Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 3. Nr. März 1998

Universalkunst - ein Beispiel aus Tirol

Walter Methlagl (Innsbruck)

Mit diesem Referat, das einen anspruchsvollen Titel trägt, habe ich lediglich vor, für Sie, die Sie ja großteils von weither kommen und zum Teil das erstemal in Innsbruck sind, ein halbwegs strukturiertes Bild von dem Ort zu geben, an dem Sie sich befinden. Man könnte so etwas vielleicht auch aus der Sicht der verkehrsmäßigen Situierung oder der wirtschaftlichen Gegebenheiten tun, die stark von Tourismus und Sport bestimmt sind. Wenn ich aber den Blick auf die Künste und einige damit verbundene Überlieferungs-Eigenarten lenke, dann läßt sich dieser Ort, glaube ich, doch besser identifizieren. Außerdem bin ich damit, wenn ich im Programm blättere und mir die Sektionen und Einzelvorträge ansehe, vermutlich doch näher bei den Zielsetzungen dieses Kongresses, die ich mit meinem Beispiel so erläutern möchte, wie ich sie verstanden habe.

Wer die letzten Tage und Wochen hier erlebt hat, wer vielleicht die Zeit und das Wetter zu einer Wanderung genützt hat, dem ist ganz gewiß nicht die Kraft entgangen, mit der das Licht und die Farbe alles rundherum, die Felsen, die Wälder derart konturiert erscheinen lassen, daß sie zum Teil wie Plastiken wirken. In seiner Art gibt es das natürlich auch in anderen Gebieten dieser Erde, z.B. in der Bretagne oder im Norden Jütlands oder in südlichen Bereichen, und ich will mich nicht darüber verbreiten, wie sich das da und dort auf kreative Menschen ausgewirkt hat. Ich kann nur sagen, daß jene Eigenschaften, die Sören Kierkegaard einmal in einer "Lobrede auf den Herbst" den "Taten des Lichts", den herbstlichen Farben zugeschrieben hat, sich in der Gegend, in der Sie sich jetzt befinden, in besonderer Intensität feststellen lassen. Er schreibt:

"Der Herbst ist die Zeit der Farben. Farbe ist die sichtbare Bewegung und Unruhe, so wie der Ton die hörbare ist. Alles, dessen Eigentümlichkeit Ruhe und Bewegungslosigkeit ist, darf deshalb nicht Farbe haben. Ein Mathematiker würde ein Dreieck nicht malen. [...] Farbe ist Gegensatz, aber Gegensatz ist Unruhe, Bewegtheit. [...] Mit dem Herbst kommen die Leidenschaften, und mit den Leidenschaften die Unruhe, und mit der Unruhe die Farbe, und mit der Unruhe der Leidenschaft das Verändern und Wechseln der Farbe. Farbe wechseln ist ja eben Ausdruck für Unruhe. Unruhe der Leidenschaft. Und der Herbst wechselt die Farbe."

Es liegt also nahe, daß in einer landschaftlichen Umgebung wie der, in der Sie sich befinden, sich seit jeher in allen denkbaren Ausformungen eine Kultur entwickelt hat, die stark auf die Unruhe, die im Wechsel der Farbe und anderer Sinnesqualitäten liegt, abgestimmt ist, die sich stark auf Formen konzentriert, die bei einem solchen Wechsel sichtbar werden, und in der - als Signal für die in der Unruhe sich äußernde Leidenschaft, immer ein Moment der Bewegung enthalten ist. Sie brauchen ja nur einen Blick auf die Außengestalt und innere Ausstattung sakraler und profaner Gebäude aus der Barockzeit werfen, um einer Kultur ansichtig zu werden, die alle Sinne zugleich beansprucht und die gleichzeitig immer auch eine Bewegungskultur ist. Man denke nur an die kirchliche Liturgie, an den "Tanz um den Altar", die Orgelmusik, den Chorgesang, die Prozessionen, mit denen die ganze Bevölkerung in die rituelle Bewegung einbezogen ist. Man denke auch an die Brauchtumstradition mit Volksschauspielen, Maskenumzügen, Aufmärschen, in denen der Wechsel der Farbe von großer Bedeutung ist oder zumindest war.

