Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2. Nr. November 1997

Zur Geschichte der ukrainischen Komparatistik

Peter Rychlo (Czernowitz)

Die Entstehung der vergleichenden Literaturwissenschaft in der Ukraine geht auf die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurück, als man die historisch-vergleichende Methode bei der Erforschung der ukrainischen Folklore anzuwenden begann. Die ersten Elemente dieser Methode erscheinen bereits bei den Vertretern der mythologischen und der kulturhistorischen Schule, die auf den historischen Ideen Herders und der Brüder Grimm sowie auf der Lehre des französischen Kulturhistorikers Hippolyte Taine beruhten. In seiner Abhandlung «Die slawische Mythologie» (1848) versuchte der ukrainische Historiker, Schriftsteller und Ethnograph Mykola Kostomarow (1817-1885) die Symbolik der ukrainischen Volkslieder vor dem Hintergrund der Entwicklung dieser Gattung bei den benachbarten slawischen Völkern hervorzuheben.

Wichtige Impulse für die weitere Herausbildung der vergleichenden Prinzipien in der ukrainischen Literaturwissenschaft kamen von den komparatistischen Studien des deutschen Philologen Theodor Benfey (1809-1881), vor allem sein umfangreiches Vorwort und seine Kommentare zur eigenen Übersetzung der indischen Fabeln- und Märchensammlung «Pantschatantra» (1859), die eigentlich die vergleichende Märchenkunde begründeten, und von den Arbeiten der bekannten russischen Literaturwissenschaftler Fjodor Buslajews (1818-1897), der ein Anhänger der Benfeyschen Migrationstheorie war, und Alexander Wesselowskis (1838-1906), der später diese Theorie durch die Lehre von den «Gegenströmungen» ergänzte.

Als Pionier der literarischen Komparatistik in der Ukraine gilt mit Recht der bedeutende ukrainische Historiker, Philosoph, Literaturwissenschaftler und Publizist Mychajlo Drahomanow (1841-1895). In seinen folkloristischen und literaturhistorischen Forschungen bediente sich Drahomanow ziemlich oft vergleichender Methoden, da sie seiner Meinung nach große Möglichkeiten und Perspektiven bei der Erschließung des Verhältnisses zwischen dem nationalen und dem internationalen Inhalt verschiedener Kulturen boten. In seinem großangelegten mehrbändigen Projekt der komparatistischen Untersuchung «Studien über die ukrainische Folklore und das Schrifttum» (Lemberg, 1889-1907), von denen vier Bände erschienen, beabsichtigte er die Geschichte der geistigen Entwicklung des ukrainischen Volkes im Laufe einiger Jahrhunderte zu verfolgen, indem er in vielen Werken der ukrainischen Literatur gemeinsame indo-europäische Wurzeln entdeckte und sie im Sinne der Migrationstheorie als Folge der Stoff- und Motivwanderungen erklärte. Das bezieht sich insbesondere auf seine Studie «Vom räudigen Bunjaka» (1900), in der er eine ukrainische Legende mit dem antiken Mythos vom König Midas vergleicht und, mit den Ideen der mythologischen Schule polemisierend, die Verbreitung dieser Sage nicht durch die hypothetische gemeinsame «Ur-Heimat» verschiedener Völker, sondern durch ihre gegenseitigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen erklärt. Manchmal versuchte er freilich sogar banale alltägliche Konflikte in den Werken der ukrainischen Schriftsteller als Widerspiegelung indo-europäischer Stoffe zu interpretieren (z.B. volkstümliche Intermezzos in den Dramen von Jakub Havatowicz); im allgemeinen aber war er bestrebt, die ukrainische Literatur in den europäischen kulturellen Prozeß zu integrieren und zu zeigen, wie viele Fäden sie mit dem letzteren verbinden, was ihm zum größten Teil auch gelang.

