Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 3. Nr. März 1998

Die Mittlerrolle der Slavischen Rundschau (Prag 1929-1940)
– eine Anregung für heutige Slawisten(1)

Ingeborg Ohnheiser (Innsbruck)

    0. Im Vorwort zu einer Geschichte der Sprachwissenschaft heißt es, daß das Interesse an Wissenschaftsgeschichte in Zeiten der Verunsicherung, aber auch der Neuorientierung merklich anwachse (vgl. Schmitter 1987, S. VII). Mit Bezug auf die heutige Situation der Slawistik kann durchaus von einer Umorientierung gesprochen werden, die sich Anregungen auch in der Geschichte des Fachs sucht, wie ich es in diesem Beitrag anhand einiger Überlegungen zum Konzept der Slavischen Rundschau (Prag 1929-1940) verdeutlichen möchte.

    1. Die Bedeutung von Zeitschriften und Referateblättern ist in der Geschichte der Slawistik erst teilweise aufgearbeitet worden (vgl. Pohrt 1973, Zeil 1979), obwohl Zeitschriften eine wichtige Quelle für die genauere zeitliche Erfassung bestimmter Tendenzen und des Umfelds wissenschaftlicher und kultureller Strömungen sowie für die Beziehungsgeschichte im Rahmen einer Disziplin bilden. Ihre Analyse kann vorliegende bio-bibliographische Werke sowie Gesamtdarstellungen, die vorwiegend auf den "Mainstream" orientiert sind, vertiefen. Verdienstvolle Vorarbeiten hat in den 60er Jahren Kurt Günther geleistet mit Gesamtinhaltsverzeichnissen slawistischer Zeitschriften von den 70er Jahren des 19. bis zur Mitte des 20. Jh., die heute z.T. weniger zugänglich sind.

Der Vergleich einzelner Zeitschriften einer bestimmten Periode läßt Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Zielstellungen, Themen und Schwerpunkten erkennen und ermöglicht es, die Entwicklung bestimmter Auffassungen nachzuvollziehen. In der Zusammenschau fügen sich die unterschiedliche Konzepte gleichsam komplementär zu einem Gesamtbild. Zu diesem Gesamtbild gehört die Slavische Rundschau, mit ihrer publizistischen Ausrichtung eine wichtige Ergänzung der deutschen bzw. deutschsprachigen slawistischen Fachzeitschriften der 20er/30er Jahre unseres Jahrhunderts.

    2. Die Slavische Rundschau wurde 1929 von Franz Spina und Gerhard Gesemann, seit 1921 bzw. 1923 Ordinarii am Slavischen Seminar der Deutschen Universität in Prag(2), begründet. An der deutschen Universität waren außer den Lektoren für Tschechisch und andere Slawinen seit der Berufung Bernekers 1902 auch Professoren - wie später Diels und Trautmann - neben indogermanistischen Forschungen und der allgemeinen Sprachwissenschaft zunehmend auf slawistische Studien orientiert. Nach der Gründung der CSR sahen die Slawisten der deutschen Universität ihr besonderes Anliegen darin, über den Schwerpunkt der Bohemistik hinaus (der angesichts der Ausbildung von Tschechischlehrern für die sudetendeutschen Schulen ein zentrales Anliegen des Seminars sein mußte), die Gesamtslawistik nicht aus den Augen zu verlieren. Dieses Ziel verfolgten sie in verschiedenen Formen, wie studentischen Arbeitsgemeinschaften, interdisziplinären Forschungsgruppen und der Herausgabe von Zeitschriften, z.B. der Germanoslavica und der Slavischen Rundschau.(3)

Letztere sollte "einer informierenden und kritischen Berichterstattung über das moderne geistige Leben der slavischen Völker in publizistischem Gewande und mit dem bewußten Ziel einer aktuellen Kulturvermittlung" dienen und wollte damit den traditionellen philologisch orientierten Themenkreis, aber auch den nationalphilologischen, bewußt ausweiten. Sie wandte sich an deutsche Leser, sowohl an den Fachwissenschaftler als auch an den gebildeten Laien. Neben Beiträgen und Rezensionen lieferte die Slavische Rundschau informative bibliographische Übersichten, und sie ist noch heute vor allem mit ihrer Kulturchronik eine Fundgrube für alle, die sich mit dem wissenschaftlichen und kulturellen Leben jener Zeit, aber auch mit dem zunehmenden Einfluß externer Faktoren auf Profil und Inhalt der Slawistik beschäftigen (vgl. dazu auch Günther 1964 b im Vorwort).

