Mikhail Blumenkrantz (Charkow)
[BIO]
"Ich war in ein undurchdringliches Dorngebüsch geraten und rief laut den Parkwächter. Ich bin in Gedanken ruhig spazierengegangen und plötzlich fand ich mich hier, es ist, wie wenn das Gebüsch erst gewachsen wäre, nachden ich hier war. Ich komme nicht mehr heraus, ich bin verloren. Sie sind wie ein Kind, sagte der Wächter, zuerst drängen Sie sich auf einem verbotenen Weg durch das wildste Gebüsch und dann jammern Sie. Sie sind doch nicht in einem Urwald, sondern im öffentlichen Park und man wird Sie herausholen. Aber ein Weilchen werden Sie sich gedulden müssen, ich muß doch zuerst Arbeiter holen, die den Weg aushacken, und vorher noch die Bewilligung des Herren Parkdirektor einholen"(1).
Der öffentliche Garten erweist sich als ein Urwald, aus dem es keinen Ausgang gibt, und die Falle, in der sich der Hauptheld der Novelle befindet, erinnert uns symbolisch an die Falle, in die der Schriftsteller gegangen ist. Die verbotenen Wege führen ins undurchdringliche Gebüsch! Was für Wege sind das, woraus es keine Rückkehr gibt?
Kafka schrieb: "Ich habe das Negative meiner Zeit, die mir ja sehr nahe ist, die ich nie zu bekämpfen, sondern gewissermaßen zu vertreten das Recht habe, kräftig aufgenommen. An dem geringsten Positiven sowie an dem äußersten, zum Positiven umkippenden Negativen, hatte ich keinen ererbten Anteil. Ich bin Ende oder Anfang."(2)
In der Novelle "Jäger Gracchus" stellte Kafka den Menschen dar, der nach Borev zwischen dem Dasein und dem Nichtsein hängt, er ist weder lebendig noch tot, er befindet sich weder in dieser Welt, noch im Jenseits, er existiert.(3) "Ich hatte gern gelebt und war gern gestorben."(4) Aber sein Kahn hatte den falschen Kurs genommen und schon hundert und fünfzig Jahre nach seinem Tod fährt Gracchus mit dem alten Kahn "ohne Steuer", "er fährt mit dem Wind, der in den untersten Regionen des Todes bläst".(5)
"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt"(6), so beginnt die Novelle "Die Verwandlung".
In der Novelle "Ein Bericht für eine Akademie" erzählt ein Affe, wie es ihm gelungen ist, in die menschliche Gesellschaft einzudringen und sich dort einzubürgern.
In der Novelle "Beim Bau der Chinesischen Mauer" ist zu lesen: "Genau so, so hoffnungslos und hoffnungsvoll, sieht unser Volk den Kaiser. Es weiß nicht, welcher Kaiser regiert, und selbst über den Namen der Dynastie bestehen Zweifel."(7) Aber die Chinesische Mauer wird gebaut. Sie war zum Schutz gegen die Nordvölker gedacht. Wie kann aber eine Mauer schützen, die nicht zusammenhängend gebaut ist. Sie ist sinnlos, weil die Barbaren, gegen die sie schützen soll, vielleicht nicht existieren. Niemand weiß das, niemand interessiert sich dafür.
Die Existentialisten setzen ihre Helden in die extremen Situationen, wo der Mensch, der sich zwischen dem Leben und dem Tod befindet, die Wahl treffen und auf solche Weise sein wahres Gesicht zeigen soll. Kafka beschrieb seine Hauptgestalten in absurden Situationen, in denen es kraft dieser Absurdität überhaupt keine Wahl gibt. Die Ungereimtheit dieser Situation betont die allgemeine Ungereimtheit der Welt, in der sich die Absurdität eines jeden Menschen weit öffnet.
Warum könnte doch Gregor Samsa nicht zu einem Ungeziefer verwandelt werden? Warum könnte der Affe in der Menschengesellschaft wie in der seinesgleichen leben, die sich in die Sinnlosigkeit fügt. Es ist doch Unsinn, daß eine leichte Bewunderung von Samsa, als er seine Verwandlung sah, sich schnell in Schreck verwandelte: "Ich habe mich zum Dienst verspätet".
