Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 3. Nr. März 1998

Zu Bedarf und Begründung wissenschaftlicher
Weiterqualifizierung in der Slowakei

Dagmar Kostalova (Bratislava)
[BIO]

Das Problem der wissenschaftlichen Weiterqualifizierung von Germanisten in der Slowakei ist keines, das angesichts der veränderten politischen und ideologischen Situation nach 1989 mit Entwerfen anspruchsvoller - den methodologischen und Informationsnachholbedarf schnell deckenden - Ausbildungspläne für den wissenschaftlichen Nachwuchs etwa im Handumdrehen gelöst werden könnte. Die komplizierte Gegenwart des Landes ist eng mit seiner komplizierten Vergangenheit verbunden. Diese wiederum und somit ein kulturhistorisches Kontinuum sind infolge des vergangenen 40-jährigen Ignorierens eines identitätsstiftenden Geschichtsbewußtseins nicht so selbstverständlich präsent im Bewußtsein der heutigen Bevölkerung, daß man bei der Formulierung unserer schwerwiegendsten Nachholbedürfnisse im Bereich wissenschaftlicher Forschung mit einem allgemeinen Einverständnis der Beteiligten rechnen könnte ohne wiederholte komplexe Auseinandersetzung des Themas. Deshalb versuche auch ich, diese Problematik in größeren Zusammenhängen zu betrachten und anhand dessen meine ersten Vorstellungen über die zu wünschenden Ziele und Inhalte künftiger Weiterqualifizierung im Fach Germanistik zu vermitteln.

I. Geschichtliche Rahmenbedingungen

So klein die - zumindest für sich selbst so hoffnungsvoll junge und so illusorisch freie und unabhängige - Slowakei auch heute ist, so dicht beieinander und miteinander verwoben bieten sich hier im kleinsten viele jener Probleme zur verallgemeinernden Anschauung an, die den "Weg des Ostens in den Westen" auch im großen kennzeichnen. "... ein inzwischen fast vergessenes Land, das auch irgendwie fast vergessen bleiben wird" (1), ist aus der Sicht der gegenwärtig relevanten internationalpolitischen und ökonomischen Entwicklungen kaum von Belang. Trotzdem sind die Hänge der Karpatenbergketten, die sich aus der Donauebene der südwestlichen Slowakei nordostwärts erheben, bildlich gesprochen seit Jahrhunderten ein bemerkenswertes Schlachtfeld von einander bekämpfenden unterschiedlichen Ideen und Vorstellungen, wie die Menschen in diesem Raum sich selbst und ihr Weltbild in den umliegenden Teil Europas und in die Welt insgesamt einzubringen wünschen. Die westliche Grenze der heutigen Slowakischen Republik trennt mehr als nur 15 Millionen Einwohner der ehemaligen Tschechoslowakei. Gäbe es deren Gegner nicht in so großer Zahl – im Grunde machen erst sie aus dieser plötzlich bewachten Linie "Grenze" in der vor allem einschränkenden Bedeutung des Wortes - könnte man aus der Sicht des Bevölkerungsrests diese Grenzziehung als eine spontane und korrigierende Richtigstellung und Bestätigung des historisch lange gewachsenen besonderen Tatbestandes betrachten.