Zu den wichtigsten Repräsentanten der vergleichenden Literaturwissenschaft in der Ukraine des vorigen Jahrhunderts, der ebenfalls den Literaturprozeß aus positivistischer Sicht der mythologischen und kulturhistorischen Schule der russischen akademischen Literaturwissenschaft betrachtete, gehörte neben Drahomanow auch der Professor der Kiewer Universität Mykola Daschkewycz (1852-1908). Er behandelte die Geschichte der ukrainischen Literatur in ihren Beziehungen zu der benachbarten russischen und polnischen Literatur des 19.Jahrhunderts und behauptete, «in den belletristischen Werken sei nicht so sehr die Originalität der Fabel, als ihre Bearbeitung wichtig, jener geistige Inhalt, der in einen entliehenen Stoff hineingelegt wird».(1) Mit dieser These betonte er die Eigentümlichkeit der ukrainischen Literatur, die ein unverkennbares Gepräge hat und mit anderen slawischen Literaturen - vor allem mit der russischen - keinesfalls zu verwechseln ist («Allmähliche Entwicklung der literaturhistorischen Wissenschaft und ihre zeitgenössischen Aufgaben»,1877, «Gutachten über das Buch von Herrn Petrov» «Skizzen zur Geschichte der ukrainischen Literatur des 19. Jahrhunderts», 1888).

Zur Entwicklung der vergleichenden Literaturwissenschaft in der Ukraine trug Ende des 19., am Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere der bedeutende ukrainische Schriftsteller Iwan Franko (1856-1916) bei. Ihm gelang eine produktive Synthese verschiedener Strömungen der zeitgenössischen Literaturwissenschaft, einschließend auch die komparatistische Methode. In seiner vielseitigen dichterischen, übersetzerischen, literaturkritischen und publizistischen Tätigkeit entwickelte er sein an Goethe anschließendes Konzept der Weltliteratur («Der formale und der reale Nationalismus»,1889, «Internationalismus und Nationalismus in den modernen Literaturen»,1898) und stellte vor den Literaturhistoriker die Aufgabe, «das Nationale vom Internationalen zu unterscheiden und zu zeigen, wie sie (d.h. die Literatur - P.R.) sich das fremde Material und fremde Formen aneignet und was Eigentümliches sie in die allgemeine Schatzkammer der literarischen Themen und Formen hineinträgt».(2) In einer Reihe von theoretischen und literaturhistorischen Aufsätzen verwendet er die Prinzipien der vergleichenden Literaturwissenschaft bei der Analyse der wichtigsten Erscheinungen der westeuropäischen und der slawischen Literaturen (Dante Alighieri, Shakespeare, Goethe, Schiller, Heine, Byron, Hugo, Zola, C.F.Meyer, Hauptmann, Mickiewicz, Kollar, Puschkin, Gogol, Turgenew, Saltykow-Schtschedrin, Tolstoj, Uspenski, Schewtschenko, Lessja Ukrainka und viele andere). Als erster im slawischen Raum stellte er die Frage von der Weltbedeutung der slawischen Literaturen und begründete die These von den Wechselbeziehungen zwischen dem Nationalen und dem Allgemeinmenschlichen in der kulturellen Entwicklung der Völker.(3) Die Rolle Iwan Frankos im Kampfe um das internationale Ansehen der ukrainischen Literatur ist unübersehbar. Von den Maßstäben seines Wirkens als Integrationsfigur des literarischen Prozesses zeugte zuletzt das Internationale UNESCO-Symposium zum Thema «Ivan Franko und die Weltliteratur», das 1986 in Lviv/Lemberg veranstaltet wurde und dessen Materialien dann in drei Bänden erschienen.(4)

Die komparatistischen Prinzipien von M. Drahomanow, M. Daschkewycz und I. Franko setzten im 20. Jahrhundert Olexander Biletzkij und Dmytro Tschizewskij fort.

Olexander Biletzkij (1884-1961), der langjährige Direktor des Schewtschenko-Literaturinstituts an der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen Sowjetrepublik in Kiew, erarbeitete seine vergleichende Methode auf marxistischer Grundlage, infolgedessen seine profunden, von einer europäischen Bildung und hohen Kultur zeugenden Beiträge von manchen ideologischen Dogmen nicht frei sind. Er hatte aber auch große Verdienste vor der ukrainischen Literaturwissenschaft und insbesondere vor der ukrainischen Komparatistik, da er als erster Motive und Stoffe der Weltliteratur zu untersuchen begann («Die Faustlegende in ihrer Beziehung zur Geschichte der Dämonologie»,1911-1912, «Prometheus von Äschylus und seine Nachfahren in der Weltliteratur», 1949), sowie den wichtigsten Erscheinungen der ukraininschen Literatur eine internationale Dimension gab («Schewtschenko und die Weltliteratur», 1939, «Schewtschenko und das Slawentum», 1952, «Franko und die indische Literatur», 1956, «Die Weltbedeutung von Ivan Franko», 1956, «Ukrainische Literatur unter den anderen Literaturen der Welt», 1958 u.a.).