Das Umschlagen des Affen in den menschlichen Zustand beginnt mit dem Gefühl "es gibt keinen Ausweg" und endet sich mit der Offenbarung: "Ich hatte keine andere Möglichkeit, ich konnte Freiheit nicht erreichen".
"Die Kunst gipfelt in der Wahrheit des Daseins", sagte Heidegger in der "Philosophie der Kunst". Die Wahrheit stellte er einerseits wie ein Licht fest, in dem das Wesen liegt, andererseits sagte er, daß die Wahrheit das Wesen nicht nur "öffnen", sondern auch "verstecken" kann. Und noch mehr, genau diese Verheimlichung ist der Anfang der Klärung.
Sowohl im "Jäger Gracchus" als auch in der "Verwandlung" sowie in den anderen Werken von Kafka geschieht plötzlich eine unerwartete Verlagerung im Leben der Helden, es bekommt einen Riß, dann kommt die für uns gewöhnliche Wirklichkeit irgendwohin nach innen, in den Hintergrund, im Vordergrund erscheint die Lüge, die für uns früher unsichtbar, durch die eintönigen Bedingungen unseres Lebens versteckt war.
Die unerwartete Äußerung der vom Alltag versteckten Lüge der menschlichen Existenz in der gewöhnlichen Alltäglichkeit ist die Wirkung, die Kafka in seinen Werken erzielt. Die Absurdität der Situationen, in die der Schriftsteller seine Helden setzt, indem er die Glaubwürdigkeit ihres Lebens herausfordert, leuchtet die Wahrheit dieses Lebens aus. "Die Lüge wurde zur Grundlage der Weltordnung gemacht"(8), ruft Joseph K., der Held des Romanes "Der Prozeß". Aber man soll diese Worte nicht für den Ruf halten, diese Weltordnung durch die soziale Umgestaltung zu ändern, wie auch die Worte von Ivan Karamasov: "Die Weltordnung gefällt mir nicht". Kafka schrieb in seinem Tagebuch, als die Arbeiter in Prag auf die Straßen gingen: "Diese Leute sind so bewußt und lustig. Sie sind Herren der Straße und halten sich für die Herren der Welt. Sie irren sich. Am Ende von jeder echten Revolutionsbewegung kommt Napoleon Bonaparte. Je weiter sich das Hochwasser verbreitet, desto stiller und getrübter wird das Wasser. Die Revolutionswelle flutet zurück und nur der Schlamm der neuen Bürokratie bleibt. Die Ketten der abgequälten Menschheit sind aus dem Kanzleipapier geschaffen"(9). Also, die Lüge wurde zur Grundlage der Weltordnung gemacht. Aber wer macht das? Der Mensch, die Natur, das Fatum, das Schicksal? Der Schriftsteller vergaß auf diese Frage keine direkte Antwort. Und das gehört kaum zu seiner künstlerischen Aufgabe. Er merkt nur die Deformationen, die ins Bewußtsein noch nicht eingedrungen sind. "Die Kunst ist ein Spiegel, er läuft wie eine Uhr vorwärts hinein"(10), sagte Kafka über Picasso. Der Spiegel von Kafka zeigt keine Ursachen, spiegelt aber eine solche Abnormität der Welt wider, die ausdrucksvoller als einige Schlußfolgerungen ist. Und, nach Richter, um die Wahrheit zu enthüllen, ist es nötiger, demjenigen zu zeigen, der geblendet ist, als uns vom Sonnenschein überfluten zu lassen. Das ist auch das Prinzip der Klärung durch die Verheimlichung.
Kafka schrieb in seinen Aphorismen: "Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein. Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts".(11) Die Kunst flattert um die Wahrheit, aber mit der entschiedenen Absicht, sich nicht zu verbrennen. Ihre Fähigkeit besteht darin, in der dunklen Leere einen Ort zu finden, wo der Strahl des Lichts, ohne daß dies vorher zu erkennen gewesen wäre, kräftig aufgefangen werden kann.(12)
Kehren wir aber zur "Verwandlung" zurück. In der ganzen Novelle haben alle Gestalten einschließlich Samsa weder mit den Gefühlen noch mit dem Verstand gegen die Unnatürlichkeit der Verwandlung Einspruch erhoben. Alle nehmen fantastische Ereignisse als alltägliche Erscheinungen wahr. Die Realität ist versteckt, sie tritt aber gleichzeitig hervor, und die Irrationalität des Zentralereignisses ist das wahre Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht, die dunkle Leere, wo man Sonnenschein abfange kann. Die Welt, in der Gregor lebt, ist eindimensional, die menschliche Gestalt verliert sich darin ohne jeglichen Rückstand. Sowohl der Hauptheld als auch alle anderen Gestalten empfinden die Verwandlung laut der gewöhnlichen alltäglichen Normen wie ihr ganzes Leben: sie haben einfach keine anderen Normen, alles ist erschöpft in einer Dimension.