Der Jahrhunderte währende Agrarcharakter slowakischer Siedlungsgebiete innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie, mit nur kleinem Anteil eigener gebildeter bürgerlicher Schichten, verlangsamte im Unterschied zu den umliegenden Nachbarvölkern von vornherein den emanzipatorischen Prozeß nationaler Selbstbewußtwerdung der Slowaken. Unter ungarischer, später tschechischer Verwaltung, schließlich jahrzehntelang entmündigt im panzergeschützten Sozialismus, fühlen sie sich immer wieder neu betrogen von der eigenen Geschichte. Daher ihr unrühmlicher Zwischengriff nach staatlicher Autonomie im Jahre 1939. Und daher der neuaufgeflammte und politisch so leicht mißbrauchbare Nationalismus und die Trennung von den Tschechen nach 1989. Diesmal jedoch mit einem wesentlichen Unterschied gegenüber 1918, 1939 oder 1945 bzw. 1948, als für die Slowaken jeweils eine "neue" Zukunft begann. Zwangsindustrialisiert im Sozialismus und auf dem Fundament des in der I. Tschechoslowakischen Republik aufgebauten und mit tschechischen Lehrern im ganzen Land eingeführten hervorragenden Bildungswesens erwuchs in der Slowakei in den letzten 40 Jahren trotz totalitärer Eingeschlossenheit und ideologischer Verzerrungen eine selbstbewußte und selbstgebildete Nation, die sich nun der Herausforderung gewachsen fühlt, sich selbst international auszuprobieren und zu bestätigen. Als problematisch an diesem im Ausland eher umstrittenen Prozeß zeigt sich allerdings die Tatsache, daß ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung mit der Trennung der Tschechoslowakei und mit den gegenwärtigen innen- und außenpolitischen Entwicklungen nicht einverstanden ist. Mit der Grenze zu Tschechien erwuchs zugleich eine weitere unsichtbare Grenze innerhalb des Landes selbst, die - vereinfacht betrachtet - zwei unterschiedliche Auffassungen über dessen zu wünschende weitere Zukunft gegeneinander abgrenzt. Die nationalistisch geprägte Auffassung hat ihre historischen Wurzeln im ehemaligen Panslawismus und dem passiv ergebenen Russophilentum der nationalen Wiedergeburtbewegung des 19.Jh., auch im traditionell konservativen antiwestlichen slowakischen Katholizismus. Die antinationalistische, bürgerlich-demokratische Denkart westeuropäischer Prägung dagegen gründet u.a. in der bürgerlichen Philosophie des tschechischen "Masarykismus" der Zwischenkriegszeit, repräsentiert in der sog. "Hlas"-Bewegung, vor allem aber in der jahrhundertelang gelebten und als bereichernd erfahrenen Pluri- bzw. Multiethnizität der Südwest- und Ostslowakei.

II. Entwicklungsweg der slowakischen Germanistik

Auf diesem komplizierten und wechselhaften historischen Hintergrund hat sich die nun bald siebzigjährige slowakische Germanistik als Studien- und Forschungsfach zu behaupten. Aufopferungsvoll aufgebaut von tschechischen Germanisten nach der Gründung der Komensky-Universität in Bratislava in den 20er Jahren, wurde ihre Geschichte bald zu einer Geschichte krasser ideologischer Brüche und unersetzbarer personeller Verluste. Gegründet in erster Linie als anspruchsvolle Altgermanistik hatte sie es nach 1945 als "kompromittiertes" Fach nicht nur schwer zu überleben, sondern infolge ideologischer Zurücksetzung nach 1948 überhaupt auf mehr als auf bloßer Serienerzeugung von Deutschlehrern zu bestehen. Dank der Arbeit von einer Handvoll Germanisten erster und zweiter eigener Generation wird heute Deutsch dennoch als die verbreitetste Fremdsprache unterrichtet, werden bemerkenswert viele deutschsprachige Bücher übersetzt und rezensiert, Dolmetscher ausgebildet, es wird geforscht. Trotzdem fehlt der germanistischen Forschung in der Slowakei Kontinuität und Systematik.