Dmytro Tschizewskij (1894-1977) gehört zu den bedeutendsten Literaturhistorikern der ukrainischen Diaspora, der an der Ukrainischen Freien Universität in Prag und München, ferner an den deutschen Universitäten Halle, Jena und Marburg, später in Harvard (USA), Heidelberg und Köln lehrte. Seine komparatistischen Studien hatten einen unglaublich weiten Bogen gehabt - von dem englischen neulateinischen Epigrammatiker John Owen, dem tschechischen Humanisten Jan Amos Comenius, dem schwedischen Mystiker und Theosophen Emanuel Swedenborg, dem spanischen katholischen Dramatiker Pedro Calderon de la Barca und dem ukrainischen Wanderphilosophen Hryhorij Skoworoda - über Goethe und Schiller, Hegel und Nietzsche - bis zu Schukowski, Puschkin und Dostojewski. Er beschäftigte sich mit dem Motiv des magischen Speerwurfs bei den Slaven, Skandinaviern und Indern sowie mit der Untersuchung des Topos von der «vertriebenen Wahrheit» in der altukrainischen, russischen, tschechischen, deutschen und englischen Literatur. Sein wichtigstes Werk heißt «Geschichte der ukrainischen Literatur: von den Anfängen bis zur Zeit des Realismus» (New York, 1956). Zum Unterschied von O. Biletzkyj verzichtete er bei seinen Studien auf die allzugroße Sozialisierung des Literaturprozesses und stützte sich auf die immanente ästhetische Natur der literarischen Werke, während er die ukrainische Literatur nicht nur vom Standpunkt der genetischen Kontakte, sondern auch aus typologischer Sicht betrachtete. Das erweiterte wesentlich die Skala der vergleichenden Forschung und gab ihm die Möglichkeit, viele geschichtlich bedingte Züge des ukrainischen Schrifttums in Einklang mit den Besonderheiten der Entwicklung der anderen europäischen Literaturen zu bringen. Über die internationale Bedeutung Tschizewskijs schrieb vor kurzem Joseph P.Strelka: «Dmitrij Tschizewskij ist ein ukrainischer Wissenschaftler von wahrer Weltgeltung... Ich bin nicht imstande Tschizewskijs Bedeutung als Linguist abzuschätzen, aber was den Literaturkritiker und Literaturhistoriker betrifft, so wage ich die nüchtern-sachliche Feststellung, daß es keinen russischen Gelehrten von vergleichbarer Bedeutung gibt und nur wenige in den restlichen Ländern der Erde, die sich wirklich mit ihm messen können».(5) Wenn diese Einschätzung auch etwas übertrieben ist, so bleibt jedoch kein Zweifel, daß man hier mit einem Wissenschaftler von Weltrang zu tun hat.

Trotz der langdauernden Entwicklungsgeschichte könnte man das Schicksal der ukrainischen Komparatistik - wie übrigens auch das Schicksal der ukrainischen Literaturwissenschaft im allgemeinen - kaum glücklich nennen. Das erklärt sich vor allem dadurch, daß selbst die ukrainische Literatur im Laufe vieler Jahrhunderte sich nie frei entwickeln konnte, da sie von der zaristischen Macht Rußlands außer Gesetz gestellt und von dem stalinistischen Regime der Sowjetunion planmäßig vernichtet wurde. Unter diesen Umständen hatte auch die ukrainische Literaturwissenschaft keine besseren Chancen gehabt - besonders die Komparatistik, von der offiziellen sowjetischen Ästhetik als eine falsche, «kosmopolitische» und reaktionäre Wissenschaft verfolgt und verfemt. Man hatte sogar den Begriff selbst vermieden, und anstatt «Komparatistik» solche Stichwörter wie «vergleichende Typologie der Literaturen», «vergleichende Erforschung der Literaturen» oder «zwischenliterarische Beziehungen und gegenseitige Einflüsse» gebraucht. Charakteristisch in dieser Hinsicht war die sowjetische Ausgabe des Buches vom slowakischen Literaturforscher Dionyz Durisin, dessen Originaltitel «Teoria literarnej komparatistiky» («Theorie der vergleichenden Erforschung der Literatur», 1979) klang. Desto mehr wundert es uns heute, daß die literarische Komparatistik in der Ukraine sich doch als lebensfähig erwiesen hat - trotz vieler unersetzbarer Verluste.