        2.1. Es ist sicher kein Zufall, daß das 1. Heft, das dem Kongreß slawischer Philologen 1929 in Prag zugedacht war (wie übrigens auch die berühmten Thesen des Prager Linguistenkreises), das Slawistikverständnis der Herausgeber stark akzentuiert. Die Erforschung und Erkenntnis der slawischen Welt – "gemeiniglich und im weitesten Sinne Slavistik" genannt – müsse wie jede echte wissenschaftliche oder künstlerische Erkenntnis eine internationale Angelegenheit werden und solle nicht, eingehegt von den Nationaldisziplinen und abgedämmt gegen das nichtslavische Europa durch Ignoranz und Ressentiments auf beiden Seiten auf den Stand einer mehr oder weniger provinziellen Angelegenheit herabsinken – so Gesemann (1930, S. 1f).(4) Für die slawistische Ausbildung plädierte Gesemann für eine stärkere Beachtung "weltkultur-wichtiger Bereiche" aller "slavischen Gebiete" wie z. B. die "russische Literatur des 19. Jahrhunderts von Puškin bis zu Tolstojs Tode, die polnische Romantik, die südslavische Volkspoesie, [...] die altcechische Literatur und die cechoslovakische religiöse Bewegung des Mittelalters”. Dies seien “die großen Leistungen des slavischen Geistes, der große Tribut an die europäische Gemeinschaft" (Gesemann 1929, S. 623ff.).

Roman Jakobson, der übrigens 1929 bei Gesemann und Spina promoviert hatte, sprach sich für eine stärkere Differenzierung zwischen genetischen und funktionalen Aspekten vergleichender Betrachtungen aus und wollte die funktionalen stärker berücksichtigt wissen. Der Kern der Slawistik liege nicht "im gemeinsamen Schatz der überlieferten urslavischen Güter", sondern in dem Maße der Konvergenz und Divergenz – sowohl in den Entwicklungswegen der slawischen Einzelsprachen als auch der Literaturen, bei gebührender Beachtung nichtslawischer Einflüsse. Eine vergleichende Wissenschaft könne sich keinesfalls in der "mechanischen Zusammenschweißung der Geschichten einzelner slavischer Literaturen" (und Sprachen - I.O.) erschöpfen (vgl. Jakobson 1929, S. 639f.).

        2.2. Obwohl bestimmte Akzentuierungen aus der spezifischen Situation der deutschen Slawistik in der CSR der 20er/30er Jahre resultieren, muten sie mitunter wie ein Beitrag zur heutigen Diskussion um die Universitätsslawistik an.

Der Meinung, der Slawistikbegriff sei ein Relikt der Romantik bzw. unter den gegenwärtigen Bedingungen nichts mehr als eine Sammelbezeichnung für die Summe der auf die slawischen Einzelsprachen und -literaturen bezogenen Disziplinen wie Russistik, Bohemistik usw., steht die Position der "slavistischen Generalisten" gegenüber: In Anbetracht der historischen Veränderungen des letzten Jahrzehnts, mit denen eine veränderte Sprachsituation und Sprachpolitik einhergehen, solle allen Einzelsprachen größere Beachtung geschenkt werden. Aber auch angesichts besserer Berufsaussichten der Studierenden wollen die Verfechter einer breiten Slawistikauffassung eine größere Vielfalt in bezug auf die Studiensprachen und -disziplinen gewahrt bzw. wiederhergestellt wissen und plädieren für eine stärkere Hervorhebung von synchron vergleichenden und komparatistischen Aspekten sowie für interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Historikern, Politologen, Ökonomen u.a. (vgl. Slavistik 2000).(5)

Nur am Rande sei vermerkt, daß in der Bevölkerung, bei Ämtern und Behörden ein "breites" (und wohl kaum romantisch motiviertes) Slawistikverständnis durchaus präsent ist. Wir sehen das an den Anfragen, die bei uns eingehen und nicht auf die Studiensprachen beschränkt sind, z.B. Namensrecherchen vor allem zum Tschechischen, Übersetzungsaufträge für Polnisch und Ukrainisch, und auch bei dem Vertrag Tirols mit dem Gebiet Ivano-Frankivsk erinnerte man sich an das Institut für Slawistik.