Die hoffnungsvollen Kontakte mit der tschechischen strukturalistischen Literaturwissenschaft, die vor allem von Historikern der slowakischen Literatur in der Forschung produktiv umgesetzt wurden, ersetzte infolge ideologischer und auch erzwungener personneller Veränderungen am Lehrstuhl nach Zerfall der Tschechoslowakei im Jahre 1939 die entsprechend nationalsozialistisch verzerrte geisteswissenschaftliche Methode der Diltheyschen Schule. 1948 begann dann die totalitäre Umgestaltung und methodologische Umorientierung der Gesellschaftswissenschaften auf den Marxismus-Leninismus, begleitet abermals von sich wiederholenden, politisch jedes Mal neu begründeten personellen "Säuberungsaktionen" in den Reihen slowakischer Wissenschaftler. Die methodologischen Einschnitte bzw. schwerwiegenden Versäumnisse auf diesem Gebiet wurden im Fall der Germanistik außerdem von der Unklarheit über ihre eigene Aufgabenstellung begleitet, die ebenfalls in dem unaufhörlichen Umbruchcharakter gesellschaftspolitischer Entwicklungen seit dem Zerfall der Monarchie gründete. Von wenigen Ausnahmen - vor allem im Bereich der Sprachgeschichte - abgesehen, trug unsere Germanistik beispielsweise bis heute der gewichtigen historischen Tatsache nicht entsprechend Rechnung, daß in der Slowakei seit dem 12.Jh. eine immer beträchtlichere deutsche Minderheit - lebte mit bedeutenden Auswirkungen auf die Rechtspflege und das Verwaltungsschrifttum und mit ausgeprägtem eigenem Kulturleben. In der Zwischenkriegszeit zählte diese an die 130 000 Menschen. Dazu kamen etwa 10 000 Juden deutscher Nationalität und weitere 40 000 mit Deutsch als Muttersprache.(2) Deutsche Schulen, Zeitungen und Zeitschriften, Theatergesellschaften und Buchdruckereien hatten wesentlichen Anteil am Gesamtkulturleben der Slowakei. In engster Nachbarschaft mit Slowaken, Tschechen, Ungarn und Juden lebten die Karpatendeutschen jahrhundertelang eine ethnische und kulturelle Pluralität mit, die heute kaum im Bewußtsein der Slowaken lebt bzw. nun entsprechend nationalistisch verzerrt interpretiert wird. Da dieses nach dem Zweiten Weltkrieg tabuisierte Thema seit 1989 der Forschung wieder freisteht, würde die Gewinnung einer komplexen Sicht auf die Geschichte deutschsprachiger Minderheiten in der Slowakei nicht nur einen wesentlichen Schritt zur Objektivierung des immer wieder ideologisch verfälschten Gesamtgeschichtsbildes dieser Region bedeuten, sondern sie wäre zugleich die Profilierungschance für die Germanistik.

Die Universitätsgermanistik hatte sich jedoch von Anfang an nicht nur gegen Diskontinuitäten der nationalen und ihrer eigenen Fachgeschichte zu behaupten. Seit 1953, als die Slowakische Akademie der Wissenschaften gesetzlich zur höchsten wissenschaftlichen Institution des Landes deklariert wurde, wurde sie wie die Universitäten und Hochschulen insgesamt als Stätte wissenschaftlicher Forschung in ihrer Bedeutung wesentlich eingeschränkt und als bloße Ausbildungsstätte von Deutschlehrern und Dolmetschern wahrgenommen und finanziert. Angesichts der Denk- und Bewegungsunfreiheit im Sozialismus hatte die Delegierung der Wissenschaft weg von der Hochschule auch das Mindestmaß eventuellen polemischen Dialogs aus der akademischen Öffentlichkeit in die geschlossenen Forschungsinstitute der Akademie verbannt. - Paradoxerweise gehören heute z.T. gerade diejenigen zu den rücksichtslosesten Kritikern ungenügender wissenschaftlicher Qualifiziertheit unserer Hochschulen, die sich vor 1989 infolge vom Regime erteilter besonderer Privilegien im westlichen Ausland wissenschaftlich profilieren konnten. - Die Debatte jedenfalls, die bei uns kurz nach 1989 über die traurige Geschichte slowakischer Wissenschaft, über die Bedürfnisse und Perspektiven geführt wurde, zeugt einerseits von der Kompliziertheit und den weitreichenden destruktiven Auswirkungen unserer Vergangenheit, andererseits von der Größe und Komplexität der Aufgaben in der Zukunft.

