Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 3. Nr. März 1998

Kommunikationsgeschwindigkeit und das Überleben von Systemgleichgewichten: das Internet in der Jahrtausendwende

Stefan Alexe (Bukarest)

Vor kurzer Zeit hat sich eine Tendenz bemerkbar gemacht, die Ursprünge neuer technologischer Entwicklungen, wie zum Beispiel des Internets oder des Cyberspaces, so weit wie nur möglich in der tiefsten Vergangenheit anzusetzen, wie z.B. die Aussage bezeugt, daß eine primitive Form des Hypertextes schon im alten Ägypten als Kreuzverweise in den Papyrusrollen existiert haben soll. Auf spielerischer Weise wird somit die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gerichtet, daß viele Projekte, Träume, Visionen Gelehrter und Dichter heutzutage einen Ausdruck mit Hilfe technischer Neuerungen finden, wie dies auch der Fall der Virtuellen Realität (VR) und der MUDs (der Multi-User-Dungeons oder Dimensions) ist, in denen Phantasiewelten jeder erdenklichen Art im Netzwerk erlebt werden können.

Selbst Theodors Traum, den Leibniz in der Theodicée beschrieben hat, wird als eine Art Prototyp der VR angesehen: Theodorus reiste nach Athen, wo er, im Tempel der Göttin schlafend, träumt, daß Athena ihn durch verschiedene Kammern führt, in denen sich alle möglichen Welten befinden - u.zw. in jedem Zimmer ein anderes Bild. Im Multi-user-Kontext jedoch könnte sogar die Hypnerotomachia Poliphili als eine frühe Form heutiger Mystery- und Abenteuerspiele im Netzwerk beschrieben werden: im Jahre 1467 von Francesco Colonna verfaßt, ist die Hypnerotomachia (wörtlich: der Liebeskampf im Schlafe) ein Gedächtnistheater, in dem mehrere Phantasmen, wie z.B. Poliphil (der Träumer) und Polia (die Geträumte), in einer mythischen Welt miteinander ein Enigma lösen sollen. Doch in unserem Zeitalter werden Träume nicht nur mitteilbar, sondern miterlebbar; interaktiv können virtuelle Welten durchforscht werden. Dem Austausch von Informationen scheint nun keine Grenzen mehr gesetzt zu sein, da (fast) alles Nötige einen Mausklick weit entfernt ist. Es stellt sich jedoch die Frage, wie ein solch komplexes Gebilde wie das Internet mit allen sich darin befindenden Datenbanken, virtuellen Welten, Homepages oder -worlds den Anforderungen von Millionen Benutzern gewachsen ist, welches die Ordnungsprinzipien sind, die einen Zusammenbruch verhindern - einen Zusammenbruch nicht nur aus technischen Gründen, sondern einerseits wegen einer Informationssättigung (unendliche Variationen ein und desselben Themas) oder, umgekehrt, wegen der Nichtbewältigung von der (scheinbar) immer Neues bringenden Informationsflut.

Die Komplexität des Internets (insbesondere durch die Verknüpfung und Überschneidung zahlreicher Interessengebiete) erfordert dementsprechend eine komplexe Beschreibung - eine nicht ungewöhnliche Methode, wenn man bedenkt, welche bedeutenden Einflüsse die physikalisch-mathematischen Perspektiven im Laufe der Zeit auf das Weltbild, von dem wirtschaftlichen bis hin zu dem gesellschaftlichen, hinterlassen haben. Während Hobbes noch im „mechanischen" Zeitalter den Staat als „Maschine" bezeichnete, spricht man heutzutage von einer „pluralistischen Welt", von einem non-linearen Denken, in dem das Ganze nicht die Summe der Teile ist, und in dem Kausalitätsgesetze von synergetischen Effekten verdrängt werden, unter deren Zeichen nicht nur die Ökologie, sondern auch die Politik und die Weltwirtschaft stehen.

