im Anschluß an die Vorlesung und ähnliche Ziele, die formuliert werden, widersprechen völlig dem, was in der Praxis verlangt wird. Auch sowas wie Blockstudium steht wieder in den neuen Entwürfen, sowas wie fach- und sprachübergreifende Veranstaltungen stehen wieder in den neuen Entwürfen, also alles im Grunde die Modelle, die abgewürgt worden sind, die wir schon haben und die heute sozusagen theoretisch, als Lippenbekenntnis, gefordert werden. Aber wenn Sie sich mal die letzten Erlasse jeweils, Eckwerte und alles ankucken, gehen die alle genau in die entgegengesetzte Richtung, Deregulierung wird gefordert und die Regulierungswut nimmt zu.
Ärgerlich ist vor allem, daß lediglich von Finanzhoheit gesprochen wird. Wenn nichts mehr zu verteilen ist, sollen es die Universitäten selbst übernehmen. Doch sinnvolle Hochschulpolitik kann eigentlich nur bei kompletter Autonomie auf allen Bereichen geleistet werden:

Prof. Ramm: Wenn man so einen Globalhaushalt macht, bräuchte man zum Beispiel auch die Hoheit über die Personalstruktur, denn der Personalhaushalt ist viel größer; wir haben gerade festgestellt, wir wollten eine Stelle besetzen, aber schon eine Assistentenstelle ist wesentlich teurer als eine Professorenstelle, wenn man sie nur für ein Jahr besetzen will. Man müßte also auch am Personalrecht was ändern, dann gerät man aber ins Dienstrecht allgemein, man gerät ins Beamtenrecht, das ist überhaupt nicht mehr hochschulspezifisch. Ich halte die Personalstruktur so wie sie jetzt ist für nicht sehr vernünftig. Man müßte die Studiengänge selber machen können, was man nicht darf, man müßte die Abschlüsse selber machen können, was man nicht darf, und dann könnte ich auch die Gelder vernünftig einsetzen. Das heißt, die Vernetzung, der Zusammenhang von Haushalt, Personal, Abschluß, Studiengängen usw. ist unheimlich eng, wenn man wirklich ernsthaft drüber nachdenkt. Man kann nicht an einem Symptom kurieren, und die andern Dinge außer acht lassen, das geht einfach nicht.
Natürlich wäre das Konzept der 60er und 70er Jahre nicht ohne Veränderungen oder Modifizierungen auf die heutige Situation anwendbar. Die wesentlichsten inhaltlichen Aspekte, wie interdisziplinäre und interkulturelle Ausrichtung, flexible Organisation des Studiums und der Lehre und stärkere Verknüpfung von Forschung und Lehre sind wieder Schlagwörter heutiger Reformansätze in der Hochschulpolitik und werden hier als "Neuerungen" verkauft. Hätte man den Bielefeldern eine Chance gegeben, zu zeigen, wozu das Modell eigentlich fähig gewesen wäre, so wären wir in der heutigen Hochschulpolitik vielleicht schon einige Schritte weiter.

© Eva Reichmann (Bielefeld)

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