III. Ausgangssituation nach 1989

Seit 1989 bemüht man sich, die von der Ideologie befreite Wissenschaft an die Universitäten und Hochschulen zurückzuholen, um sie vor allem der Erziehung und Bildung künftiger Generationen dienstbar zu machen. Durch die gleichzeitige Aufrechterhaltung der Akademie der Wissenschaften - diesem Tatbestand wären übrigens unter den veränderten Umständen durchaus positive Aspekte abzugewinnen - wird jedoch nicht nur der alte institutionelle Antagonismus weiter genährt, auch zahlenmäßig sind die verfügbaren Forscherkreise an den Hochschulen viel zu klein, um den wachsenden Anforderungen Genüge zu leisten. An der Philosophischen Fakultät in Bratislava werden seit 1989 dreimal so viele Germanistik-Studenten ausgebildet wie vorher. Zugleich werden ehemalige Russischlehrer zu Deutschlehrern umqualifiziert und Doktoranden betreut. Dies alles wird von Mitarbeitern realisiert, die sich nach 1989 selbst weiterqialifizieren sollen. Es gibt im Moment in der Slowakei keinen aktiv tätigen Professor/in für deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft. Angesichts der dazukommenden organisatorischen Schwierigkeiten mit der personellen Sicherstellung des Unterrichts, mit entsprechend ausgestatteten Bibliotheken, mit Fachliteratur für Studenten und Lehrer, mit technischen Unterrichtsmitteln, ist die Gesamtlage zwar unvergleichlich besser als in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion etwa, zugleich jedoch unvergleichlich schlechter als in den Ländern Westeuropas.

Angesichts einer solchen Ausgangsposition nach 1989 und aufgrund der Tatsache, daß unser Bildungsresort in den kommenden Jahren kaum genügend Geld haben wird, um auch nur die Lehrer entsprechend zu bezahlen, ist die Standardisierung des Hochschulstudiums in der Slowakei nach westeuropäischem Maßstab - in erster Linie im Bereich der ökonomisch wenig interessanten und daher bereits wieder abseits stehenden Humanwissenschaften - ein kompliziertes, vielschichtiges Problem. Der methodologische Umdenkungsprozeß und die Verarbeitung der bis 1989 vorenthaltenen Informationen müssen in den Köpfen unserer Hochschullehrer innerhalb kürzester Zeit realisiert werden, im Vollauf sozusagen, indem sie, selbst wieder Lernende, das Gelernte fast im selben Augenblick ihren Studenten weiter zu vermitteln haben. Der vor 1989 bestenfalls auf systematische Zufuhr "neutraler", von der marxistischen Ideologie möglichst unbelasteter Fachinformationen zusammengeschrumpfte Hochschulunterricht soll nun zu einem polemischen, problemorientierten wissenschaftlichen "Diskurs" umgewandelt werden, der hohe Anspruche an die intellektuelle Qualität, vor allem aber auch an die intellektuelle Freiheit stellt. Doch diese war eine der am meisten gefürchteten und folglich rigoros bekämpften Gefahren für das totalitäre Regime. Der alle Andersgesinnten bedrängende nationale Chauvinismus und religiöse Fundamentalismus vieler Menschen im Osten heute ist für die anderen - die Andersgesinnten - eine nur zu gut verständliche Ausdrucksform der verlorengegangenen bzw. nie gelernten Fähigkeit wirklich freien Umgangs mit sich selbst, mit anderen, mit Informationen. Das von der Totalität vererbte Bedürfnis nach Feindbildern, welchen auch immer und um jeden Preis, die undifferenzierte Schwarz-weiß-Sicht der aufgekommenen "Mantinell-Mentalität" sind für viele die Rettung vor der unbequemen Herausforderung der Meinungsvielfalt, die im Austausch Identität und Integrität voraussetzt.

