Sergej P. Resnitschenko (Melitopol/Ukraine)
Um einem eventuellen Mißverständnis vorzubeugen, sei es bemerkt, daß allem Nachfolgenden Materialien zu Grunde liegen, die vor allem in der einstigen UdSSR und der heutigen Ukraine veröffentlicht worden sind. Dabei können einige von meinen Grundgedanken als zutreffend gelten.
Es ist bekannt, daß das Wort eine Bedeutung hat, die als konventionell, d. h. allgemeingültig, bezeichnet wird. Man verstehe hier, daß gewissen Gegenständen, Sachen, Handlungen, Zuständen, Begriffen usw. ein bestimmtes Wort entspricht. So heißt zum Beispiel ein Gegenstand mit einer ebenen waagerechten Fläche auf Beinen der Tisch, und die in bestimmter Anordnung zusammengebundenen Seiten von Text bestimmter Dicke heißen das Buch. Aber in die Umgebung von anderen Wörtern gebracht, bekommt jedes Wort noch eine zweite, kontextuale Bedeutung. Auf das Beispiel mit Buch Bezug nehmend, erinnere man sich an den Phraseologismus ein Buch mit sieben Siegeln. Über die kontextuale Bedeutung hinaus verleiht der belletristische Text dem Wort auch noch eine intertextuale Bedeutung durch Symbolisierung, Allegorisierung u. ä., wenn die Subjektivität der Autorensemantik an die erste Stelle rückt.
Daraus wird ersichtlich, daß es bei der literarischen Textanalyse offenbar nicht ausreicht, nur linguistische Kategorien des betreffenden Textes zu erforschen. Denn sonst bleiben ästhetische Spezifika der Form und künstlerische Spezifika des Inhalts unbeachtet. Trotzdem sei es erwähnt, daß die Bemühungen mehrerer Sprachforscher zu einem gewissen Resultat geführt haben: es entstand eine neue Richtung, die sich mit linguistischer Erforschung des belletristischen Textes auseinandersetzte. Die Vertreter dieser Richtung waren auf der Suche nach einer besonderen Variante der nationalen Allgemeinsprache, die sie im Kunsttext fanden. Aber aus wissenschaftlicher Sicht war ihr Ergebnis zwar höchstens nur ein Register von Einzelfällen im Gebrauch von allgemeinsprachlichen lexischen, morphologischen und stilistischen Mitteln. Wenn das Kunstwerk als eine besondere Form der Welterkenntnis zu betrachten, so blieb es für Vertreter dieser Richtung verschlossen. Machtlos zeigte sich hier auch der Strukturalismus (mit R. BARTHES, J. KRISTEVA und J. LOTMAN, um einige Namen zu nennen), weil die sogenannte bildliche Information des literarischen Textes durch formale Schichtanalyse nicht zu erfassen war.
In den 60er/70er Jahren wurde für viele Sprachforscher die Notwendigkeit offensichtlich, die Methode der linguistischen Analyse eines künstlerischen Textes durch eine neue zu ersetzen. Ihrer Auffassung nach hätten Sprachwissenschaft und belletristische Linguistik dasselbe Untersuchungsobjekt, d. h. das Wort, wobei sich diese Disziplinen mit unterschiedlichen Untersuchungsgegenständen auseinandersetzten und nämlich mit der kommunikativ-informativen Funktion des Wortes die erste und mit der ästhetisch-bildhaften die zweite. So entwickelte sich allmählich eine neue Richtung im Rahmen der Sprachwissenschaft, die sich selbst später zu Wissenschaften zählte, und welche immer noch keine streng bestimmte Bezeichnung hat. Um einige darunter anzuführen, nenne man die folgenden: literaturwissenschaftliche Stilistik, Dekodierungsstilistik, Textinterprätation, stilistische Analyse, Linguostilistik usw.
Trotz der vorhandenen Meinungsverschiedenheit über Definitionen sind sich die Vertreter dieser Richtung darin einig, daß die sprachliche Form und der Ideengehalt bei der Untersuchung eines belletristischen Textes berücksichtigt werden müsse. Sie machen Akzent darauf, daß nur eine Synthese von Sprach- und Literaturwissenschaft hilft, die Aufgabe einer umfassenden Analyse des Kunstwerkes zu lösen, was diese Wissenschaften selbständig nicht zu vollbringen vermögen. Obwohl man schon zweifellos einige Leistungen erzielt hat, man nenne hier beispielsweise die Analyse der inhaltlichen Funktion von Klangmitteln bei A. M. PE KOVSKIJ, der rhythmischen Einheiten bei L.V. C ERBA, der phraseologischen Einheiten bei J. J. AVALIANI, würde diese neue linguistische Richtung, die in ihrem heutigen Zustand kaum zu den Wissenschaften zählen kann, in eine Sackgasse geraten. Die Ursache liegt in demselben wie bei früheren Versuchen methodologischen Fehler: für die Erkenntnis eines nicht ganz linguistischen Objektes, d. h. des Kunstwerkes, wird die traditionelle Methodik der Sprachwissenschaft angewendet.