Die Tragödie der Helden Samsa und Jäger Gracchus sei die gleiche, sie sind aus dem gewöhnlichen System der menschlichen Vernunft ausgeschieden, aus dem Alltagsleben und in die absurde Situation gesetzt, wo sie die früher von ihnen versteckte Lüge und das Geisterhafte ihrer menschlichen Existenz entdeckt haben.
Die Vergangenheit schließt die Zukunft, die Geburt und den Tod ein - das ist eine Parabel.
D. Satonski meint, gerade dieser Zustand außer Gesetz ist nach Kafka die echte von allem Aufragenden und Zufälligen gereinigte Existenz des einsamen und durch alles unterdrückten Menschen. Es gibt für diesen Menschen weder die Gegenwart noch die Vergangenheit noch die Zukunft. Es gibt nur einen ewig dauernden Augenblick. Von nun an lebt er in der eigenartigen Welt, aus der alles merkwürdig und sonderbar aussieht, weil die falschen Maße verloren sind und die endgültige Wahrheit offenbar wird.(13)
Kafka schrieb in seinem Tagebuch: "Alles ist Phantasie, die Familie, das Büro, die Freunde, die Straße, alles Phantasie, fernere oder nähere, die Frau, die nächste Wahrheit aber ist nur, daß du den Kopf gegen die Wand einer fenster- und türlosen Zelle drückst."(14) Als Samsa aus dem Kreis ausschied, wurde er für alle Leute verloren, sogar seine Familie sieht ihn als Insekt, Aas an. Er befindet sich außer Gesetz, niemand weiß, aber jeder behandelt ihn demgemäß. Der Vater von Samsa wirft nach ihn mit einem Apfel, der in seinem Rücken steckenbleibt und verfault. Dieser Apfel ist die Ursache, warum Gregor zu guter Letzt stirbt. Sein Leib wirft man samt dem Müll in die Müllgrube. Die Eltern atmen erleichtert auf und sehen mit Liebe auf ihre gesunde Tochter. Sie meinen, es sei gerade Zeit zu heiraten. Die Realität ist wieder hergestellt, alles konzentriert sich auf den Alltag. Die unendliche Lebensparabel von Kafka.
Sowohl Samsa, als auch Gracchus, Joseph K. und der Held aus der Novelle "ein Landarzt", die kraft des Zusammentreffens von Umständen aus dem Alltag ausscheiden und auf solche Weise dem Untergang geweiht sind, bekommen die Möglichkeit, dank ihrer Entfernung Wahrheit zu sehen. Sie sind schon außerhalb des Menschenleben, aber noch nicht im Todesreich. Sie sind im Absurden, das sich zwischen dem Leben, das schon zu Ende ist, und dem Tod, der noch nicht gekommen ist, befindet.
Der Kern des Absurden ist eine Schwelle zwischen den zwei Welten wie das echte Dasein zwischen dem falschen Dasein, worin die Helden existiert haben, und dem Nichtsein, wo sie alle verschwinden. Der Schriftsteller beschreibt Jäger Gracchus an einem Punkt des Absurden im echten Dasein, aber auf diese Weise zeigt er die Scheinbarkeit von diesem Dasein, weil das echte Dasein nur im Absurden zur Geltung kommen kann.
"Wir brachten ihm Achtung und Anerkennung entgegen und liebten ihn", - schrieb Professor Emil Utiz, der Schulfreund von Kafka, "aber niemand stand auf vertrautem Fuß mit ihm, als ob er immer von einer Glasmauer umringt würde. Er öffnete die Welt mit seinem milden freundlichen Lächeln, aber er war abgeschlossen vor der Welt!"(15) Kafka: "Ich bin von allen Dingen durch einen hohlen Raum getrennt, an dessen Begrenzung ich mich nicht einmal dränge".(16) Und in einem anderen Aphorismus von Kafka - "Die Welt kann nur von der Stelle aus angesehen werden, von der aus sie geschaffen wurde"(17) - kann man schon die kosmische Entfernung, die letzte Grenze der Entfernung sehen.