Kultur in Tirol drängt, will ich sagen, seit alters zum Gesamtkunstwerk, zu einem gemeinschaftlichen Handeln, das alle Beteiligten in Bewegung versetzt und alle Sinne zugleich beansprucht. Gewiß findet man dies mutatis mutandis auch anderswo, aber vielleicht doch nicht in derselben Ausdrucksintensität und Deutlichkeit der Effekte, und gewiß war es früher hier viel stärker ausgeprägt als in unserem Zeitalter, das alles nivelliert. Noch im letzten Jahrhundert wurde diese Gesamtkunstwerk-Idee und -Praxis zu einer förmlichen Kunstübung ausgebaut, sozusagen methodisch in die Pflicht genommen und für allerhand Ziele und Zwecke nutzbar gemacht. Dabei wirkte sich die geographische Nähe Innsbrucks zu München aus. Denn von München aus verbreiteten sich gesamtkunstwerkliche Vorstellungen - man denke nur an den Jugendstil - mit einer enormen Schubkraft und fanden auch hier in Tirol zahlreiche Anhänger auf allen Gebieten künstlerischer Betätigung. Aus der Schule des Historienmalers Piloty ging nicht nur Hans Makart hervor, der in Wien eine Kunst der gesellschaftlichen Selbstdarstellung in Szene setzte bis hin zu aufwendig arrangierten Massenaufzügen im Stil der "Triomphi", wie sie zur Renaissancezeit in Italien aufgeführt wurden. Mit solchen menschenreichen Aufzügen wurden auf den Straßen Wiens unter Einbeziehung des Ambiente und der Untertanen markante Jubiläen des Kaiserhauses begangen. - Schüler Pilotys war auch der Tiroler Maler Franz von Defregger, der mit Vorliebe Szenen aus dem Tiroler Freiheitskampf gegen die napoleonischen Gruppen ins Bild setzte. Und es führte sich die Gepflogenheit ein, in Schützenaufmärschen solche Szenen auch in lebenden Bildern auf die Straße zu bringen. Beim hundertjährigen Jubiläum dieser Freiheitskämpfe, 1909, kam es zu einem riesigen Aufmarsch von Schützen und Musikkapellen, die aus allen Landesteilen zu Fuß herbeigezogen waren, die ganze Landschaft, alle Täler und Pässe wurden also in das große Geschehen mit einbezogen. Beim Defilée vor dem Kaiser - gleich hier in der Nähe, vor der Hofburg - schritt jener Maler, der bis heute als der bedeutendste in diesem Lande gilt, Albin Egger-Lienz, Schüler Defreggers, vor zwei kostümierten Gruppen, die als lebende Figuren zwei seiner Gemälde: "Das Kreuz" und den "Haspinger", repräsentierten. Daß am Abend desselben Tages, als es dunkel wurde, auf allen Gipfeln des Landes Leuchtfeuer mit kaiser- und tiroltreuen Parolen entzündet wurden, und daß an drei Abenden in Fortsetzungen ein Freilicht-Andreas-Hofer-Heldenspiel von solchen Dimensionen aufgeführt wurde, daß es die Subventionskassen von Stadt und Land sprengte, zeigt uns, daß neben Musik, Malerei und Skulptur - und, wenn Sie wollen, Tanz - auch die Literatur in den Ring der Künste einbezogen war, und daß man die ganze Stadt und die gebirgige Umgebung, also die vertikale Dimension dieser Landschaft, als Kulisse einsetzte. Und natürlich gehörte zu der Aktion auch das aus allen Teilen der Monarchie herbeigeströmte Publikum, gehörte dazu auch der im Salonwagen angereiste alte Monarch.