Des weiteren werden zur Beschreibung des Internets als System von interaktionierenden virtuellen Realitäten verschiedene Prinzipien der thermodynamische Systeme herangezogen, nicht als Paradigma, sondern als ein mögliches Koordinatensystem in den ständig sich verändernden, komplexen und fast chaotischen Informationsgezeiten des Internets. Einerseits soll das Systemgleichgewicht, aufzufassen als Stabilität der Elementenstruktur innerhalb des Systems, andererseits die Kommunikationsgeschwindigkeit zwischen den verschiedenen Elementen und deren Auswirkung auf das Systemgleichgewicht behandelt werden.

Systeme werden als bestehend aus einer Anzahl von Elementen oder anderen, eingeschlossenen Systemen und einer Menge potentieller Verbindungen (Relationen) innerhalb dieser Elemente (Systeme) aufgefaßt. Im Idealfall isolierter Systeme entsteht nach einer bestimmten Zeit das thermodynamische Gleichgewicht, charakterisiert durch den maximalen Entropiewert, wobei die Entropie die Gleichmäßigkeit der Parameterverteilung im jeweiligen System darstellt. Sowohl im offenen, als auch im geschlossenen System (letzteres soll unterschieden werden vom isolierten System, da zwar kein Materie-, jedoch ein Energieaustausch stattfindet) kennt die Entropie keine Höchstwerte, sondern die Herstellung der Entropie. Anders formuliert, entsteht in einem System, in dem ein Parameterunterschied zwischen zwei oder mehreren Elementen auftaucht, also in dem von einem Gradient die Rede sein kann, ein Austausch (von Materie, Energie und, letztendlich, Information) zwischen den jeweiligen Elementen. Dieser Austausch führt zu einer Verringerung des Gradienten bzw. zur Bildung von Entropie, also von Strukturen, die ein gewisses Gleichgewicht bzw. eine gewisse Stabilität beizubehalten versuchen.

In diesem Kontext spielt eine wichtige Rolle die Geschwindigkeit, mit der dieser Austausch zwischen den verschiedenen Elementen des Systems erfolgt bzw. die Geschwindigkeit des gesamten Materie- , Energie- und Informationstransfers, da davon die Veränderung des Gradienten abhängig ist: je höher die Kommunikationsgeschwindigkeit im jeweiligen System, desto schneller erfolgt die Verminderung des Gradienten. Die Kommunikationsgeschwindigkeit wird zu einem Katalysator der Entropieherstellung im System, und leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Beibehaltung oder zur Entstehung des Systemgleichgewichts.

Umgekehrtes ist der Fall bei einer kleinen Kommunikationsgeschwindigkeit: Elemente werden voneinander isoliert und nehmen bei der Entropiebildung des gesamten Systems nicht mehr teil, sondern entwickeln sich unabhängig vom Rest des Systems, was mit der Zeit bestimmte Gleichgewichtsschwankungen bzw. -störungen hervorrufen kann. Vereinfacht dargestellt, ist der Energie- und Informationstransfer direkt proportional mit der Verminderung des Gradienten: je schneller die verschiedenen Elemente innerhalb eines Systems miteinander kommunizieren, desto größere Stabilitätsmerkmale weist dieses System auf.

Der Zusammenbruch eines Systems soll jedoch nicht mit einem negativen Werturteil zusammengebracht, sondern als eine immer wiederkehrende Erneuerung und Veränderung hervorrufende Tatsache aufgefaßt werden - bildlich umschrieben durch das Symbol des Phönix, der aus eigener Asche wiederentsteht. Außerdem muß hinzugefügt werden, daß das neu entstandene System nicht durch die Koordinaten des untergangenen beschrieben werden kann.

Zusammenbruch und Aufbau des Systems kann bestens im Falle des Internets besprochen werden, da dieses Netzwerk der Netzwerke ursprünglich ja in der Perspektive eines thermonuklearen Kriegs geschaffen wurde, wie uns die Geschichte des ARPA-Netzes berichtet: im Falle eines Krieges sollte eine Kommunikationsmöglichkeit gefunden werden, die gegen den Zusammenbruch größerer Teile des Systems gewappnet sein sollte. Eine solche Dynamik bietet auch das später entstandene Internet, das durch die Kommunikationsgeschwindigkeit dem Informationssystem als Ganzem eine höhere Stabilität gewährleistet.