Die Frage ist, ob der Schriftsteller gleich seinen Helden aus dem Kreis nicht ausschied, ob er in der Situation des Absurden nicht lebte, wo das echte tragische Dasein in Erscheinung tritt. Dieses Dasein versteht sich als die Irrationalität seiner Existenz, die zwischen dem falschen Dasein des Alltags und dem Nichtsein liegt. Anders schrieb: "Kafka stammte aus einer jüdischen Familie und schrieb auf Deutsch. Juden wohnten in Prag in der Gemeinde, Deutsche - in der Kolonie, Tschechen - als ein Volk. Als Jude war er fremd in der christlichen Welt. Als indifferenter Jude, so war Kafka am Anfang, war er fremd unter den Juden. Als Deutschsprechender war er fremd unter den Tschechen. Als ein deutschsprechender Jude war er fremd unter den Deutschen. Als ein Beamter der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstallt gehörte er nicht zur Bourgeoisie. Als ein Bürgerssohn war er fremd unter den Arbeitern. Er konnte sein ganzes Leben der Arbeit im Büro nicht widmen, weil er schreiben wollte. Aber er war auch kein Schriftsteller, weil er alle seinen Kräfte für die Familie einsetzte."(18) Aber Kafka: "Ich lebe in meiner Familie unter den besten und liebevollsten Menschen fremder als ein Fremder".(19) Und diese äußere, nationale, soziale und Familienobdachlosigkeit vereinigte sich mit dem Innengefühl der Verfälschtheit der Welt, worin er lebte.
Eine der besten Freundinnen von Kafka, Milena Jesenska, schrieb, daß das Leben für ihn etwas ganz anderes als für die anderen Leute war. Das Geld, die Börse, die Wechselstelle, die Schreibmaschine waren für ihn mystische Dinge, wundervolle Rätsel. Er hatte kein Asyl, war obdachlos. Deshalb stand er ganz unter der Gewalt der Dinge, vor denen wir geschützt sind. Er war nackt unter den Bekleideten.
Kafka schrieb in den Tagebüchern über seine Verlorenheit: "[...] Ist der Grund dessen, daß ich in der Gegenwart jetzt nicht die geringste Sicherheit mehr habe? [...] Alles erscheint mir als Konstruktion [...] bin unsicherer, als ich jemals war, nur die Gewalt des Lebens fühle ich. Und sinnlos leer bin ich. Ich bin wirklich wie ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft. So verloren zu sein und nicht die Kraft haben, es zu beklagen."(20)
Die Tragödie von Kafka ist die Tragödie eines Menschen, der die Absurdität seiner Existenz versteht, die zwischen dem falschen Dasein der Welt und dem Nichtsein liegt, an dessen Schwelle er jeden Augenblick steht. Besteht die Negativität der Zeit darin? Ist das vielleicht das undurchdringliche Gebüsch von Kafka? Kafka ist im Jahre 1924 gestorben, 9 Jahre bevor die Faschisten zur Macht in Deutschland kamen, und 15 Jahre, bevor der Faschismus die Bevölkerung des ganzen Europas in die Situation des Absurden versetzte, die schon kein Leben, aber noch nicht Tod war.