Was Friedrich Schlegel im 116. Athenäum-Fragment vorerst nur von der "romantischen Poesie" forderte: sie solle eine "progressive Universalpoesie" sein, ihre Bestimmung sei es, "alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, "die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch zu machen", erscheint bei dieser Demonstration vielleicht zum letztenmal mit einer identitätsstiftenden Kraft verwirklicht, wie es sie später selten mehr gab. Auch während der und zwischen den Kriegen fehlte es nicht an militärischen Aufmärschen - einmal auch unter Beteiligung einer anderen Integrationsfigur - , sodaß sich das von Gottfried Benn in seiner Rede auf den Futuristen Philippo Thommaso Marinetti geprägte Wort schaurig bewahrheitete, das größte, das wahre Gesamtkunstwerk bestehe für ihn im Marschschritt der faschistischen Bataillone. Auch solche Sachen gab es hier in Tirol, wobei natürlich der Film eine immer größere Rolle übernahm.

Wiederum von München und dann von Bayreuth her bezog man den künstlerischen Prototyp aus Richard Wagners Gesamtkunstwerk-Idee. Zum Teil waren es direkte Wagner-Adepten, die hierzulande für die Durchsetzung einer Musik sorgten, in der alle möglichen Gestalten aus der Geschichte des Landes in Liedern, Chorälen, Suiten in Erinnerung gerufen wurden: Oswald von Wolkenstein, Walther von der Vogelweide, um dessen vermeintliche Herkunft aus dem Eisackgebiet jenseits des Brenner ein unbeschreiblicher Kult getrieben wurde. Mit Eifer wurde an der heimischen Sagen-Überlieferung geforscht, und wurde diese zum beliebten Motiv für Gemälde, Skulpturen und Dichterwerke. Deutlich bildete sich dabei ein Motiv heraus, das hinter allen diesen Aktivitäten wirksam war, das immer wieder den Ring der Künste schloß und auf eine alle Sinne ansprechende Unisono-Realisierung drängte. Ich nenne dieses Motiv "Pan im Gebirge", und sein Zeichen ist eben der geschlossene Kreis, der Kreis des Jahres, der Kreis der Menschen. "Sonnenlieder im Jahresringe" heißt symptomatisch ein Lyrikband des heimischen Dichters Arthur von Wallpach, des Hauptverfechters eines Pan-Germanismus gegen alle klerikalen und irredentistischen Umtriebe in diesem Grenzland Tirol. Der Gedichtzyklus wurde in Nachahmung von Stefan Georges "Siebentem Ring" zur beliebtesten lyrischen Großform. Was die Malerei angeht: besuchen Sie nur das unweit von hier befindliche Riesenrundgemälde des Egger-Lienz-Freundes Zeno Diemer, in dem sich der Zuschauer als Teil des Arrangements in eine perspektivisch sehr geschickt gestalteten Wiedergabe der Schlacht am Bergisel einbezogen sieht. Auch hier ein Kreis, und zu Recht trägt das Gebäude wie das Monumentalbild den Namen "Panorama". Eine Kultur des Panoramas, des ein und alles, des griech.gif (957 Byte)  lebt sich hier aus, so wie sie in der ersten Strophe eines einfachen Liedes in heimischer Mundart ausgesprochen ist: "Tirol isch lei oans." Die Mittel aller Künste heiligen einen einzigen Zweck.

Aber eben dies, daß die einzelnen Künste, daß Malerei und Musik, Skulptur und Bewegungskultur einer einzigen dominanten Kunst, nämlich dem dramatischen Dialog in Stabreimversen dienstbar gemacht wurden, haben seinerzeit Friedrich Nietzsche und Leo Tolstoi - und hier in Österreich Johann Nestroy in einer wunderbaren Persiflage - dem Zukunftskünstler Richard Wagner zum Vorwurf gemacht. Ob sie damit auf Dauer recht hatten, lasse ich hier offen. Sicher ist aber, daß der von Wagner exemplarisch in Bewegung gesetzte Mechanismus hier in Tirol bis heute in vielfältiger Form in Funktion ist. Er steht hinter den Filmen von Luis Trenker, hinter dem "Geierwally"-Kult, er ersteht Jahr für Jahr in Mega-Events, bei denen das Gletscher-Panorama der Silvretta- und Verwallgruppe und der Tuxer Alpen als Kulisse für die Auftritte von Tina Turner, Elton John und der Zillertaler Schürzenjäger herhalten müssen, womit ein zu Hunderttausenden herbeigeströmtes Publikum - anonym wie es ist - in Trance versetzt wird. Droge zu sein - das hat Tolstoi dem Ring des Nibelungen von Wagner vorgeworfen.