Wenn also zumindest in Ansätzen ein "generalistisches" Slawistikverständnis verfolgt wird, wären Zeitschriften wie die Slavische Rundschau auch heute von Interesse als Mittel, sich wenigstens einen Überblick zu bewahren bzw. zu verschaffen.

    2.3. In der Slavischen Rundschau sind explizit vergleichende Themen nur selten vertreten, wohl aber ermöglichen Beiträge zu vergleichbaren Themen aus der Sicht der einzelnen Länder und Sprachen Einsichten in "konvergente" und "divergente" sprachliche und literarische Entwicklungen jener Zeit. Sie bot dem interessierten Leser ein vielfältiges Bild über das geistige und kulturelle, aber auch über das politische und wirtschaftliche Leben, was von Bedeutung vor allem angesichts der Tatsache war, daß diese Länder in der Mehrzahl erst nach dem 1. Weltkrieg ihre Eigenstaatlichtkeit erlangt bzw. wiedererlangt hatten.

            2.3.1. Einen breiten Raum nehmen z.B. Beiträge über bestehende Kulturbeziehungen ein. In diese thematische Orientierung können auch Beiträge zum Eigen- und Fremdbild in der Literatur eingeordnet werden. Neben komparatistischen und rezeptionsgeschichtlichen Themen (häufig aus Anlaß von Dichterjubiläen, z.B. Beiträge über Kochanowski, Mickiewicz, Dostoevskij, Puškin) sind zahlreiche Arbeiten zur Literatursoziologie und in diesem Zusammenhang auch zur künstlerischen Übersetzung vertreten. Mitunter lassen sich Bezüge zur heutigen Situation herstellen, wenn Bedauern darüber geäußert wird, daß Klassiker mehrfach, neuere Literatur dagegen zu wenig übersetzt wird.

Die im Vergleich zur Literatur und Kultur geringer vertretenen sprachwissenschaftlichen Beiträge konzentrieren sich auf Analysen der Disziplinentwicklung in einzelnen Ländern, wobei z.B. Jakobson (1936) in bezug auf die russische Sprachwissenschaft die Bedingtheit von Entwicklungsphasen umreißt und dabei in gewisser Weise den heutigen Begriff des Paradigmenwechsels vorwegnimmt. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Erörterungen zur Sprachsituation und Sprachpflege in der CSR, Polen und der Sowjetunion, die zahlreiche Parallelen erkennen lassen und weiterführende vergleichende Studien ermöglichen.

Aus Einzelbeiträgen und Sammelberichten zur slawistischen Sprach- und Literaturwissenschaft können methodologische Entwicklungen der Disziplin nachvollzogen werden. Eine wichtige Funktion kam in diesem Zusammenhang auch dem Rezensionsteil zu. Eine bes. Rolle spielte dabei die slawische Literaturwissenschaft, von der auch Vasmer mit Bezug auf seine Zeitschrift für slavische Philologie sagte, daß sie der deutschen Slawistik, der traditionell eine stärkere linguistische Orientierung eigen war, wichtige Impulse verlieh.(6)

            2.3.2. Gleichzeitig wurde jedoch auch die Offenheit gegenüber Themen und Methoden außerhalb der Slawistik eingemahnt, die die Entwicklung der Nationalphilologien befruchten sollte. Dieser Aspekt wird z.B. in den Beiträgen von Vilém Mathesius als prominentem Vertreter des Prager Linguistenkreises besonders deutlich und geht mit dem Anspruch bzw. der Forderung einher, daß von der Slawistik selbst mehr methodologische, über die Erforschung der Slawinen hinausreichende Impulse ausgehen müßten. Ein Bericht über einen Vortrag von Mathesius in Salzburg verdeutlicht eben diese disziplinüberschreitende Wirksamkeit.(7)

Auch Jubiläen wurden mehrfach zum Anlaß genommen, um die Situation der Slawistik in den 20er/30er Jahren kritisch zu beleuchten, so z.B. Murkos Aufsatz "100 Jahre der ‚Slavischen Wechselseitigkeit‘ J. Kollárs" (1937) oder "150 Jahre Königliche böhmische Gesellschaft der Wissenschaften" (1935).