"Es gibt nichts mehr Phantastisches als die Realität", schrieb Dostojewski. Und dann sind ganz phantastische Dinge geschehen: in den absurden Situationen wird die ungeheure Lüge der menschlichen Existenz enthüllt. Der kleine Mensch, der Kommandant von Osvenzim, Hess, war ein guter Familienvater. Er besaß noch eine Tugend, ein sorgfältiger, diensteifriger Arbeiter zu sein. Er vernichtete auf Befehl hunderttausend Menschen, was für ihn so normal war, wie für Samsa sein Beruf eines Kaufmannes. Auch so wie Samsa verstand Hess seine Verwandlung in ein Ungeheuer nicht. Seine Existenz war lügnerisch, er war im Storm, und um dort zu bleiben, mußte man seine eigene Funktion in der sozialen Struktur haben. Und hier entsteht oft der unvermeidliche Widerspruch zwischen der menschlichen Funktion und dem Wesen. "Was ist besser, sein oder leben?", fragt Herr Goljadkin aus dem "Doppelgänger" von Dostojewski. Hier wird die Frage etwas anders gestellt: "Was ist besser, sein oder am Leben zu bleiben?" Aber es wäre völlig falsch und zu einfach, das Problem des falschen und des echten Daseins zum Problem des Widerspruchs zwischen der menschlichen Funktion und dem Wesen zu vereinfachen. Diese ursprünglich fremden Dinge sind dabei gleich in der den Schriftsteller umringenden Welt. Die unnatürliche Funktion wird zum unnatürlichen Wesen, so wie auch die Maske manchmal zum echten Gesicht des Menschen wird. "Der Mensch ist das Spiel der Möglichkeiten", schrieb Musil.
Man fragt, ob Kafka den Faschismus vorausgesagt hat? Nein, Kafka hat keine Voraussage gemacht, er hat nur richtig und genau die Ursachen festgestellt, aus denen der Faschismus entstanden ist. Diese Ursachen liegen in der Unwahrhaftigkeit des menschlichen Daseins, in der zweckmäßigen Unvernünftigkeit der Welt und in seiner Nicht-Übereinstimmung mit dem echt Menschlichen.
Kafka sagte, daß sich der Mensch wie ein Gefangener auf dieser Erde fühle. Die Schwermut, die Schwäche, die Krankheit, schimärische Gespenster des Gefangenen seien begierig nach draußen. Nichts tröste ihn... diese milden, nun Kopfschmerzen hervorrufenden Tröstungen angesichts seiner Unterjochung. Wenn man aber ihn frage, was er eigentlich wolle, könne er nichts antworten, weil er keine Ahnung habe, was Freiheit bedeutete. Es gebe eine Kette , aber keinen Ausweg. Was wir den Weg nennen, ist nur Zögern.(21) Hier wurde eine für Kafkas Weltanschauung prinzipielle Schlußfolgerung formuliert: Der Mensch ist nicht nur unfrei, die Tragödie seiner Unfreiheit besteht darin, daß er keine Ahnung hat, was Freiheit ist. Der Schriftsteller machte in seinen Tagebüchern eine Bemerkung: "Jeder Mensch ist unwiederbringlich in sich selbst verloren. Das Entsetzen besteht darin, daß der Mensch nicht nur in der Welt, sondern in sich selbst verloren ist. Deshalb ist Freiheit ein Ziel, zu dem es keinen Weg gibt."(22) Wie kann man von der Wahrhaftigkeit des menschlichen Daseins sprechen, wenn der Mensch sowohl in der Welt als auch in sich selbst verloren ist. Aber es gibt hier, nach Kafka, keinen Widerspruch, denn, wenn der Mensch seine Verlorenheit versteht, tritt die Wahrhaftigkeit des menschlichen Daseins und ihr tragisches Wesen hervor. Zu dieser Schlußfolgerung kam auch der Altersgenosse von Kafka, der bekannte spanische Philosoph José Ortega y Gasset: "Das Leben bedeutet sich selbst im Chaos der Existenz zu fühlen... In dieser Welt sind nur die Gedanken wahr, die dem Ertrinkenden einfallen, der sich retten will... Der sein Verlorenheit aber nicht fühlt, ist unwiederbringlich verloren, er wird nie die reale Wirklichkeit sehen und finden".(23) Diese Bestätigung zeugt von der Richtigkeit der Aussage Milena Jesenskas, die 1921 an Max Brod über Kafka schrieb: "Er weiß von dieser Welt zehntausend Mal mehr, als alle anderen Leute der Welt!".