Universalkunst, jawohl! Aber, meine Damen und Herren, Tirol ist nicht eins, war es nicht und ist es nicht, nicht in diesem Sinne.

Als Ludwig von Ficker hier in Innsbruck erstmals mit dem "Brenner" an die Öffentlichkeit trat, tat er dies mit einem eindeutigen Bekenntnis zur "Fackel" des bis dorthin weitgehend totgeschwiegenen Karl Kraus. In unserem Zusammenhang bedeutet dies ein Heraustreten aus einer Kultur, in der das Zusammenwirken aller Künste in einem Einheits-Mythos die durch den industriellen Fortschritt erzeugten Konflikte (hier in Tirol die Stadt-Land- und die Volkstumsproblematik) überspiegeln sollte. In den publizistischen Außenseiterunternehmen, die die "Fackel" und der "Brenner" damals waren, wurde Sprache nicht affirmativ eingesetzt, sondern in dissoziierender Funktion, als Mittel zur Analyse und Paralyse vorgeschützter gesellschaftlicher Lösungen. Darin bestand z.B. die Funktion des von Kraus notorisch verwendeten dekuvrierenden Zitats; es sollte am Sprachgebrauch der Angegriffenen zeigen, daß Identität eben nicht Identität war. Statt auf große zyklische Formen hinzuarbeiten, konzentrierte man sich auf die Herausarbeitung sprachlicher Mikro-Prozesse, was Kraus den Titel eines "Erzgrammatikers" eintrug, und letztlich für dieses Jahrhundert bedeutendste Folgen zeitigte, denkt man etwa nur an Wittgenstein.

Dem Wagnerschen Gesamtkunstwerk-Modell wurden andere entgegengesetzt. Wenn dort über die Künste dirigistisch verfügt wurde, dann galt hier alles Bemühen dem Versuch, Qualitäten aus verschiedenen künstlerischen, auch außerkünstlerischen Medien auf kleinstem Raum, innerhalb eines einzigen Mediums und durch dieses, zur Wirkung zu bringen. Die allseits gewürdigte Musikalität und Farbenkraft, also die synästhetische Wirkung der Lyrik Georg Trakls - eng verbunden mit der darin wirksamen antigrammatischen Tendenz kann - in kritischer Weiterführung von Formprozessen, die Trakl bei Nietzsche, Hölderlin, Rimbaud, Dostojewski, um nur diese zu nennen, vorgebildet gefunden hatte - als konzentrierte Attacke gegen und als Alternative zum Wagnerschen Gesamtkunstwerkkonzept samt der dahinterstehenden Ideologie gedeutet werden. Trakl konnte es nicht begreifen und nicht ertragen, als Theodor Däubler anläßlich einer Lesung hier in Innsbruck in den Saal donnerte: "Höre o Mensch, Pan ist erwacht."

Bleiben wir kurz noch beim Gebirge als Gegenstand künstlerischer Darstellung mit einem Seitenblick auf die Geologie. Um das Jahr 1930 veröffentlichte der Ordinarius für Mineralogie und Petrographie der Innsbrucker Universität, Bruno Sander, ein für die Beschreibung der Art, wie sich Gebirgsformen bilden, und sonstiger Bewegungen der Erdkruste weltweit maßgebliches Werk: "Gefügekunde der Gesteine". Der Grundgedanke ist: Die äußere Gestalt einer Gebirgsbildung, ihr jeweils letzter Zustand, aber auch ihr Zustandekommen im Laufe von Jahrmillionen läßt sich durch Offenlegung innerer, im Mikrobereich vorfindbarer Sachverhalte rekonstruieren. Die Methode ist die, daß von Fundergebnissen einer gezielten Feldforschung hauchdünne Schliffe angefertigt, diese dann eingefärbt und in stark vergrößerten Röntgenaufnahmen analysiert werden. Der - natürlich mit Hilfe präziser Instrumente - auf die Gesteine gerichtete Blick entspricht grundsätzlich der morphologischen Sichtweise Goethes und Alexander von Humboldts, was Sander in seinem Werk auch andeutet, wenn er von der Aufgabe der Naturwissenschaften spricht, die darin bestehe, "das ozeanische, das atmosphärische und das tektonische Gesamtbewegungsbild der Erdhülle durch wechselseitige Gegenüberstellung zu ermitteln".