Betrachten wir den heutigen Stand der ukrainischen Komparatistik, so entdecken wir auf diesem Gebiet eine Reihe von namhaften Gelehrten. Zu ihnen gehört zweifellos der bedeutendste zeitgenössische ukrainische Germanist, Mitglied der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften - in den siebziger Jahren der stellvertretende Präsident der Internationalen Assoziation der vergleichenden Literaturwissenschaft - Prof. Dmytro Zatonskyj (geb.1922). Er ist Verfasser von mehreren glänzenden Arbeiten über die Literaturen Österreichs, der BRD und der Schweiz («Franz Kafka und Probleme des Modernismus»,1965, «Die Kunst des Romans und das 20. Jahrhundert», 1973, «Der europäische Realismus des 19.Jahrhunderts: Linien und Profile»,1984, «Österreichische Literatur im 20. Jahrhundert»,1985 - um nur einige zu nennen). Als Mitherausgeber (zusammen mit Wolfgang Kraus) des Bandes «Von Taras Sevcenko bis Joseph Roth: Ukrainisch-österreichische Literaturbeziehungen» (Peter Lang,1995) sollte er auch in Österreich kein Unbekannter sein.

Ein anderer prominenter ukrainischer Literaturwissenschaftler, der bekannte Slawist und Akademiemitglied, Professor Hryhorij Werwes (geb.1920), von dem viele Spitzenstudien der vergleichenden Slawistik stammen («Adam Mickiewicz in der ukrainischen Literatur»,1955, «Taras Schewtschenko und Polen», 1964, «Ukrainische Literatur im gesamtslawischen Kontext», 1978, «Maxym Ryl'skyj im Kreise der slawischen Dichter», 1981, «Polnische Literatur und Ukraine»,1985), befaßte sich auch mit der Historiographie und der Theorie der ukrainischen Komparatistik («In internationalen literarischen Beziehungen: Kontextuelle Fragen», 1983). H. Werwes ist auch der Herausgeber eines kollektiven fünfbändigen Sammelwerkes «Ukrainische Literatur im gesamtslawischen und weltliterarischen Kontext» (1987-1990). Die letztere Publikation, die sich durch Reichtum literaturhistorischer Fakten und bibliographische Fülle auszeichnet, bildet bis heute das vollständigste Panorama der internationalen Beziehungen der ukrainischen Literatur, obwohl sie wegen ihrer konzeptuellen Verwicklung mit dem Mythos der «sozialistischen Gemeinschaft» ziemlich an Anziehungskraft verliert.

Der Professor der Kiewer Universität, korrespondierendes Mitglied der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften Dmytro Nalywajko (geb.1929) widmet sich hauptsächlich den Problemen der nationalen Eigentümlichkeit der ukrainischen Literatur («Gemeinsamkeit und Eigentümlichkeit: Ukrainische Literatur im Kontext des europäischen Literaturprozesses»,1988) sowie den Fragen ihrer Rezeption im Ausland («Christliche Kosakenrepublik: Die Saporozer Sitsch in westeuropäischen Literaturdenkmälern»,1992). Seine gründlichen, quellenreichen und gut fundierten Forschungen bezeugen nicht nur die potentiellen Möglichkeiten der ukrainischen Komparatistik, sondern auch ihre heutigen Leistungen, die sich ebenfalls aufgrund seines exemplarischen zweibändigen Werks unter dem Titel «Die Kunst: Richtungen, Strömungen, Stile» (B.1,1981; B.2,1985) erkennen lassen.