Tatsächlich, wenn eine Disziplin, nenne man sie auch wie man wolle, die Erforschung des Kunstwerkes als eine Ganzheit von Inhalt und Form zum Ziel hat, so hat sie nicht nur einen der Linguistik entgegenliegenden Untersuchungsgegenstand, sondern auch ein ganz anderes Untersuchungsobjekt: nicht das Wort, sondern die Gesamtheit von Kunstmitteln für die Darstellung des Ideengehaltes.
Da es einen besseren Terminus kaum gibt, schlagen wir vor, diese Gesamtheit als Bildhaftigkeit zu bezeichnen. Darunter ist die Gesamtheit jener Kunstmittel, die den Ideengehalt des belletristischen Werkes darstellen helfen, zu verstehen. Als Bezeichnung der neuen Disziplin, die auf die Erforschung eines Kunstwerkes als Ganzheit abzielt, bediene ich mich nach meinem Doktorvater des von ihm 1984 vorgeschlagenen Terminus Linguopoetik.
Da das Untersuchungsobjekt der Linguopoetik die Bildhaftigkeit als bilddarstellendes Mittel ist, welches seinerseits zum Untersuchungsgegenstand der Literaturwissenschaft zählt, spielt die letztere eine besondere Rolle für die belletristische Linguistik. Wenn Linguopoetik die wichtigste, obgleich nicht die einzige Funktion eines Kunstwerkes, d. h. ästhetisch-bildhafte, analysieren will, kann sie sich ohne Literaturwissenschaft nicht abfinden.
Das reale Weltbild, das die Menschen als ungeteilte Ganzheit lebend und auf den Menschen als solche wirkend empfinden, wird apriori mit Hilfe des Kunstbildes erkannt. Nur das Kunstbild ist imstande, die Welt als Ganzheit synthetisch zu erfassen. Eben deswegen ist dieses Bild immer ein ästhetisches Modell sämtlicher Weltverhältnisse, im Gegensatz zu der Empfindung und dem Verstand, die dem Menschen helfen, andere, nicht belletristische, Bilder herzustellen, die sich nur zur teilweisen Verallgemeinerung der Welt eignen.
Bei der Darstellung unserer Umgebung als Ganzheit ordnet der Dichter die Sprachmittel in einer bestimmten Reihenfolge und füllt dadurch das Wort mit einer kontextuellen Bedeutung. Hiermit verläßt es das Untersuchungsgebiet der Linguistik und betritt das der Linguopoetik. Deswegen sollte die Komposition als die Reihenfolge der im Kunstwerk gebrauchten Wörter zur Schlüsselkategorie der Linguopoetik ernannt werden. Sie ist die Reihenfolge von Wörtern im Werk und der einzige extralinguistische Faktor im belletristischen Text, weil sie zum Bereich des Denkens hingehört, nicht der Sprache.
Auf Grund des oben Angeführten ist die Schlußfolgerung zulässig: Die Auseinandersetzung mit dem Problem bzw. mit der Frage, wie das Kunstbild dargestellt wird, müsse auch im folgenden zum Aufgabenbereich der Linguopoetik gehören, die als einziges Instrument imstande ist, in vollem Maße die belletristische Funktion der Sprachmittel zu erkennen.
Um das neue Herangehen an literarische Kunstwerke zu veranschaulichen, wird von mir die Kürzestgeschichte als eine der modernen Textsorten analysiert. Man beachte dabei, daß die deutsche Literatur neben der Kürzestgeschichte mehrere Textgenres von einem kleinen bzw. kleineren Umfang aufweist (darunter sind vor allem kleine Prosa, Kurzprosa und Kurzgeschichte zu nennen), die über strenge Definitionen immer noch nicht verfügen. Meines Erachtens können die Streitigkeiten über Termini, Klassifizierungsprinzipien u. ä. von der Linguopoetik auch in bezug auf die Kurzgenres der deutschsprachigen Prosa gelöst werden.