            2.3.3. Da im Rahmen dieses Beitrags nur auf ausgewählte Themenkreise näher eingegangen werden konnte, soll die Übersicht (1) im Anhang zumindest eine Vorstellung von der Breite der Themen und von der Vertretung einzelner Ländern vermitteln.

Die thematische Übersicht müßte im Hinblick auf die Präsenz der Themen in unterschiedlichen Jahrgängen weiter präzisiert werden. Dies ist insofern von Belang, als sich infolge personeller Veränderungen – nach Ausscheiden Gesemanns aus der Redaktion und nach dem Tod Spinas – wie auch unter dem Einfluß der politischen Entwicklung in den 30er Jahren bestimmte thematische Schwerpunkte veränderten. Besonders deutlich zeigt sich dies in den letzten beiden Jahrgängen (nach dem Münchener Abkommen und dann nach Kriegsbeginn). Nannte sich die Slavische Rundschau bis 1938 noch eine "berichtende und kritische Zeitschrift für das geistige Leben der slawischen Völker", traten an die Stelle des "geistigen Lebens" 1939 das "Gegenwartsleben" und 1940 "das gesamte Leben der slavischen Völker". Vor allem Ende der 30er Jahre wurden zunehmend Beiträge zur Wirtschaft aufgenommen. Angesichts der historischen Ereignisse müssen Äußerungen wie die folgenden zynisch anmuten, wenn es z.B. im Vorwort zu Jahrgang XI (1939)(8) heißt "Ohne sichere wirtschaftliche Grundlagen ist keine Kultur auf Dauer möglich, die Volkswirte aber, die Absatzgebiete für ihre Produkte in anderen Ländern suchen, müssen auch die Kultur und Psyche der slavischen Völker kennen lernen. Eine gegenseitige Befruchtung von Wissenschaft und Praxis kann den Wechselbeziehungen der Völker auch auf diesem Gebiete gute Dienste leisten" und wenn dann von "ehemaliger Tschechoslovakei", "neuer Slovakei" und "ehemaligem Polen" die Rede ist. 1940 stellte die Slavische Rundschau ihr Erscheinen ein.

            2.3.4. Von besonderem Interesse – auch als Zeitzeugnis – ist die Kulturchronik, in der über wissenschaftliche und kulturelle Veranstaltungen in einzelnen Ländern informiert wurde, vgl. die Übersicht (2) im Anhang.

Namentlich die Chronik widerspiegelt seit Mitte der 30er Jahre aber auch offensichtliche Probleme, an Informationen zu gelangen bzw. mit auswärtigen Kollegen in Kontakt zu bleiben. Sie reflektiert äußere Einflüsse auf das wissenschaftliche Leben, auf die Zusammenarbeit zwischen den Slawisten verschiedener Länder. Während die ersten Jahrgänge noch ein recht umfangreiches Bild vermitteln, insbes. auch über die Ukraine mit optimistischen Berichten über "Kulturfeldzüge" (sic! offensichtlich als Übersetzung von russ. kul'tpochod) und die "Rückukrainisierung" (z.B. Jg. 1, 1929), lassen die späteren Hefte Probleme erkennen, sei es durch – beiderseits – erschwerte Kontakte z.B. zu Rußland oder aber durch einen Rückgang slawistischer Veranstaltungen, z.B. in Deutschland und Österreich. Die russische Politik gegenüber der Ukraine und Weißrußland mag wohl auch bewirkt haben, daß hierzu kaum mehr Beiträge erscheinen. Ferner werden die außenpolitische Lage der CSR und die Situation nach München, wie bereits bei den thematischen Schwerpunkten erwähnt, Zwänge ausgeübt haben, denen die späteren Herausgeber sich beugten. Gesemann hat diese Umstände in seinen Schriften sehr anschaulich dokumentiert (vgl. dazu Zeil 1995, S. 66f).