Zu solchen Leistungen gehören heutzutage auch die Untersuchungen auf dem Gebiet der Erforschung der sog. «traditionellen» («wandernden», «ewigen») Stoffe und Gestalten - wie sie Elisabeth Frenzel in ihren Lexika dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte versteht.(6) Diese Fachrichtung etablierte sich insbesondere an der Universität Czernowitz/Cernivci, wo unter Leitung von Prof. Anatolij Wolkow (geb.1925) eine interessante literaturwissenschaftliche Schule entstand, die sich intensiv mit den genannten Problemen beschäftigt. Im Rahmen dieser Schule wurden eine Reihe von Dissertationen vorbereitet und verteidigt (Alexander, Sokrates, Faust, Jeanne d'Arc, Robinsonade u.a. Stoffe der Weltliteratur), viele Aufsätze und Artikel in verschiedenen Sammelbänden veröffentlicht (über Kassandra, Helena, Pygmalion, Cäsar, Jesus, Artus, Tristan und Isolde, Don Quixote u.a.).(7)

Außer A.Wolkow, der diesen Themenkreis sowohl theoretisch («Zur Theorie der traditionellen Stoffe»,1973) als auch literaturhistorisch (Aufsätze über den Golem, die Roboter, Mazeppa u.a.) erörtert, wäre hier noch einer seiner Schüler, der Czernowitzer Literaturwissenschaftler Dr. Anatolij Njamtzu (1950) zu nennen, dessen Arbeiten über die Transformationen der Gestalten und Stoffe der Weltliteratur einen immer größeren Widerhall nicht nur in der Ukraine, sondern auch in vielen anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion finden («Traditionelle Stoffe und Gestalten in der Literatur des 20.Jahrhunderts», 1988, «Mythos und Legende in der Weltliteratur», 1992, «Das Neue Testament und die Weltliteratur», 1993, «Evangelische Motive in der ukrainischen Literatur Ende 19./20. Jahrhunderts», 1996 (zusammen mit W.Antofijczuk), «Allgemeinkulturelle Tradition in der Weltliteratur», 1997).

In den letzten Jahren - seit der Erklärung der Unabhängigkeit der Ukraine - erhielt auch die ukrainische Komparatistik neue Impulse und günstigere Entwicklungsmöglichkeiten. Es entstanden einige komparatistische Institute wie die Abteilung für Weltliteratur und Komparatistik im akademischen Schewtschenko-Literaturinstitut in Kiew oder der Lehrstuhl für Literaturtheorie und Komparatistik an der Kiewer Universität. Die Komparatistik wurde ebenfalls vom ukrainischen Bildungsministerium ins Verzeichnis der wissenschaftlichen Hochschulfachrichtungen aufgenommen, in denen Doktor- und Habilitationsarbeiten verteidigt werden können. Im Geiste dieser neuen Strömungen enstand auch das Projekt «Lexikon der vergleichenden Literaturwissenschaft», welches am Lehrstuhl für Theorie und Geschichte der Weltliteratur der Universität Czernowitz/Cernivci von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Prof. Anatolij Wolkow initiiert und erarbeitet wurde. Das Projekt wurde im Rahmen des humanitären George-Soros-Programms vorbereitet und teilweise auch finanziell unterstützt.

«Lexikon der vergleichenden Literaturwissenschaft» stellt den ersten Versuch eines komparatistischen Nachschlagewerkes dar, welches Artikel sowohl vergleichenden als auch allgemeintheoretischen Charakters enthält, die eine dauernde historische Entwicklung auf dem Gebiet der literarischen Komparatistik verallgemeinern. Die Ukraine steht heute vor der Notwendigkeit, ein Sachwörterbuch der Literatur zu schaffen, das vom Standpunkt der wissenschaftlichen Objektivität verfaßt und von der ideologischen Dogmatik befreit wäre, dessen Konzeptualität auf den klassischen Prinzipien der europäischen Literaturwissenschaft beruhen würde, die man in der sowjetischen Zeit ausgeschaltet und entstellt hatte. Diesen Aufgaben folgend, bemühte sich das Autorenkollektiv, jede literarische Erscheinung vor allem aus ästhetischer Sicht zu betrachten und einzuschätzen, um die bisherigen vulgär-soziologischen Spekulationen und Schemen auszuschließen. Darin stützten sich die Herausgeber auf die neuesten literaturwissenschaftlichen Sachwörterbücher in Ost und West. Große Aufmerksamkeit wird im «Lexikon» der ukrainischen Literatur geschenkt, ihren Beziehungen mit der Weltliteratur, den typologischen Parallelen und ihrer Rolle im slawischen und europäischen Kulturraum. Das ukrainische Schrifttum von den Anfängen bis zur Gegenwart, die Entwicklung der ukrainischen Ästhetik sind im «Lexikon» nicht als hermetische, in ihren engen nationalen Grenzen geschlossene Phänomene dargestellt, sondern als organisch integrierte Elemente der Weltkultur. Dabei verlieren die Herausgeber keinesfalls die nationale Eigentümlichkeit und Spezifik der ukrainischen Literatur aus ihren Augen.