Schon die Bezeichnung Kürzestgeschichte sieht maximale Textkürze voraus. Dies ist die 1. Genredominante dieser Textgattung. Aber unter der Textkürze ist gar nicht nur der Umfang zu verstehen, denn es sind noch Kurzgeschichte, kleine Prosa, Anekdote, Spruch, Schwank, Fabel, die auch einen kleinen Textumfang aufweisen. Deswegen würde dieses Definitionsprinzip aus linguopoetischer Sicht vor jeglicher Kritik nicht bestehen. Wir verstehen die Kürze eines dem Sujet und der Idee nach abgeschlossenen belletristischen Textes als seine schnelle Vermittlung der künstlerischen Intention, der Idee und keinesfalls die Anzahl von Zeilen und Seiten. Die Schnelligkeit, wenn ein solches Terminus zulässig ist, mit der der belletristische Konflikt des literarischen Kunstwerkes gelöst wird, das ist eben das grundlegende Klassifizierungs- und Definitionsprinzip. Aber hier bedarf es einer wichtigen Ergänzung, denn dieses Merkmal zeichnet nicht nur die Kürzestgeschichte aus und erscheint nicht erst im 20. Jahrhundert mit der Kürzestgeschichte. Selbst diese Schnelligkeit ist auch für solche alte, beinahe antike Genres wie Aphorismen der altgriechischen bzw. altrömischen Literatur oder die mittelalterliche deutsche Spruchdichtung, Fabeln, Schwänke charakteristisch. Die Lösung kommt durch die 2. Genredominante, d. h. Erscheinungszeit des Textes. Diese nennen wir zum Beispiel epochebezogene bzw. chronologische Dominante.
Bekanntlich ist das 18. Jahrhundert durch den Aufstieg des Romans geprägt. Dem mehr oder weniger sozialen Roman von Daniel DEFOE, Henry FIELDING, Tobias George SMOLLETT, Denis DIDEROT folgte in den nächsten 19. und 20. Jahrhunderten der Roman-Epopee von William Makepeace THACKERAY, STENDAL, Honore de BALZAC, Emile ZOLA, John GALSWORTHY, William Harrison FAULKNER u. a. Die herrschende große Form mußte den Kern des Lebens erfassen, aber da kam die Reaktion auf diese große Form - die Novelle von Gottfried KELLER, Theodor STORM, Guy de MAUPASSANT, Thomas HARDY, Stefan ZWEIG, Thomas MANN u. a.
Später wurde die Novelle der Forderung gewahr, den Roman als Widerspiegelung der sozialen Verhältnisse zu ersetzen, dabei seine Gedankenkonzentration nicht zu verlieren. Nach diesem Muster mußte auch die Kürzestgeschichte erscheinen und sollte einen entsprechenden Ersatz für die Gedankentiefe des Romans und der Novelle anbieten, d. h. eine Vielschichtigkeit aufweisen und über Ideenanhäufungen, Offenbarungen, Polemiken, Parabeln, Allusionen, Reminiszenzen u. a. m. verfügen. Den Symbolisten, dem Roman-Epopee und dem Ulysses von James JOYCE gefolgt, nur nach alledem konnte die Kürzestgeschichte zur Welt kommen, als Versuch, den großen Umfang durch ein kleines Format zu ersetzen, als semantische Vielschichtigkeit, als umfangsarme, wortkarge Darstellungsform, als ein offener Schluß usw.
Da zeigt sich die 3. Genredominante der Kürzestgeschichte, d. h. die Ideenverdichtung bzw. die Gedankenkonzentration.
Praktische Möglichkeiten der Linguopoetik bei der belletristischen Textanalyse möchte ich hier versuchsweise am Beispiel einer Kürzestgeschichte zum Ausdruck kommen lassen:
Günter Kunert: Seit dem 42. Jahr des Jahrhunderts
Aufgeblättert in einer alten Zeitschrift dies: Vor schwarzuniformierten Schatten im Hintergrund das starre Antlitz eines jungen Mannes, auf der Brust das Zeichen der Auserwähltheit des Volkes - den Schlachtviehstempel -, hungerdörr und verlegen lächelnd: als schäme er sich seines Zustands, den das Foto auf immer zeigt. Seine Hinterlassenschaft: eine Handvoll Asche, zu der er gemacht ward und die auf dieser Erde lastet unaufhebbar.
Um den eigentlichen Ideengehalt dieser Kürzestgeschichte zu erschließen, wird die Analyse durch eine kettenweise Verfolgung des Gedankenganges des Verfassers gemacht. Aus dem Textwortlaut leuchten meines Erachtens folgende Bilder auf.