IV. Voraussetzungen und Orientierung wissenschaftlicher Weiterqualifizierung

Programme und Ziele wissenschaftlicher Weiterqualifizierung von Hochschullehrern im Interesse der erwünschten internationalen Kompatibilisierung unserer Forschung und Lehre - vor allem im Bereich er erwähnten Humanwissenschaften - haben in der Slowakei mit einem gespaltenen öffentlichen Bewußtsein zu rechnen in bezug auf die Frage, was uns tatsächlich not tut. Im Sinne der interkulturellen Germanistik gesprochen: es ist umso schwieriger sich darüber zu einigen, was uns in unserer Fachkompetenz das bisher "Fremde" blieb, je verschiedenartiger, ja konträrer das jeweils "Eigene" als Ausgangsbasis dafür ist. Im Juni 1990 erschien in der slowakischen Wochenzeitung "Literarny tyzdennik" ein Aufsatz unter dem Titel "Wir sind eine Nation mit westlicher Kultur" (Sme narod so zapadnou kulturou). Darin hält dessen Autor es erstaunlicherweise für wichtig darauf hinzuweisen, daß der emanzipierende Ideenstrom in unserer Region, wo östliche und westliche Kultur geradezu aufeinanderprallen, grundsätzlich vom Westen in den Osten floß und nicht umgekehrt und daß die Slowaken daher in ihrem kulturhistorischen Werdegang Nachkommen der lateinischen Kultur seien. Er fordert eine objektivierende Neubetrachtung der nationalen Geschichte von außen und in dem Zusammenhang u.a. Erweiterung der germanistischen, romanistischen und anglo-amerikanistischen Forschung. Germanistik hätte bei uns früher ein gutes Niveau gehabt, bemerkt er am Rande(3). Offensichtlich also herrscht in der slowakischen Wissenschaft nicht einmal Einigkeit über die prägenden Determinanten unserer nationalkulturellen Entwicklung.

Die Germanistik als Studien- und Forschungsfach könnte in der Polemik um das historische Gewordensein und das heutige Selbstverständnis der Slowaken tatsächlich eine nicht unwesentliche Aufklärungsarbeit leisten. Sie müßte als Voraussetzung eines solchen öffentlichen Wirkungsanspruchs ihre Aufgabe darin finden, im interdisziplinären Austausch mit anderen Wissenschaften den Anteil deutschsprachiger Kultur am interkulturellen Verwurzeltsein der heutigen Slowakei im zentraleuropäischen Raum aufzuzeigen bzw. die Rolle dieser Kultur im eigenen nationalemanziparotischen Prozeß der Slowaken. In Archiven liegt noch viel in deutscher Sprache verfaßtes und noch unerforschtes Verwaltungsschrifttum zur Einsicht, daneben die erwähnten Zeitungen und Zeitschriften. Verbände der Karpatendeutschen im Ausland veröffentlichten mittlerweile eine Reihe von in der Slowakei bisher kaum bekannten Publikationen zu diesem Thema; es gibt auch Veröffentlichungen von Bratislavaer Germanisten aus der umstrittenen Zeit nach 1939. Trotzdem gilt unser Land in diesem Zusammenhang als ein noch wenig erforschter Kulturraum.