Das breite Spektrum der komparatistischen Stichwörter, die im «Lexikon» berücksichtigt und erörtert werden, reicht von der Mythologie (biblische, ägyptische, antike, indische u.a.) und der Folklore verschiedener Völker bis zu den klassischen und modernen Literaturen der Welt, von den ästhetischen, philosophischen, kunstwissenschaftlichen, psychologischen, linguistischen Theorien bis zu den nationalen Eigenschaften der Entwicklung einzelner Richtungen, Strömungen, akademischen Schulen, Gattungen und Formen des literarischen Prozesses, von der Theorie und Geschichte der Komparatistik bis zu den Problemen literaturwissenschaftlicher Methodologie. Dabei strebten die Herausgeber danach, «euro-zentristische» Tendenzen zu überwinden und solche «exotischen» Kulturen wie die babylonisch-assyrische, irano-tadschikische usw. in die Kreisbahn der ukrainischen Komparatistik einzuführen. Auch die «wandernden» Gestalten und Stoffe der Weltliteratur finden im «Lexikon» ihren Platz, sowie die geographisch-historischen Kulturzonen (arabisch-mohammedanische, afrikanische, skandinavische, südamerikanische u.a.).

Alle Stichwörter sind im «Lexikon» nach alphabetischem Prinzip geordnet. Die Herausgeber konzentrieren sich hauptsächlich auf den etymologisch-diachronischen Aspekt der Termini. Im Anhang wird ein terminologisches Glossar der komparatistischen Stichwörter in den wichtigsten westeuropäischen und slawischen Sprachen angeführt.

Das «Lexikon der vergleichenden Literaturwissenschaft» wird somit eine zusammenfassende und leicht übersehbare Bilanz der Entwicklung der ukrainischen Komparatistik sein.

© Peter Rychlo (Czernowitz)

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Anmerkungen

(1) Otsyw o sotschinenii g. Petrowa «Otscherki istorii ukrainskoj literatury 19 st.», sostawlennyj professorom N.P. Daschkewitschem. - Otschot o 29 prisuschdenii nagrad grafa Uwarowa. - St. Petersburg 1888, S.86.

(2) Franko Iwan. Tvory: V 20-ty t. - Kiew 1955, T.16, S.392.

(3) Werwes Hryhorij. W internazionalnych literaturnych svjaskach: Pytannja kontekstu. - Kiew: Dnipro 1983, S.42.

(4) Iwan Franko i switova kultura. Materialy Mischnarodnowo symposiumu UNESCO. - Lviv, 11-15 veresnja 1986 r. - Kn. 1-3. - Kiew: Naukowa dumka 1990.

(5) Joseph P. Strelka. Die internationale Bedeutung Dmitrij Tschizewskijs unter besonderer Berücksichtigung Österreichs. - In: Viribus Unitis. Österreichs Wissenschaft und Kultur im Ausland. Impulse und Wechselwirkungen: Festschrift für Bernhard Stillfried aus Anlaß seines 70. Geburtstags. - Hrsg. von Ilona Slawinski und Joseph P. Strelka. - Bern: Peter Lang 1996, S.385.

(6) Elisabeth Frenzel. Stoffe der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. - Stuttgart: Kröner 1983; Motive der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. - Stuttgart: Kröner 1980.

(7) Pytannja literaturosnawstwa: Tradycijni sjuschety ta obrasy. - Naukowyj sbirnyk 2. Vypusk perschyj. / Ministerstwo oswity Ukrainy. Tscherniwezkyj derschawnyj uniwersytet im. Juria Fedjakowitscha. - Cernivci: Ruta 1995.


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