"Es geht dabei noch immer um die alte Frage nach der Ein- oder Mehrpersönlichkeit des Erdgeists oder zunächst des Neptun, Pluto und Aeolus."

Von einem Bewegungsbild ist hier die Rede. Ich könnte diesen Ausritt in literatur- und kunstfremdes Terrain nicht verantworten, hätte es hier in Tirol und in Innsbruck nicht eine Kunstausübung gegeben, die sich diese mikroskopische Sicht auf einen Bewegungsvorgang teils direkt zu eigen gemacht, teils sie sinngemäß nachvollzogen hat. Daß die Künstler und Schriftsteller, die in diesem Sinne gearbeitet haben, weder in der Region selbst noch darüber hinaus sonderlich bekannt sind, spielt keine Rolle. Es geht um ein Paradigma. Alle Involvierten standen zum "Brenner" zumindest zeitweise in enger Beziehung und haben dessen kritische Sprach-Mikro-Prozesse, um sie so zu nennen, mitvollzogen, waren also durchwegs kritische Naturen. Auf diese Weise waren sie an der Destruktion des Wagnerschen Gesamtkunstwerk-Typs - jeder in seiner Art - mitbeteiligt.

Nimmt man ein Wort aus Hermann Brochs "Notizen zu einer systematischen Ästhetik", die er 1911 Ludwig von Ficker gewidmet hat, ernst, dann wird klar, in welcher Form diese Destruktion vor sich ging. Das Wort lautet: "Jede Kunst strebt nach Erweiterung ihrer Mittel".

Gewiß läßt sich der Satz auch so lesen und deuten, daß - im Sinne Wagners - eine Kunst, sei es die Musik oder der dramatische Dialog - die anderen Künste dem eigenen ästhetischen Konzept untertan macht und damit verbunden auch der eigenen Ideologie. Broch selbst hat ihn nicht so verstanden, sondern er richtete sich nach der Devise des Adolf Loos, jedes künstlerische Medium habe in erster Linie das einmal gewählte Material in dessen Eigenart und Proportionalität zur Geltung zu bringen. Im "Brenner" publizierte Loos 1913 "Regeln für den, der in den Bergen baut", wo es einschlägig heißt:

"Baue nicht malerisch. Überlasse solche Wirkung den mauern, den bergen, und der sonne. Der mensch, der sich malerisch kleidet, ist nicht malerisch, sondern ein hanswurst. Der bauer kleidet sich nicht malerisch Aber er ist es."