Wenn nun die konkrete Ausrichtung der Weiterqualifizierung unserer Germanisten überlegt werden soll, dann meines Erachtens nicht außerhalb der unabweisbaren spezifischen Forschungsverpflichtungen der Germanistik in der Slowakei. Neben zeitgenössischen Denkmethoden und Positionen der Sprach- und Literaturwissenschaft, neueren Literaturtheorien - letztere bilden z.Z. den ersten Schwerpunkt literaturwissenschaftlich orientierter Doktorandenausbildung an der Philosophischen Fakultät der Komensky-Universität in Bratislava -, neben Diskurs- und Medienforschung sollte sich die qualifizierende Weiterbildung grundsätzlich auf jene Wissenschaftsbereiche konzentrieren, die interdisziplinären Umgang mit einzelnen Facherkenntnissen nicht nur ermöglichen, sondern im Interesse einer komplexeren wissenschaftlichen Deutungskompetenz naturgemäß auch fordern. So wäre innerhalb der interkulturellen Auseinandersetzung der Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung in der Slowakei die ehemalige sprachliche und kulturelle Vielfalt in diesem Raum im Rahmen komplexer Kultursysteme zu untersuchen, die Forschungsgegenstand der Kulturanthropologie sind. Um so breit angelegte Fragestellungen zu analysieren, inwieweit der deutschsprachige sowie die anderen Bevölkerungsanteile im Sinne interkulturellen Austausches im Laufe der Zeit tatsächlich wirksam werden konnten, inwieweit inmitten der jahrhundertelang gelebten Pluri- und Multiethnizität gegenseitige Assimilierungsneigungen eine "multipolare Identität"(4) der Menschen zur Folge hatten oder etwa, wie die historisch gewachsenen kulturellen "Mehrsprachigkeiten" jeweils zusammengesetzt waren, bevor sich im 19.Jh. auf deren Fundament die einzelnen nationalen Ideologien mit der Wahrnehmung des "Fremden" entfalteten, um also das kulturelle Gedächtnis eines Raums in dessen Lebendigkeit möglichst komplex zu vermitteln(5), dafür ist Interdisziplinarität eine Grundvoraussetzung. Das heißt, daß, um das gewachsene komplizierte Ineinanderverwickeltsein bzw. enge Nebeneinander des "Eigenen" und "Fremden" im zentraleuropäischen Raum - welches angesichts der gegenwärtig eskalierenden Nationalismen als eine zunehmend aktuelle Art heftigen Kulturkonflikts zu interpretieren ist - dem Prozeß der nach der totalitätren Gleichgeschaltetheit einsetzenden neuen Identitätsuche vieler Menschen in Osteuropa dienlich zu machen, müßte dessen wissenschaftliche Untersuchung auf dem Gebiet der Germanistik neben angrenzenden Disziplinänen wie Geschichtsforschung, Philosophie und Soziologie auch solche Wissenschaften wie vergleichende Ethnologie, Mentalitätsforschung, Xenologie, Religionistik oder Rechtgeschichte hinzuziehen. Ebenso die Toleranzforschung, die Untersuchungsgegenstand der interkulturellen Germanistik ist.

Angesichts des im übrigen durchaus dienlichen sturen Pragmatismus des wirtschaftlichen und politischen Transformationsprozesses, der sich in allen Etagen des Bildungsressorts, bei Studenten, Lehrern und auch bei den Forschern kundtut - nachdem er nämlich die anfängliche "visionäre Schwärmerei der Intellektuellen" als solche entlarvt vom Tisch fegte -, nimmt sich ein so hoch gestellter Anspruch an die Weiterqualifizierung von Germanisten wie eine weitere unhaltbare Vision aus, die jeglicher Aussicht auf Realisierbarkeit in der Praxis entbehrt. Trotzdem denke ich, daß gerade weil die Slowakei und die hier lebende Kommunität, um sie als Beispiel zu nehmen, so klein sind, sie die eigentliche Befreiung von ihrer jüngsten Vergangenheit erst im theoretisch-polemischen Umgang mit all jenen im Moment von vielen scheinbar widerspruchslos anerkannten "Werten" erleben können, die sich inmitten der internationalen Entwicklungstrends für unser Land als Hindernisse für dessen konsequente demokratische Öffnung erweisen. Ich bin der Ansicht, daß der gesamte ehemalige "Osten" als jener Teil der Welt, der das Ausmaß des materiellen Konsums des Westens für sich nicht mehr wird ernsthaft beanspruchen können, auf "Visionen" der anzustrebenden Bewußtseinsveränderung der Menschheit nicht nur angewiesen ist, sondern mit ihnen gerade im Prozeß tiefgreifender Umorientierung des eigenen Denkens vielleicht immer noch etwas anfangen kann.