Die Helden von Kafka: Samsa, Josef K. funktionieren im Strom bis zum Punkt, wo sie aus dem Kreis ausscheiden. Sie befinden sich in der falschen Welt, die ihr menschliches Wesen nicht enthüllt. In diesem Dasein wird ihr menschliches Wesen nicht realisiert, sondern mystische Tätigkeit realisiert, die vom Wesen abgerissen ist und auf solche Weise mystische Bedeutung bekommt. Wenn der Mensch sich nicht an sein Wesen wendet, versteht er auch seine Verlorenheit nicht. Deshalb macht sich Gregor Samsa Sorgen wegen seiner Arbeit, der Funktion, und dabei ist er ganz gleichgültig gegenüber seinem menschlichen Wesen. Man kann die Helden von Kafka psychologisch nicht analysieren, weil sie keine innere Welt besitzen, sie sind verloren. Aber wenn der Mensch aus dem Kreis ausscheidet, bleibt er unwillkürlich allein mit seiner Verlorenheit in sich und in der Welt. Endlich ist er frei. Aber erst jetzt wird klar, daß sein echtes Dasein scheinbar, eingebildet ist: erstens wegen dieser Verlorenheit, zweitens, weil das echte Dasein, nach Kafkas Meinung, während der normalen menschlichen Existenz unerkennbar ist; nur der aus dem Kreis ausgeschiedene Mensch kann das verstehen. Und das falsche Dasein, die das Funktionieren in der hergestellten gesellschaftlichen Struktur ist kein vollgültiges menschliches Dasein, weil es das menschliche Wesen nicht realisiert. Auf solche Weise stellen wir fest, daß das falsche Dasein wesentlich, und das echte Dasein eingebildet und scheinbar ist. In dem gewissen Maß kann man sagen, daß das Wesen gegen die Existenz auftritt, ohne die es unmöglich ist. In der Einheit des Wesens und der Existenz wird ein Riß gebildet, der schmerzhaft von Kafka wahrgenommen wird. "Es gibt nichts anderes als geistige Welt; was wir sinnliche Welt nennen, ist das Böse im Geistigen"(24), schrieb er in seinen Tagebüchern.
Als Joseph K., der Hauptheld aus Kafkas Roman "Der Prozeß" aus dem Kreis ausgeschieden und ins Absurde hingeraten ist, kommt er allmählich zum Unverständnis seines echten Daseins. Es gibt schon keinen Weg zurück, zum falschen Dasein, er empfindet das Schuldgefühl und wird sich klar über sein Mitbeteiligung an dem Bösen, das man in der Welt vollbringt. "Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu dem nicht zu billigsten Zweck. Das war unrichtig. Soll ich das zeigen, daß nicht einmal der einjährige Prozeß mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehen?"(25) Und er erlaubt, ohne zu murren, sich selbst niederzumetzeln. Viele Forscher verstehen solchen Tod als einen Selbstmord. Und sie haben Gründe dazu. Joseph K. kann schon nicht ins falsche Dasein zurückkehren, und im echten Dasein existieren, weil es eingebildet ist, weil er sich nirgendwo, nur im Absurden realisieren kann. Kafka sagte: "Das Leben ist eine fortwährende Ablenkung, die nicht einmal zur Besinnung darüber kommen läßt, wovon sie ablenkt."(26) Kann man aber sagen, daß diese Ablenkung das ständige Abweichen der Existenz vom Wesen ist? Ist das Schaffen für Kafka die einzige rettende Überwindung des Abweichens? Er schrieb in seinen Tagebüchern: "Aber schreiben werde ich trotz alledem, unbedingt, es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung".(27) Das echte Dasein von Kafka, das im falschen Dasein der Alltagswelt nicht realisiert werden kann, verwirklicht sich in seinem Schaffen. Das ist sein Ausgang und seine Tragödie.
Es ist bemerkenswert, was Kafka von Dadaisten gesagt hat. "Sie laufen aus der Einsamkeit ihres traurigen Ich ins Durcheinander der Kinderei. Das ist das freiwilliger und deswegen lustiger Unsinn. Aber doch ein Unsinn. Wie kannst du den anderen finden, wenn du dich selbst verloren hast".