Das Wort "aufgeblättert" am Anfang der Geschichte ist meiner Meinung nach als Zufälligkeit, Leichtsinnigkeit, Oberflächlichkeit zu verstehen und führt darin ein, daß der Leser das Thema als etwas Leichtsinniges, nicht sehr Wichtiges empfangen soll.
Der nächste Textteil "in einer alten Zeitschrift" ist eine attributive Wortfügung mit der Satzfunktion einer adverbialen Bestimmung des Ortes, wo ich die Verkörperung von Unnützlichkeit, Ungebrauchbarkeit sehe.
Als nächstes ist das Wörtchen "dies" eingesetzt worden, das eine gewisse Zweitrangigkeit, Vernachlässigtheit, Widerlichkeit zum Ausdruck bringt, die durch die Endstellung in einer nominativen Reihe betont ist.
Das Partizip II "schwarzuniformiert", das die Bilddarstellung einleitet, bedeutet zweifellos "SS-Leute". Danach steht im Text "Schatten im Hintergrund". Meiner Ansicht nach stellt der Autor damit Gefahr, Unvoraussagbarkeit, Ungeborgenheit vor unvoraussagbarer Unbestimmtheit dar.
Die nächstfolgende Beschreibung "das starre Antlitz eines jungen Mannes", die offenbar als eine künstlerische Einheit zu betrachten ist, bringt einen Kontrast zur Geltung, der eine Unzutrefflichkeit, Fehlerhaftigkeit, Überraschung durch das gesehene ungewöhnliche Bild ausdrückt. Diese Beschreibung setzt sich mit dem doppelten Genitiv "das Zeichen der Auserwähltheit des Volkes" fort und ist hierbei durch unverdeckte, offensichtliche Stilanhebung, die Reminiszenz: der Junge ist Jude, ein doppeltes Genitiv, Gehobenen Stil, Andeutung auf die Herrschaft der Massenideologie, stilistisch künstliche Ausdrucksform geprägt.
Das folgende Detail am Bild ist "Schlachtviehstempel". Dieses Kompositum stellt meiner Meinung nach einen außerordentlich mächtigen Kontrast dar und kann als die Kulmination im Text betrachtet werden. Oder war die Kulmination an der vorigen Wortfügung? Hier empfindet der Leser eine drastische Stilsenkung, denn die Figur "Schlachtvieh" vermittelt zweifellos die Einsicht, daß es gibt keinen Ausweg mehr gibt und keine Rettung möglich ist. Deshalb steht im Text im folgenden "hungerdörr und verlegen lächelnd..." und weiter eine glatt fließende Darstellung bis "immer". Noch ein scharfer Kontrast kommt zur Geltung: das völlig unwichtige "Schlachtvieh", das als ein künstlerisches Bild in einem neutralen Kontext kaum beachtet würde, kommt hier aber mit "auf immer" (!!!) zusammen. Offensichtlich nähert sich der Schluß der Geschichte bzw. wird die Autorenintention zum Ausdruck gebracht.
Und tatsächlich: "Seine Hinterlassenschaft" wird zum Grundinteresse des Betrachters. Diese Stelle im Text l?ßt meiner Ansicht nach über die folgende Frage nachdenken: Was ist nach dem Menschen, der aus dem Leben jung geschieden ist, geblieben? Man empfindet sicherlich eine Andeutung oder sogar die Aufforderung an den Leser: Suche nach dem Wesentlichen, nach dem Ideengehalt!
Das nächstfolgende Bild "eine Handvoll Asche" ist hier semantisch eindeutig und drückt Unnütz, Bagatelle, ein bißchen von Etwas und Nichts, was eine Beziehung zum Leben hätte, aus. Aber ihm folgt "gemacht ward", ein Imperfekt Passiv mit dem Hilfsverb in der veraltenden Form "ward", nicht "würde", das den Leser folgendes empfinden läßt: alles, was beschrieben worden ist, ist schon längst unwiderruflich vorbei; andererseits aber kann diese Stelle auch als ein Hinweis auf etwas Wichtiges verstanden werden.
Außerdem müsse berücksichtigt werden, daß "Asche ... lastet", d. h., obwohl das in einer alten Zeitschrift gesehene Bild Nichts ist und sich schon jenseits des Lebens befindet, läßt dieser Zeitpunkt in der deutschen Geschichte den Autor immer noch nicht in Ruhe. Die Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges ist also immer noch aktuell bzw. muß aktuell bleiben.