Das ist eine klare Absage an eine Panorama-Kultur und an eine Kunst, die das Gebirge als Staffage verwendet, wie es in der Malerei hierzulande tausendfach geschehen ist und geschieht. Ihr stelle ich hier einen Maler gegenüber, er heißt Erich Lechleitner und ist praktisch völlig unbekannt, weil er, das gehört mit ins Bild, zu seinen Lebzeiten kein einzigesmal ausgestellt hat. In seinen Studien in Öl und mit Bleistift hat er sich auf die Tektonik der Gesteine im Sinne von Sanders Gefügekunde konzentriert, also die von Sander wissenschaftlich analysierte Mikrostruktur künstlerisch mitgedacht und aus dieser Einstellung heraus seine malerischen und zeichnerischen Mittel auf originelle Art erweitert. Bis zu einem gewissen Grad handelte er so wie vor ihm Paul Cézanne, der "die Art und Weise kennenlernen wollte, wie die St.Victoire verwurzelt ist" und der "die geologische Farbe der Bodenarten" in Augenschein nahm. So wie Lechleitner war auch ein anderer, der Schriftsteller und Brenner-Autor Josef Leitgeb, mit Bruno Sander eng befreundet. Mit Bezug auf Trakls Synästhesien, Sanders Gefügekunde und Lechleitners analytisches Malen hat er diese Sicht auf tektonische Sachverhalte literarisch mitvollzogen und daraus eine sehr eigenartige Schreibweise entwickelt. Unter anderem entwickelte er vor dem Hintergrund der Goetheschen Farbenlehre förmlich eine Farbenlehre der Gebirge, wobei er immer auch dessen materielle Substanz mit einbezog: "Der Berg nun aber ist der eigentliche Farbträger unserer Landschaft. Ist er aus Kalk und daher weit herab kahl, dann kann er je nach Witterung, Jahres- und Tageszeit vom zartesten Blaugrau, das ihm das Gewicht nimmt, über alle Stufen von Gelb bis ins abendliche Gold und Rosenrot spielen, er kann bei föhnigem Licht metallisch leuchten und unter dem senkrechten Anprall der Sommersonne weiß wie gebleichtes Knochenwerk sein."

Dies nur als kleines Beispiel. Es konfrontiert uns in aller Deutlichkeit mit der von Kierkegaard erwähnten "Unruhe der Leidenschaft". Damit ist angedeutet, daß diese Art von Literatur sich bis in ihre eigene Mikrostruktur hinein zu "tektonisieren" anschickte. Ich denke hier an Goethe, der in den ersten Septembertagen 1786 hier in Innsbruck durchkam, und droben auf dem Brenner und jenseits seiner intensive geologische Studien betrieb und ebenfalls die Farben der Gesteine im Zusammenhang mit ihrer materiellen Beschaffenheit und mit den Witterungsverhältnissen beschrieb. Mit im Reisegepäck hatte er das Manuskript der "Iphigenie", das er zuvor in Karlsbad zusammen mit Herder von der Prosa- in eine Blankversfassung umzuarbeiten im Begriffe war. Kurz vor Weihnachten war er mit der Umarbeitung dann fertig, und ich stelle jetzt einmal die Behauptung in den Raum, daß diese Versfassung in ihrer Makro- und Mikrostruktur nicht nur Spuren seines Architektur-Erlebnisses im Zusammenhang mit den Bauten Palladios zeigt, sondern auch Spuren seiner Erfahrungen mit der Tektonik der Gebirge, die er unterwegs gemacht hatte. Abschließend will ich andeuten: Es gibt also eine Universalität in der Kunst und namentlich in der Literatur, die durch Erweiterung der Mittel innerhalb eines künstlerischen Mediums entsteht, wodurch sich das Vielfache, der Reichtum an Aspekten innerhalb der konsequenten Ausnützung dieser Mittel ins Einfache wendet.

Um das zu illustrieren, habe ich mein Beispiel aus der Tiroler künstlerischen Überlieferung bewußt strapaziert. Ich habe sozusagen den "Geist des Ortes" beschworen, an dem Sie sich befinden, ohne alle nötigen gedanklichen Vermittlungen explizit zu machen. Ich habe interdisziplinär argumentiert und bin dabei zugegebenermaßen essayistisch geblieben.

Ich habe mich auf Material berufen, das seit Jahr und Tag im Brenner-Archiv gesammelt und erschlossen wird. Mit alledem wollte ich eines erreichen: die Möglichkeiten geisteswissenschaftlicher Forschung auf dem heutigen Stand des Interesses zu demonstrieren und auf die Erfordernisse hinzuweisen, die heute an die Geisteswissenschaften gestellt sind, um zu einem Verständnis literarischer und anderweitig künstlerischer Prozesse zu gelangen, das letztlich zur angemessenen Beurteilung unserer gesellschaftlichen Situation beiträgt und den Geisteswissenschaften ein neues Gewicht zu geben vermag.

© Walter Methlagl (Innsbruck)

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