Und Kafka findet auch nichts anderes, sein Schaffen wird zum unendlichen Suchen nach sich selbst, seine Helden spiegeln seine traurige unwiederbringliche Verlorenheit wider. Er schrieb im Jahre 1922 an Max Brod: "Das Schaffen ist ein süßer wunderbarerer Lohn, aber wofür? In der Nacht war es mir mit der Deutlichkeit kindlichen Anschauungsunterrichtes klar, daß es der Lohn für Teufelsdienst ist. Dieses Hinabgehen zu den dunklen Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener Geister, fragwürdige Umarmungen und was alles noch unten vor sich gehen mag, von dem man oben nichts mehr weiß, wenn man im Sonnenlicht Geschichten schreibt. Vielleicht gibt es auch anderes Schreiben, ich kenne nur dieses; in der Nacht, wenn mich die Angst nicht schlafen läßt, kenne ich nur dieses. Und das Teuflische daran scheint mir sehr klar".(28)
Jetzt erinnern wir uns an die Schluß des Komponisten Adrian Leverkühn, des Helden von Thomas Mann: "Item, mein verzweifelt Herz hat mirs verscherzt. Hatte wohl einen guten geschwinden Kopf und Gaben, mir von oben her gnädig mitgeteilt, die ich in Ehrsamkeit und bescheidentlich hätte nutzen können, fühlte aber nur allzu wohl: Es ist die Zeit, wo auf fromme, nüchterne Weis, mit rechten Dingen, kein Werk mehr zu tun und die Kunst unmöglich geworden ist ohne Teufelshilfe und höllisch Feuer unter dem Kessel... Ja und ja, liebe Gesellen, daß die Kunst stockt und zu schwer worden ist und Gottes armer Mensch nicht mehr aus und ein weiß in seiner Not, das ist wohl Schuld der Zeit. Lädt aber einer den Teufel zu Gast, um darüber hinweg und zum Durchbruch zu kommen, der zieht seine Seel und nimmt die Schuld der Zeit auf den eigenen Hals, daß er verdammt ist".(29)
A. Leverkühn schafft wie Kafka verdammte, dunkle Werke. Das Schicksal und das Schaffen von diesen Schöpfern sind tragisch, weil sie, nach den Worten von Thomas Mann "die Negativität ihrer Zeit genommen und sich selbst verdammt haben".
Und die Frage, ob Kafka Anfang oder Ende ist, wird nur die Zeit beantworten.
© Mikhail Blumenkrantz (Charkow)
Anmerkungen:
[An dieser Stelle muß nochmals explizit darauf hingewiesen werden, daß die Verantwortung, insbesondere für übersetzte Zitate, allein im Verantwortungsbereich der AutorInnen liegt - die Lektorin.]
(1) Franz Kafka: Hochzeitungsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1983, S.291
(2) Ebd. S.89
(3) J. Borew: Aestetics. Moskow, S.251-252
(4) Franz Kafka: Beschreibungen eines Kampfes, Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1983, S.78
(5) Ebd. S.79
(6) Franz Kafka: Erzählungen. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main, S.57
(7) Ebd. S.51
(8) Franz Kafka: Der Prozeß. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main, S.98
(9) Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Erinnerungen und Aufzeichnungen. Frankfurt am Main 1951, S.80
(10) Ebd.
(11) Franz Kafka: Hochzeitungsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1983, S.69
(12) Ebd. S.47
(13) D. Satonsky: Franz Kafka und die Problem von Modernism, Moskau., "Vyschaja shkola",1972, S.71-72
(14) Franz Kafka: Tagebüchern. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1983, S.400
(15) Emil Utiz: Erinnerungen an Franz Kafka. In: Klaus Wagenbach Franz Kafka., Bern 1958, S.269
(16) Franz Kafka: Tagebücher. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1983, S.142
(17) Franz Kafka: Hochzeitungsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1983, S.84
(18) D. Satonsky: Franz Kafka und die Problem von Modernism, Moskau., "Vyschaja shkola",1972, S.78-79
(19) Ebd.
(20) Franz Kafka: Tagebücher. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1983, S.241
(21) Franz Kafka: Hochzeitungsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1983, S.32
(22) Franz Kafka: Tagebücher. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1983, S.22
(23) J. Ortega y Gasset: Die Empörung von Massen ins Buch "Dehumanisation von Kunst". Moskau, "Raduga" 1991, S.190
(24) Franz Kafka: Hochzeitungsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1983, S.67
(25) Franz Kafka: Der Prozeß. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main, S.153
(26) Franz Kafka: Hochzeitungsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1983, S.242
(27) Ebd.
(28) Franz Kafka: Briefe. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main S.384-385
(29) Thomas Mann: Doktor Faustus. Frankfurter Ausgabe, Mendelssohn & Fischer Verlag: S.668
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last change 12.11.1999