        2.3.5. Ihrer ursprünglichen Intention zufolge sahen Gesemann und Spina in der Vermittlung thematisch breitgefächerter Beiträge und Berichte eine Möglichkeit zur Überwindung eines Informationsdefizits bzw. einer einseitigen oder auch voreingenommenen Information. Besonders bemerkenswert sind in dieser Hinsicht, um nur ein Beispiel zu nennen, die balkanologischen Beiträge Gesemanns.

Bestimmte Wertungen würden wir aus heutiger Sicht bzw. heutigem Wissen nicht mehr teilen (z.B. die optimistischen Einschätzungen der sowjetischen Kulturpolitik der 30er Jahre). Zu überdenken sind Jakobsons Auffassungen zum Widerstreit von nationalsprachlicher Eigenart und Internationalisierung und sein Eintreten für eine Angleichung des Weißrussischen und Ukrainischen an das Russische, insbes. im Bereich der Terminologie (vgl. Jakobson 1934, S. 333ff) – Auffassungen, die gewiß nicht "großrussischer Überhebung" zuzuschreiben sind und die dennoch in der heutigen Situation auf Unverständnis bei Weißrussen und Ukrainern stoßen würden.

Eine Reihe von Aufsätzen und darin vertretenen Ansichten können nurmehr aus der Zeit heraus verstanden werden, wie z.B. zur "Charakterologie"(9); sie verdeutlichen jedoch zugleich, wie eine bestehende wissenschaftliche Richtung mit Unvoreingenommenheit, aber auch tendenziös betrieben werden kann.

    3. Abschließend sei noch ein Gedanke aus einem Artikel Jakobsons (1929, S. 640) zitiert, der in der Folge nicht mehr aufgegriffen wurde: "Die auf zahlreichen Merkmalen beruhende Ähnlichkeit der slavischen Sprachen untereinander ist eine Eigentümlichkeit, die nicht nur für die vergleichende Sprachwissenschaft im eigentlichen Sinne dieses Wortes wertvoll ist. Der Grad der gegenseitigen Verständlichkeit, die Ähnlichkeit der Sprachen als stimulierendes Mittel, das die kulturellen Beziehungen fördert, – das sind die praktischen konkreten Probleme, die eines vertieften Studiums bedürfen." (Hervorhebung von mir - I.O.)

    4. Neben dem wissenschaftlichen Wert vieler Beiträge ist die Slavische Rundschau zu einem "wertvollen Zeitdokument" (Günther 1964 b, I) geworden – erinnert sei z.B. auch an die für die Wissenschaftsgeschichte so aufschlußreichen Nekrologe; aber sie ist nicht nur als Zeitdokument, sondern auch als Anregung für die Gegenwart von Bedeutung.

Die von ihr intendierte Mittlerrolle (sowohl innerhalb der CSR als auch international) wirkte, wie ich mit meinen Ausführungen zu verdeutlichen suchte, in verschiedene Richtungen:

  1. Förderung des disziplininternen Austauschs – ausgehend von einem weiten Slawistikverständnis – zwischen Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und (Zeit-)Geschichte, bei besonderer Berücksichtigung kultureller Aspekte,
  2. Entwicklung von Beziehungen zu Nachbardisziplinen, über die Slawistik hinaus,
  3. Information einer breiteren Öffentlichkeit über Wissenschafts- und Kulturprozesse in den slawischen Ländern.