Aus dem bisher Erwähnten läßt sich das physikalische Bild eines offenen Systems leicht auf das Internet projizieren. In Wirklichkeit ist das System, wie schon erwähnt wurde, durch eine sehr hohe Komplexität charakterisiert. Die beschriebenen Modelle eines offenen bzw. geschlossenen Systems enthalten auch wie in einem der Wirklichkeit näher gebrachten System aus Elementen und Relationen zwischen verschiedenen Elementen. Diese Relationen können ihrerseits auf andere Elemente gerichtet sein, und/oder auf sich selbst, sie existieren sowohl wenn benachbarte Elemente oder Systeme vorhanden sind als auch wenn dies nicht der Fall ist.

In einem komplexen System jedoch, wie z.B. im Internet, erzeugt das System mehrere Repliken derselben Art, es generiert sich also immer wieder. Dies kann durch zwei oder mehrere sich ineinander spiegelnde Spiegel verbildlicht werden oder durch das Filmen eines Fernsehers, in dem dasjenige wiedergegeben ist, was gefilmt wird. Ein Einwand ist natürlich die Tatsache, daß technisch gesehen die Aurea Catena der Provider ein Ende nimmt und daß am Ende nicht eine Selbstreplikation stattfindet, sondern daß sich nur eine sehr große Benutzeranzahl um einen Knotenpunkt sammelt. Diese selbstreplikativen „Bäume" (in denen die Zweige andere Bäume sind, die wiederum Zweige besitzen) sind jedoch nicht so sehr die Maschinen, die aneinander gebunden sind, sondern die verschiedenen Interessengebiete oder virtuellen Welten eines jeden Benutzers, der wiederum auf andere Benutzer verweist u.s.w.

Das zum Vergleich herangezogene Modell läßt sich, wie gezeigt wurde, sehr leicht auf das Internet übertragen, jedoch nicht nur die technischen Aspekte im Auge behaltend. Die verschiedenen Elemente, von den Workstations bis zu den einfachen PCs, initieren und erfahren einen Informationstransfer, dessen Stabilität und somit auch das Gleichgewicht des gesamten Systems durch die verschiedenen Routen gewährleistet ist, Routen und Wege, im Notfall auch Umwege, auf denen ein bestimmtes Informationspaket sicher ans Ziel befördert werden kann. Doch nicht nur die vernetzten Computer stellen Elemente des Systems dar, sondern auch die in ihnen befindliche Information, die sich letztendlich als Interessengebiet oder persönliche, virtuelle Welt kristallisiert. Im Netz existiert ein gewisser Informationsgradient, der solange einen hohen Wert besitzt, solange „neue" bzw. sich vom Altbekannten differenzierende Information immer wieder generiert wird. Würde das System für eine längere Zeit brachliegen, also würde nichts Neues produziert werden können, würde sich eines Tages auf jedem im Netz sich befindenden Computer ungefähr dasselbe befinden (von den verschiedenen Interessen mal abgesehen). Auf lokaler Ebene würde das so aussehen, daß verschiedene Schüler, die nur miteinander kommunizieren können, eines Tages ungefähr die gleichen Programme auf ihren PCs besitzen werden (bei diesem Programmaustausch beziehe ich mich natürlich nur auf freie Software). Der Informationstransfer im Internet eröffnet und füllt Leerstellen - und natürlich im Hintergrund des Benutzers als desjenigen, der entscheidet, in welchem Maße die angebotene Information wichtig erscheint, soll die obige Andeutung an eine potentielle Herstellung von Entropie bei einem Kreativitätsschwund angesehen werden.