Zwei zusammenhängende Gründe scheinen dafür zu sprechen, daß der Schritt von der traditionellen Auffassung der philologischen Wissenschaft in Richtung vergleichende Kultur- bzw. interkulturelle Raumstudien zu wagen ist, umso eher dort, wo im Moment noch die größere Freiheit besteht, ihn zu tun. Das zunehmende Klagen westeuropäischer und amerikanischer Philologen über die immer unzureichendere Finanzierung ihres Wissenschaftsbereiches seitens des Staates zeugt einerseits von einem allgemeinen Entwicklungstrend, dessen Logik durchaus verständlich ist. Die immer weiter fortschreitende über- und internationale Vernetzung der Finanz- und Marktwirtschaft, der ökonomischen Makrointeressen, auf deren Grundlage erst die weltpolitischen Prozesse verlaufen, steht in immer offensichtlicherem Widerspruch zu der traditionellen Ausgerichtetheit der Literatur- und Sprachwissenschaft auf nur einen besonderen Kulturraum, mehr noch, nur auf dessen Sprache und Literatur. Um inzwischen auch anderen Anforderungen an ihr identitätsbildendes Potential Genüge leisten zu können - um etwa der unvermeidlich anderen Identitätsstruktur der Einwohner des künftig vereinten Europas Vorschub zu leisten -, müßte die philologische Wissenschaft andererseits in dem Sinn wieder "gesellschaftsfähig" werden, als sie in der Komplexität der eigenen Sicht die gegenwärtig führenden Wissenschaftsbereiche wie z.B. die Informatik einzuholen versuchte. Allem Anschein nach ist die gewünschte Bewußtseinsänderung als ein ungeahnt komplexerer Prozeß zu betrachten als bisher angenommen und - falls überhaupt - nicht nur in im voraus bestimmten ausgewählten Lebensbereichen realisierbar. Eine solche Überlegung dürfte folglich nicht die grundsätzliche Bereitschaft ausschließen, im Interesse des Überlebens und der angestrebten größeren gesellschaftlichen Relevanz von dem veralternden traditionellen Selbstverstädnis dieser Wissenschaft Abschied nehmen zu wollen.

Schlußwort

Inwieweit solche unorthodoxen Gedanken überführbar sind in die Praxis des an allen Ecken und Enden defizitären slowakischen Alltags und vereinbar mit einem Mindestmaß an aufrechtzuerhaltender Kontinuität unserer bisherigen Arbeit, ist heute nicht zu beantworten. Angesichts der momentanen Lage und der spärlich vorhandenen neueren Fachliteratur sind die initiierten Doktorandenseminare in Bratislava ein erstes erfolgversprechendes Angebot wissenschaftlicher Weiterbildung für die jungen Germanisten. Selbstverständlich müßte im Sinne der erwähnten interdisziplinären Öffnung künftig auch das Doktorandenstudium bzw. die anderen Bereiche der Weiterqualifizierung neu überdacht werden. Es hieße dann aber auch, Interdisziplinarität als Forschungsmethode soweit theoretisch zu untermauern, als im Interesse der Verhinderung uferlosen gegenseitigen Überflutens die Grundspezifik jeder einzelnen Wissenschaft bewahrt bliebe. Nur so würden die angesprochenen und für die Zukunft erhofften wissenschaftlichen Untersuchungen in der Slowakei gegebenenfalls als Erfolge des Faches Germanistik verbucht werden können.

© Dagmar Kostalova (Bratislava)

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Anmerkungen

(1) Peter Bichsel: Ein vergessenes Land. In: Peter Bichsel: Gegen unseren Briefträger konnte man nichts machen. Kolumnen 1990 -1994. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

(2) Encyklopedia Slovenska. IV.zväzok. Bratislava 1980.

(3) Milan Krajcovic: Sme narod so zapadnou kulturou. In: Literarny tyzdennik 25/90, S.3.

(4) Moritz Csáky: Die Relevanz der Pluralität für die Literaturen der zentraleuropäischen Region. Vortrag. Internationales Symposion in Veszprem/Ungarn. November 1995.

(5) Ebd.


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