Und zum Schluß kommt etwas vollkommen Unvoraussagbares, Überraschendes. Der Dichter verknüpft miteinander W?rter, die semantisch einander gegenüber stehen: "eine Handvoll Asche... lastet unaufhebbar". Es bildet sich hier ein offenbar äußerst scharfer Kontrast heraus, zwischen zwei ihrer wörtlichen Bedeutung und stilistischen Funktion nach beinahe radial entgegenliegenden Bildern: Eine kaum etwas wiegende Handvoll Asche, die von einem leichten Windhauch verweht werden kann, liegt nicht; nein, sie lastet, und darüber hinaus lastet sie unaufhebbar.
Was den Stil angeht, so ist der Text durchgehend im nominalen Stil verfaßt und gehalten. Es treffen sich fast ausschließlich nur substantivische Wortfügungen. Der Blick des Lesers wechselt von einem Detail des Bildes zum anderen und erfaßt es, obwohl nur statisch (ein Foto!), aber GANZHEITLICH. Dadurch wird sichergestellt, daß der Gedanke am schnellsten übertragen wird. Außerdem ist die ganze Geschichte nur in zwei vollendeten Sätzen verfaßt, d. h. im Text ist nur eine Pause enthalten, unmittelbar vor dem Autorenabschlußwort. Zunächst kommt die Einleitung zum Thema, dann eine Pause, persönliche Empfindung des Verfassers.
Dieses Kunstwerk scheint über gar kein Moral, keine Stellungnahme zu verfügen. Aber im Titel ist das Jahrhundert nicht angegeben. Vielleicht kommt so Ähnliches wenigstens einmal, aber dann in jedem Jahrhundert vor?
Mit noch einem Rückblick auf den ganzen Textanfang wird man sich darüber klar, daß die alte Zeitschrift "aufgeblättert" wurde, nicht gelesen bzw. durchgesehen oder durchgelesen. Der Autor hat keine andere Möglichkeit ausgenutzt als nur eben dieses Wort, das außerdem mit dem Wörtchen "dies" in Beziehung gestellt ist, wodurch sich meiner Meinung nach die kontextuelle Bedeutung "wie lange wird noch darüber nachgedacht?" herausbildet. Das Foto wurde ganz zufällig und auf einmal aufgeschlagen, es wurde in der Zeitschrift nicht geblättert, um etwas Bestimmtes zu finden, deswegen verstehe man hier einerseits, daß das auf dem Foto Dargestellte seit langem vorbei ist, es kann also kein großes Interesse für den zeitgenössischen Leser hervorrufen (man beachte dabei auch das Wort "dies"). Dadurch kommt die Frage zum Ausdruck, ob die Auseinandersetzung mit dieser Zeitspanne in der deutschen Geschichte nötig ist. Aber auf der anderen Seite meldet sich dieses Handvoll Asche, dies Einziges, was ein Junger Mensch auf der Erde zu hinterlassen vermag, und es lastet unerträglich und ununterbrochen. Diese Lage ist nicht zu ändern, es ist schon unmöglich, etwas dagegen zu tun, weil das geschehen ist. Und Schluß.
Meines Erachtens ist aus dieser Kürzestgeschichte der folgende Ideengehalt zu ermitteln: Leser, denke selbst nach, ziehe selbst Schlußfolgerungen und nimm deine Stellung! Dabei scheint mir diese Anregung zum Nachdenken über ein bestimmtes Thema, eine Situation, einen Sachverhalt keine Problemstellung zu enthalten.
Um den vorgeschlagenen Versuch, ein belletristisches Kunstwerk linguopoetisch zu analysieren, abzuschließen, möchte ich noch die wichtige Rolle akzentuieren, die dem letzten Wort der Geschichte "unaufhebbar" zukommt. An dieser Stelle wird die deutsche Rahmenkonstruktion nochmals gebrochen. Dadurch wird die künstlerische Wirkung dieses Wortes wesentlich verstärkt. Dabei belegt es seiner stilistischen Funktion nach die äußerste Stellung in seiner synonymischen Wortreihe. Die Rahmenkonstruktion wird eigentlich zweimal im Text gebrochen: am ganzen Anfang und am ganzen Ende. So ist der Rahmen doch offenbar hergestellt worden, der meiner Auffassung nach sicherlich für das spezifisch deutsche bzw. deutschsprachige Denken charakteristisch ist.
© Sergej P. Resnitschenko (Melitopol/Ukraine)
Webmeisterin: Angelika Czipin
last change 12.11.1999