    5. In den genannten Richtungen versuchen wir auch heute, an den Instituten für Slawistik sowie im Österreichischen Slawistenverband wirksam zu werden. In Innsbruck z.B. werden slawistische Themen in den Linguistischen Arbeitskreis sowie in Ringvorlesungen der Geisteswissenschaftlichen Fakultät eingebracht: In einer literaturwissenschaftlichen Veranstaltung dieser Art wurde über die Rezeption russischer Literatur in Österreich referiert; für das Sommersemester 1998 habe ich eine soziolinguistisch orientierte Ringvorlesung zum Thema "Sprachen in Europa" angeregt, in der es u.a. auch um slawische Sprachen in und um Österreich in Vergangenheit und Gegenwart gehen wird, die Slawinen werden ferner beim Rahmenthema "Sprachkontakt und Sprachkonflikt" berücksichtigt sowie – mit Bezug auf das Russische – beim Schwerpunkt "Verkehrssprachen". Das "Slawistengespräch 1997" in Salzburg hatte der Veranstalter, Otto Kronsteiner, unter das Thema "Die Funktion der Slawistik im europäischen Bildungswesen" gestellt. In Zusammenarbeit mit der UNESCO wurde am Innsbrucker Institut für Slawistik im September 1997 eine Konferenz zum Thema "Frauen im Kulturbetrieb in Mittel- und Osteuropa" ausgerichtet.

    6. War die Spezialisierung auf Sprach- bzw. Literaturwissenschaft, Geschichte und Politologie (bei zunehmender Bezogenheit auf die Gegenwart) seit Beginn dieses Jahrhunderts eine Reaktion auf wissenschaftsinterne und -externe Entwicklungen – eine Spezialisierung, deren partiell nachteilige Folgen schon die Herausgeber der Slavischen Rundschau mit ihrem Konzept zu überwinden trachteten, wird heute wieder mehr Interdisziplinarität auf einer neuen Entwicklungsstufe eingemahnt. Die slawistischen Fachzeitschriften widerspiegeln diese Prozesse erst in Anfängen. Andere Zeitschriften, wie z.B. die Osteuropa-Hefte, die sich – wie seinerzeit die Slavische Rundschau – sowohl an Fachleute als auch an interessierte Laien wenden, schließen sprachbezogene Themen aus. Gewiß verfügen wir heute durch die Medien und ihre allgemeine Zugänglichkeit über eine Fülle von Informationen, die aber wiederum nur selektiv verabeitet werden können. Insofern wünschte ich mir für die Slawistik ein von der Zielstellung her mit der Slavischen Rundschau vergleichbares Medium.

Über den verstärkten Austausch innerhalb der jeweiligen Disziplinen und Teildisziplinen hinaus sind Foren wie die Konferenz "Europäische Sprach- und Literaturwissenschaften" nur zu begrüßen. Man könnte sich keinen besseren Anlaß wünschen, um einmal mehr daran zu erinnern, daß Überlegungen zur Rolle der slawischen Völker, Sprachen und Kulturen in Europa die Programmschriften zur österreichischen und deutschen Slawistik seit Beginn unseres Jahrhunderts mitgeprägt haben (vgl. Ohnheiser 1996), wie dies z.B. aus der Schrift des Byzantinisten Karl Krumbacher "Der Kulturwert des Slavischen" (1908) hervorgeht. Er stellte sein Plädoyer für das Slawische in den Zusammenhang der europäischen Entwicklung und christlichen Kultur. Wer deren Gesamtheit kennnenlernen wolle, der habe seinen Blick auf drei große Nationalkreise auszudehnen, und so müsse der moderne Mensch neben den germanischen und romanischen auch die slawischen Sprachgebiete kennen und wenigsten rezeptiv je eine Sprache dieser Gruppen beherrschen: "Es ist so und bleibt dabei: Wer heute zwar mit germanischen und romanischen Sprachen und der in ihnen ausgedrückten Kultur vertraut ist, sich aber der slawischen Welt gegenüber taub verhält, hat einen Mangel in seiner geistigen Ausbildung und ist nicht imstande, die geschichtlichen Zusammenhänge, die politischen, religiösen und sozialen Strömungen, die künstlerische und literarische Bewegung unserer Zeit zu überblicken und abzuschätzen." (Krumbacher 1908, Sp. 269f)

© Ingeborg Ohnheiser  (Innsbruck)

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Literatur                   Anhang 

Anmerkungen:

(1) Der vorliegende Text basiert auf dem Beitrag, den die Vfn. für die Internationale Konferenz "Europäische Literatur- und Sprachwissenschaften" (Innsbruck, September 1997) vorbereitet hatte. Mit einigen Modifikationen wurde er – in Absprache mit dem Veranstalter – auch einem Vortrag auf dem 16. Salzburger Slawistengespräch (November 1997) zugrunde gelegt und erschien unter dem Titel "Gedanken zum Thema des Salzburger Slawistengesprächs 1997 beim Lesen der Slavischen Rundschau" in: O. Kronsteiner (Hrsg.), Die slawischen Sprachen 55 (Die Funktion der Slawistik im europäischen Bildungswesen), Salzburg 1997, S. 75-92.

(2) 1882 erfolgte die Teilung der Universität Prag in die tschechische und die deutsche Universität.

(3) Einen Einblick in diese Bemühungen bietet ein Bericht in der Slavischen Rundschau 3 (1931), S.1-5, über die Gründung der "Deutschen Gesellschaft für Slavistische Forschungen in Prag" (1930). Diese Gesellschaft verfolgte mehrere Ziele: 1. Südslawische Studien, 2. Vergleichende Studien zur rhythmischen Seite der Sprache slawischer Dichter, 3. Vergleichende Studien der germano-slawischen Literatur- und Kulturbeziehungen, 4. Herausgabe der Slavischen Rundschau, 5. Erforschung der Entwicklung der Geisteswissenschaften bei den slawischen Völkern und Information der deutschen Öffentlichkeit darüber. (Hervorhebung von mir. - I.O.)

Zur Geschichte der Slawistik an der deutschen Universität in Prag, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, sei auf die Monographie von Zeil (1995) verwiesen.

(4) Die Slawistik sei eine "internationale Angelegenheit", die die Zusammenarbeit von Vertretern verschiedener Disziplinen und Nachbarwissenschaften erfordere.

(5) Während für die Slawisten und die Slawistikausbildung nach wie vor genetische Aspekte der Sprachverwandtschaft (mit allen Vorzügen, aber auch Erschwernissen des gleichzeitigen praktischen Erwerbs mehrerer nahverwandter Sprachen) für den Zusammenhalt der Disziplin wichtig sind, gibt es außerhalb der Slawistik sowohl in westeuropäischen als auch in den slawischen Ländern Ansichten, die neue politische Lage und die europäische Integration machten heute gesonderte Osteuropastudien überflüssig. Disziplinintern steht einem breiteren Slawistikverständnis – vor allem aus synchroner Perspektive – in den slawischen Ländern zum Teil der Umstand entgegen, daß die jeweilige Landessprache als Muttersprachenlinguistik resp. -literaturwissenschaft betrieben wird, die zur Erforschung der übrigen slawischen Sprachen und Literaturen, also zur jeweiligen Slawistik, unterschiedlich enge Beziehungen hat.

(6) Vgl. M. Vasmer, Slavische Philologie, in: Aus fünfzig Jahren deutscher Wissenschaft. Die Entwicklung ihrer Fachgebiete in Einzeldarstellungen. (= Festschrift für F. Schmidt-Ott), Berlin 1930. Zitiert nach I. Zeil und W. Zeil (1979).

(7) Vgl. Kulturchronik der Slavischen Rundschau 1 (1929), 804: "Prof. Mathesius in Salzburg. Der Anglist der KU in Prag, Prof. Vilm Mathesius, [...] hat bei der 57. Tagung deutscher Philologen und Schulmänner, die Ende September in Salzburg stattfand, einen Vortrag über die Ziele und Aufgaben der vergleichenden Phonologie gehalten, worin er deutschen Anglisten linguistische Methoden vorführte, die v.a. in der russischen Linguistik zahlreiche Pfleger gefunden haben und jetzt besonders von dem Praský lingvistický krouzek, der ja überwiegend slavistisch ist, weiterentwickelt werden. Das ist unseres Wissens der erste Fall, wo deutsche nicht slavistische Philologen bei einer solchen Gelegenheit mit den in der Slavistik erzielten Resultaten direkt in Kontakt gekommen sind. Der Erfolg des Vortrags war ausgezeichnet und das läßt uns hoffen, daß man den angebahnten Weg weiter verfolgen wird. Am besten würde das durch die Gründung einer slavistischen Sektion bei den deutschen Neuphilologentagen erzielt werden. Es sei hier nur darauf hingewiesen, daß in den Vereinigten Staaten, wo ja die Slavistik bei weitem nicht so entwickelt ist wie an deutschen Universitäten, in der Modern Language Association of America eine slavistische Sektion schon seit einigen Jahren besteht." (Hervorhebung von mir. - I.O.)