Das obige Beispiel der Schüler sei wieder aufgenommen: gesetzt sei der Fall, daß diese Schüler Programme schreiben, die sie untereinander austauschen, so daß nach längerer Zeit auf ihren Festplatten dieselben Informationen lagern. Was würde geschehen, wenn ein Teil dieser Schüler ihre Programme den anderen nicht mitteilt und ununterbrochen, mit oder ohne Feedback vom restlichen System (also ihren Kollegen) weiterarbeitet? Im Falle des physikalischen Modells stellt man einen Wachstum des Gradienten fest; wenn dieser Gradient mit der Zeit nicht verringert wird, und wenn das isolierte Teilsystem sich für eine längere Zeit selbst weiterentwickelt, kann sogar der Fall einer Umpolung des Systems eintreffen, oder, um ein Beispiel aus der Politik zu wählen, löst die Minderheit der Opposition die Mehrheit der Regierenden ab.

Das Beispiel des isolierten Teilsystems verdeutlicht die mit dem Intranet oder einem lokalen Netzwerk verbundenen Aspekte des Zugriffs auf Ressourcen. In einer ähnlichen Lage befinden sich auch diejenigen Gruppen, die durch das Fehlen dieses Zugriffs kein Feedback besitzen, und somit einen eigenen Weg einschlagen. Das obige Beispiel ließe darauf schließen, daß potentiell Umbrüche auch aus diesen Reihen heraus entstehen - und im Falle des Intranets, wie auch privater Netzwerke, die andere Kriterien für den Datentransfer verwenden und somit auch ergiebiger sein könnten, scheint dies sehr einleuchtend.

Doch nicht nur „technische Außenseiter" könnten eines Tages ihre eigenen Kriterien durchsetzen und somit einen Umsturz des Systems bewirken, sondern auch im schöpferischen Bereich, vom Software-Design bis hin zur Herstellung virtueller Realität, sei es im HTML- oder VRML-Format, kann dies der Fall sein. Aber auch eine „banale" Mailing-List kann dieselben Aspekte verdeutlichen: sie kann existieren, selbst wenn ein Teil des Systems von der Kommunikation ausgeschlossen sein sollten, doch ihre Dynamik schützt sie nicht vor einem Umsturz, wenn z. B. die Teilnehmer ihr Interesse einer anderen Liste zuwenden. Umso mehr gilt dies für Virtuelle Welten, wie z.B. die MUDs, sich in derselben Lage befinden. Abgesehen davon, daß sich die MUD auf einem einzigen Server befindet, verlangt diese Simulation einer wahren oder phantastischen Welt - die jedoch nur im Textformat erfolgt -, mehrere um ähnliche Interessen versammelte Benutzer, die sich als andere Gestalten einloggen, und, durch den Filter der Abenteuerlichkeit und Phantasie, mit anderen Personen kommunizieren.

Und, um uns Perspektiven zu nähern, die eher an Science-Fiction gebunden sind, könnten wir von einer mehr oder weniger fernen Zukunft spekulieren, in der eine solche VR nicht mehr serverabhängig ist, sondern auf jeder Maschine laufen kann. Vorausgesetzt, daß sich eine kleine Gruppe innerhalb dieser MUD von den anderen abkapselt, kann sie gerade dasjenige zerstören, was sie als fiktive Gestalten in einem Programm erschaffen hat - fiktive Gestalten, zu denen sie schon heutzutage werden, wenn sie sich im jeweiligen MUD "inkarnieren".

Heutzutage jedoch begnügen sich die meisten MUDgäste nicht mit Komplotten oder gerade aus der eigenen Komplexität erfolgten Systemabstürze, sondern befinden sich auf einer Quest, spielen MOOnopoly, Schach oder lösen gemeinsam ein Enigma, wie auch die Phantasmen in der Hypnerotomachia Polophilii, die sich jedoch im Unterschied zu uns kaum über niedrige Übertragungsgeschwindigkeiten, Viren oder Systemcrashs beklagen konnten :-) .

© Stefan Alexe (Bukarest)

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Bibliographie

H. Haken/A. Mikhailov (Hrsg.): Interdisciplinary Approaches to Nonlinear Complex Systems. Springer Verlag: Berlin 1993 (NCS).

Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Felix Meiner Verlag: Hamburg 1996 (Theodicée).

R. K. Mishra/D. Maaß/E. Zierlein (Hrsg.): On Self-Organisation. An Interdisciplinary Search for a Unifying Principle. Springer Verlag: Berlin 1994 (OS).


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