(8) Mit Beiträgen wie "Staat und Wirtschaft in Bulgarien", "Die Bodenschätze der slavischen Länder und ihre Bedeutung für die Umwelt", "Das Problem der Industrialisierung der slavischen Länder".

(9) Vgl. z.B. G. Gesemann, Zur Charakterologie der Slaven: Der problematische Bulgare, in: Slavische Rundschau (im folgenden abgekürzt: SR) 3 (1931), S. 404-409; ders., Zur Charakterologie der Slaven. Der parasitäre Balkaner, in: SR 5 (1930), 1-16; Cyzevs'ky, D., Zur Charakterologie der Slaven. Ukrainer, in: SR 3 (1931), S. 237-244; Studencki, S.M., Polnische Charakterologie, in: SR 7 (1935), S. 374-381; Chalupný, E., Tschechen, Slovaken, Tschechoslovaken, in: SR 10 (1938), S. 229-234.


Literatur:

Gesemann, G. (1929): Eins ist not, in: Slavische Rundschau 1, S. 623-629.

Gesemann, G. (1930): Rückblick und Ausblick, in: Slavische Rundschau 2, S. 1-7

Günther, K. (1962): Archiv für slavische Philologie. Gesamtinhaltsverzeichnis. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für Slawistik. Sonderreihe Bibliographie. Berlin.

Günther, K. (1963): Zeitschrift für slavische Philologie. Bd. 1-30. Gesamtinhaltsverzeichnis. (Als Manuskript vervielfältigt. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Institut für Slawistik.) Berlin.

Günther, K. (1964 a): Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven. – Germanoslavica. – Kyrios. Gesamtinhaltsverzeichnisse. (Als Manuskript vervielfältigt. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Institut für Slawistik.) Berlin.

Günther, K. (1964 b): Slavische Rundschau. Bd. 1-12. Gesamtinhaltsverzeichnis. (Als Manuskript vervielfältigt. Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Institut für Slawistik.) Berlin.

Jakobson, R. (1929): Über die heutigen Voraussetzungen der russischen Slavistik, in: Slavische Rundschau 1, S. 629-646.

Jakobson, R. (1934): Slavische Sprachfragen in der Sowjetunion, in: Slavische Rundschau, 7, S. 324-343.

Jakobson, R. (1936): Um den russischen Wortschatz, in: Slavische Rundschau. 8, S. 80-90.

Krumbacher, K. (1908): Der Kulturwert des Slavischen und die slavische Philologie in Deutschland, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 3.

Ohnheiser, I. (1996): Erlebtes und Gedachtes. Programmschriften in der Geschichte der Slawistik, in: I. Ohnheiser (Hrsg.): Wechselbeziehungen zwischen slawischen Sprachen, Literaturen und Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart. Innsbruck, S. 400-419.

Pohrt, H. (1973): Die Bewegung der nationalen Wiedergeburt bei den Slawen in ihrer Bedeutung für die Entfaltung der Slawistik in Deutschland 1800-1850, in: ZfSl 18 (1973), 387-410.

Schmitter, P. (Hrsg.) (1987): Geschichte der Sprachtheorie. Bd.1. Zur Theorie und Methode der Geschichtsschreibung der Linguistik. Tübingen.

Slawistik 2000, in: Die Welt der Slaven, 40 (1995), 1, S. 175-200.

Zeil, I., Zeil, W. (1979): Die "Zeitschrift für slavische Philologie" 1924 bis 1944, in: ZfSl 25 (1979), 719-742.

Zeil, W. (1995): Slawistik an der deutschen Universität Prag (1882-1945). München.


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